Wie viel Kurz steckt noch in der ÖVP?

Die ÖVP ringt ein Jahr nach dem Rücktritt von Sebastian Kurz um ihre Identität. Parteichef Karl Nehammer muss sich von dem türkisen Erbe lösen. Sein Problem: Kurz hat immer noch viele Fans in der Partei. Ein klarer Schnitt ist schwierig.

von Sebastian Kurz Karl Nehammer © Bild: imago images/CHROMORANGE

Der 2. Dezember des Vorjahres, 5: 01 Uhr: Die Austria Presse Agentur vermeldet den Gewinner bei der Wahl zum "Wort des Jahres". "Schattenkanzler" setzt sich knapp gegen "3 G" und "Ninja Pass" durch.

Stunden später machte der "Schattenkanzler" tatsächlich Furore. Sebastian Kurz lud für 11.30 Uhr zu einer "persönlichen Erklärung" in die Politische Akademie der ÖVP. Politik-Profis wussten schon aufgrund dieser Formulierung, was zu erwarten war: der endgültige Rückzug aus der Politik, nachdem Kurz bereits Anfang Oktober als Kanzler "zur Seite getreten" war -und seither im Hintergrund die Fäden zog, ungeachtet des eigentlichen Kanzlers Alexander Schallenberg.

Der Tag blieb turbulent: Schallenberg trat zurück, ebenso Finanzminister Gernot Blümel, ein langjähriger Weggefährte Kurz' und mit diesem in den Fokus von Ermittlungen der WKStA geraten. Am 3. Dezember dann hoben die Parteigranden Karl Nehammer auf den Schild. Er übernahm das Kanzleramt und die Parteiführung. Der Schatten Kurz' aber blieb.

Diverse Affären

Der Name Sebastian Kurz taucht seither weiterhin regelmäßig im Zusammenhang mit diversen Affären während seiner Amtszeit auf. Es geht um Postenschacher, den skandalösen Umgang mit Umfragen und Inseraten und die Chats seines früheren Wasserträgers Thomas Schmid, der zuletzt auch vor der WKStA umfassend ausgesagt hat. Kurz selbst trat nach Bekanntwerden dieser Aussage mit einem absurd anmutenden Telefonmitschnitt an die Öffentlichkeit, der ihn -so hofft er zumindest -entlasten soll.

Geht es nicht um türkise Affären, dann um das neue Leben des früheren türkisen Stars. Kurz als Mitarbeiter des Trump-nahen US-Milliardärs Peter Thiel, Kurz als Unternehmer (teils mit umstrittenen Partnern) und Start-up-Investor, Kurz als Berater des Instituts von Donald Trumps Schwiegersohn Jared Kushner.

Karl Nehammer muss derweil die Hinterlassenschaften der Episode Kurz verwalten, einen Absturz in allen Umfragen verdauen und vor allem gemeinsam mit seinem Koalitionspartner, den Grünen, Inflation, Energiekrise und die Sanktionen gegen Russland nach dem Überfall auf die Ukraine stemmen.

Leicht hat er es dabei nicht. Die Arbeit, die geleistet wird -etwa mehrere milliardenschwere Teuerungspakete, die Abschaffung der kalten Progression, die Valorisierung von Sozialleistungen -bringt die Regierungsparteien in den Umfragen nicht voran. Gab es bei Kurz zu viel Polit-Marketing (mit oftmaligem medialem Verkaufen derselben Geschichte) und Message Control, gibt es bei Nehammer zu wenig, wird von seinen Parteifreunden moniert. Mächtige Landeshauptleute seufzen, angesprochen auf das erste Jahr Nehammers im Kanzleramt: "Ich bin ja schon froh, dass die endlich was arbeiten. Jetzt sollten sie es halt auch verkaufen."

Schwierige Distanzierung

Die Beurteilung von außen ist und bleibt sowieso harsch. Im Parlament wird Nehammers Regierung regelmäßig höhnisch der Unfähigkeit geziehen. Aber noch schwieriger für den ÖVP-Chef ist: Er soll sich von der türkisen Zeit und ihren Protagonisten distanzieren. Sagen vor allem jene, die die ÖVP ohnehin nie gewählt haben. Aber auch Menschen innerhalb der Partei, die von den "alten Werten" der Volkspartei träumen -und dabei selbst ganz genau wissen, wie wenig erfolgreich die Schwarzen in Umfragen und bei Nationalratswahlen früher waren.

Gleichzeitig hat Kurz aber innerhalb der ÖVP immer noch seine Anhänger. Ein großer Teil der schwarz/türkisen Abgeordneten im Parlament verdankt ihr Dasein dem früheren Chef. Nicht nur hat er sie ausgesucht -oder zu ihrer Auswahl zumindest nicht Nein gesagt -, die durchschlagenden Wahlerfolge der Jahre 2017 und 2019 haben viele, die auf den hinteren Plätzen der ÖVP-Liste kandidiert hatten, überhaupt erst in den Nationalrat (und damit zu einem guten Einkommen) befördert. Das erzeugt anhaltende Loyalität.

Ein Funktionär aus den Bundesländern erklärt die Stimmungslage in der Partei so:

»Es gibt immer noch viele Kurz-Nostalgiker, die Kurz' Propaganda-Talent und seine guten Umfragewerte zurück wollen. «

"Es gibt immer noch viele Kurz-Nostalgiker, die Kurz' Propaganda-Talent und seine guten Umfragewerte zurück wollen. Sie orten eine konzertierte Aktion von Leuten wie Peter Pilz, Falter-Chef Florian Klenk, NEOS-Abgeordneter Stefanie Krisper und der WKStA gegen Kurz." Diese hätte letztlich zu seinem Sturz geführt. Dass der türkise Kanzler in seiner Amtszeit inhaltlich gar nicht so viel geleistet hat, lassen seine Fans nicht gelten. Der Funktionär: "Sie sind der Überzeugung Kurz hätte inhaltlich eh noch geliefert, wenn man ihn gelassen hätte."

Die Affären in der ÖVP, etwa im Vorarlberger Wirtschaftsbund, dem oberösterreichischen Seniorenbund, den Tiroler Jungbauern? Beträfen nur kleine Teile der ÖVP. Thomas Schmid? Sei zwar Mitglied der ÖVP gewesen, hatte aber keine Parteifunktion. So denken in der Partei viele.

Die jüngste Stellungnahme des ÖVP- Ethikrats rund um die ehemalige Landeshauptfrau Waltraud Klasnic spiegelt diese Stimmungslage wider: Als einzige sichtbare Konsequenz aus den türkisen Affären empfiehlt man den Parteiausschluss Schmids. Und weiter: "Genausowenig wie es eine Generalabsolution geben kann, darf es einen Generalverdacht geben. Der Ethikrat appelliert daher an alle, einen möglichst sachlichen und differenzierten politischen Diskurs zu führen und in den Aussagen Respekt vor dem Menschenrecht auf Unschuldsvermutung zu haben. Generell erfüllt den Ethikrat das gegenwärtige politische Klima mit Besorgnis."

Handlungsbedarf sieht der Ethikrat bei den anderen -und befördert damit die ÖVP-Verteidigungslinie, wonach alle Parteien ihre dunklen Punkte hätten, aber nur die ÖVP jetzt streng untersucht werde: "Eine Möglichkeit aus Sicht des VP-Ethikrats könnte es sein, dass auch die anderen politischen Parteien Verhaltenskodizes erarbeiten und anwenden und dass es darüber einen parteiübergreifenden Austausch und Diskurs gibt. Hier hat die Volkspartei mit der Schaffung des Ethikrats 2012 eine vorbildhafte Pionierfunktion."

Gar nicht wenige innerhalb der ÖVP halten ihrem Ex-Chef die Stange, gar nicht wenige hoffen auf ein Comeback, sobald die Rechtsfragen geklärt sind. Nicht einfach für Nehammer, einen radikalen Schnitt zur Amtszeit von Kurz zu machen.

"So geht sich das nicht aus"

Politikberater Thomas Hofer sieht den Zwispalt des ÖVP-Chefs. Er sagt: "Nehammer hat bisher immer vermieden, eine klare Trennlinie zu ziehen. Und das tut er bis heute nicht. Er will einerseits jene in der Partei, die Kurz noch nachhängen, nicht verprellen, weiß aber auch, dass Kurz' Vermächtnis eine Belastung ist. Das kann so nicht aufgehen. Man merkt die Trittunsicherheit der gesamten Partei, weil sie noch immer nicht weiß, wie sie mit dem Erbe des Sebastian Kurz umgehen soll. Man würde sich das, was Kurz am Wählermarkt bewegt hat, gerne bewahren, und gleichzeitig den zweiten Teil, also die Chats und alles was daranhängt, vergessen machen. Aber so geht sich das nicht aus."

»Man würde sich das, was Kurz am Wählermarkt bewegt hat, gerne bewahren, und gleichzeitig den zweiten Teil, also die Chats und alles was daranhängt, vergessen machen. Aber so geht sich das nicht aus.«

Inhaltlich hingegen stecke in der jetzigen ÖVP nicht mehr so viel aus der Phase Kurz, sagt Hofer: "Die ÖVP versucht etwas hilflos und verzweifelt, Restbestände der Migrationspositionierung des Sebastian Kurz zu sichern." Aber die frühere Strahlkraft hinein ins freiheitliche Wählerlager sei vorbei. Man sieht es bei einem Blick in die Umfragen. Die jüngste Erhebung von Unique Research für das Nachrichtenmagazin Profil sieht Herbert Kickls FPÖ bei 25 Prozent und nach einer monatelangen Aufholjagd nur noch zwei Prozentpunkte hinter der führenden SPÖ - die wieder einmal von einer Debatte über den Parteivorsitz gebeutelt wird. Die ÖVP hält bei 22 Prozent. Das sind 15,5 Prozentpunkte weniger als sie bei der Nationalratswahl 2019 mit Kurz an der Spitze erreichte - nach einem Wahlkampf, in dem sich der zuvor durch einen Misstrauensantrag im Parlament aus dem Amt beförderte Ex-Kanzler zum Opfer stilisiert hatte.

»Was Nehammer aber tun müsste, auch wenn ich keine Anzeichen dafür sehe, wäre zu sagen: Wir müssen gerade in diesen Krisenzeiten erkennen, dass gewisse Dinge nicht mehr gehen. (Politologe Thomas Hofer)«

Wie eine Abgrenzung zur Episode Kurz funktionieren könnte? Hofer: "Sie kann wohl nicht darin bestehen, dass Nehammer in einer einstündigen Rede Kurz beschimpft. Das geht sich nicht aus, allein schon, weil Nehammer selbst Minister in einer Kurz-Regierung war und von ihm zum Generalsekretär gemacht wurde. Was er aber tun müsste, auch wenn ich keine Anzeichen dafür sehe, wäre zu sagen: Wir müssen gerade in diesen Krisenzeiten erkennen, dass gewisse Dinge nicht mehr gehen. Wir als Regierung, als ÖVP, haben aus der Vergangenheit gelernt, wie sehen den Unmut und gehen mit einem anderen Regelwerk in die Zukunft."

Dass Kurz immer wieder die Öffentlichkeit sucht, mache die Dinge für Nehammer auch nicht einfacher: "Kurz' mediale Offensiven sind auch eine Erinnerung daran, dass es da immer noch ungeklärte Verhältnisse gibt und dass man dieses Trauma - und der Abgang von Kurz war ein Trauma - immer noch nicht überwunden hat. Es hat ja Leute gegeben, die 2020 tatsächlich von der absoluten Mehrheit für die ÖVP geträumt haben. Und dann fallen sie auf einmal wieder auf 20 Prozent. Das muss man einmal verarbeiten. Und in diesem Verarbeitungsprozess befindet sich die Partei noch immer."

"Katerstimmung"

Die Kommunikationsexpertin Heidi Glück, früher selbst in der ÖVP tätig, sieht die Partei "in einer Katerstimmung nach dem Rausch des Höhenflugs". Sebastian Kurz habe der Partei wieder mehr Kante und damit ein klares Unterscheidungsmerkmal gegeben, "ein bisschen eine Anti-These zu NEOS oder heute Pogo." Seit dem Abgang von Kurz fehle aber ein neues Profil. "Es gibt kein Narrativ der ÖVP -das ist das Hauptproblem. Die ÖVP betreibt seit 2017 von der Bevölkerung unbedanktes Krisenmanagement und wenig gestalterische Politik. Kurz war ein Charismatiker, der sich entzaubert hat, aber es gibt keinen charismatischen Nachfolger mit Leadership. Die ÖVP unter Karl Nehammer muss wieder kleinere Brötchen backen, sie ist wieder in den Mühen der Ebene gelandet. Er führt eine Koalition, die schlechte Vertrauenswerte und keine Mehrheit mehr hat." Auch wenn es in der Regierung gute Leute gebe, findet Glück, wie Finanzminister Brunner und Verfassungsministerin Edtstadler.

Der Turnaround sei für die ÖVP derzeit nicht sichtbar. "Auch weil es zu wenig Signale für einen Reinigungsprozess aus den Vorwürfen der letzten Jahre und Monate gibt. Ein Partei-Ausschluss von Thomas Schmid durch den Ethikrat ist zu wenig."

Was auch innerhalb der ÖVP einige von Nehammer erwarten würden: Dass er die "Personalie" Wolfgang Sobotka löst. Der streitbare Nationlratspräsident ist für seine Partei zum Problem geworden. Nicht nur, weil er als Vorsitzender des ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss selbst zur Causa aussagen musste. Sobotka eckt gerne an, ist beratungsresistent und sorgte zuletzt mit der Anmietung eines güldenen Bösendorfer-Flügels und weinseliger Werbung für das Restaurant im generalsanierten Parlament für peinlich berührtes Kopfschütteln. Sobotka ist zwar nicht der einzige aus Kurz' Mannschaft, der noch im Amt ist -auch Nehammer selbst, Karoline Edtstadler, Alexander Schallenberg, Susanne Raab und Klubchef August Wöginger kamen mit Kurz in ihre Ämter -, doch er ist die türkis schillerndste Figur. Kurz hätte ihn vom Rücktritt überzeugen können, meinen viele in der Partei -im Gegensatz zum heutigen Chef.

»Mit Kurz war es zwar mühsamer, aber wenn man ihn einmal soweit gehabt hat, hat die Entscheidung gehalten.«

Durchsetzungsvermögen, in dem Punkt unterschieden sich Nehammer und Kurz definitiv. Kurz war das Machtzentrum seiner Partei. Nehammer hat einen partnerschaftlicheren Führungsstil. Bei den Grünen beobachtet man den mit gemischten Gefühlen. Es sei einfacher, mit Nehammer zusammenzuarbeiten. Aber seine Entscheidungen würden immer wieder von seinen eigenen Leuten infrage gestellt. Von den Ländern, den Bünden, den Kammern. "Mit Kurz war es zwar mühsamer, aber wenn man ihn einmal soweit gehabt hat, hat die Entscheidung gehalten."

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 47/2022.