Das Jahr der Wahlkämpfe

2024 finden in Österreich sieben wichtige Wahlen statt. Die Politikwissenschaftlerinnen Kathrin Stainer-Hämmerle und Katrin Praprotnik analysieren, welche Ausgangspositionen die einzelnen Parteien haben und mit welchem Grad an Untergriffigkeit in den politischen Auseinandersetzungen zu rechnen sein wird.

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Das gerade begonnene Jahr 2024 wird ein Jahr der Wahlen. Weltweit finden in 76 Ländern Wahlen statt. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in einem Land, in dem heuer gewählt wird, hat das britische Magazin "Economist" berechnet. Dazu gehören unter anderem Russland, Indien, die USA, die Europäische Union und drei ostdeutsche Bundesländer. Und Österreich. Der Wahlkalender ist dicht: Vom 26. Jänner bis 29. April finden die Arbeiterkammerwahlen statt. Im Frühling werden sowohl in Salzburg als auch in Innsbruck ein neuer Bürgermeister und ein neuer Gemeinderat gewählt. Am 9. Juni folgen die EU-Wahlen. Und im Herbst – bisher ohne genaue Termine – stehen die Nationalratswahlen sowie die Landtagswahlen in der Steiermark und in Vorarlberg auf dem Programm.

Europawahl

All das, aus österreichischer Sicht, in einem Klima der Feindseligkeit und Missgunst. Offiziell im Jänner starten zwei U-Ausschüsse, einer, um schwarzen, der andere, um rot-blauen Machtmissbrauch zu untersuchen (die Befragungen beginnen erst im März). Der Erkenntnisgewinn wird sich in einem Wahljahr in Grenzen halten, sind politische Beobachter überzeugt. Die U-Ausschüsse müssen ihre Tätigkeit drei Monate vor der Nationalratswahl, also voraussichtlich im Juni oder Juli, abgeschlossen haben. Für die Europaparlamentswahl gebe es so eine rechtliche Frist aber nicht, sagt die Politikwissenschaftlerin Katrin Praprotnik, die an der Universität Graz und am Institut für Strategieanalysen forscht. Die U-Ausschüsse "rutschen also in den Intensivwahlkampf der Europaparlamentswahl hinein. Deswegen wäre meine Erwartung, dass die ohnehin schon sehr emotionalen Debatten in den U-Ausschüssen noch einmal emotionaler werden, weil eben Nationalratswahlen anstehen, und dass gleichzeitig die Auseinandersetzung mit europapolitischen Themen stark darunter leidet". In der Politikwissenschaft werden Europawahlen als "Wahlen zweiter Ordnung" bezeichnet, weil sie von nationalen Themen oder Ereignissen überlagert werden. Praprotnik erwartet, dass dieser Effekt 2024 besonders stark sichtbar sein wird, wenn die Europawahl knapp vor der Nationalratswahl stattfindet.

Sind die EU-Wahlen schon eine Art Gradmesser für die Nationalratswahlen im Herbst? "Man kann es als einen ersten Stimmungstest betrachten, allerdings mit der ganz großen Vorsicht, dass wir von einer ganz unterschiedlichen Wahlbeteiligung sprechen. Bei der Europaparlamentswahl ist die Wahlbeteiligung viel niedriger. Es fehlt uns also ein ganz relevanter Teil der Wählerinnen und Wähler, von denen wir eigentlich nichts wissen, außer, dass sie nicht hingehen. Wir sprechen also von unterschiedlichen Grundgesamtheiten. Die FPÖ hat bisher immer sehr große Schwierigkeiten, bei Europaparlamentswahlen zu mobilisieren. Vielleicht gelingt es ihr durch diese Konstellation bei der kommenden Wahl besser."

»Die Auseinandersetzung mit europapolitischen Themen wird stark leiden«

Katrin Praprotnik, Politikwissenschaftlerin an der Universität Graz

Wechselwirkungen gibt es auch zwischen der Nationalratswahl und den beiden Landtagswahlen im Herbst. Die Landesparteien werden versuchen, sich von dem Wahlkampf auf nationaler Ebene abzugrenzen, erwartet die Politikwissenschaftlerin. "Wenn die Stimmung im Bund gerade gut ist für eine bestimmte Partei, dann versucht man, möglichst davon zu profitieren", sagt Praprotnik. "Wenn das nicht der Fall ist, dann möchte man sich abgrenzen und bezieht kein bundespolitisches Personal in den Wahlkampf ein. Für die ÖVP herrschte beispielsweise 2019, als in Vorarlberg und der Steiermark zuletzt gewählt wurde, eine sehr gute Stimmung. Das hat sich natürlich gedreht. Man kann also von einem Rucksack sprechen anstatt von Rückenwind."

Dauerwahlkampf

Für die ÖVP waren die letzten Jahre ein Wechselbad der Gefühle. Auf die Wahlerfolge des Sebastian Kurz folgte in Umfragen der Absturz auf ein deutlich niedrigeres Zustimmungsniveau. Spätestens seit Kurz’ Rückzug im Herbst 2021 ist die Volkspartei wieder auf Werte zwischen 20 und 25 Prozent gesunken. Mit Kurz’ Abgang, sagt die Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle, Professorin an der Fachhochschule Kärnten in Villach, habe auch der Dauerwahlkampf begonnen, der den Tonfall der politischen Debatten seit mittlerweile über zwei Jahren bestimmt. "Wir spekulieren ja seit Jahren über eine bevorstehende Nationalratswahl. Natürlich wird dieser Dauerwahlkampf in einem Finale gipfeln. Aber man muss dieses ständige Spekulieren über Neuwahlen als Hintergrund für das Kalkül in der täglichen politischen Kommunikation sehen."

Für Bundeskanzler Karl Nehammer wird es der erste Wahlkampf, den er als Spitzenkandidat seiner Partei zu bestreiten hat. Obwohl seine persönlichen Umfragewerte schlecht sind und er als fehleranfällig gilt. Ein "Burger"- oder "Alkohol und Psychopharmaka"-Sager mitten im Wahlkampf könnte für Irritationen sorgen. Dennoch, meint Stainer-Hämmerle, sei er alternativlos. "Alleine daran, wie sich die ÖVP jetzt hinter Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka eingräbt, sieht man, wie die Linie ist. Die ÖVP fährt den Kurs: 'Wir haben nichts falsch gemacht, wir lassen uns die Leute nicht rausschießen.' Die Erzählung ist, dass sich alle hinter Nehammer versammeln." Finanzminister Magnus Brunner, oft als Alternative zu Nehammer gehandelt, käme nur zum Zug, wenn Nehammer sich freiwillig und aus privaten Gründen zurückzöge.

Chancen der Opposition

Ähnlich das Bild bei der SPÖ: Auch hier ein Spitzenkandidat mit eingeschränkter Strahlkraft, auch hier keine Alternativen. Der Neustarteffekt, von dem Andreas Babler bei einer Wahl im Frühsommer 2023 hätte profitieren können, sei "jetzt wirklich verpufft", sagt Katrin Praprotnik. "Ich glaube, dass es für ihn, genauso wie damals für Pamela Rendi-Wagner, darauf ankommt, dass die Partei hinter ihm steht. Und das sehe ich derzeit im Burgenland nicht und in Wien zumindest teilweise nicht. Es ist für Babler aber enorm wichtig, dass diese wichtigen Landesorganisationen in öffentlichen Äußerungen hinter ihm stehen und bereit sind, in einem Wahlkampf für ihn zu rennen. Nur wenn das alles zusammenspielt, kann es Babler gelingen, sich als Mann der alternativen Politik zu positionieren." Das bedeute nicht, dass man in einer Partei nicht inhaltliche Debatten führen könne, sagt Praprotnik: "Das kann man natürlich machen, aber dafür braucht es schon einmal einen gewissen Grundkonsens und Grundrespekt voreinander. Und in einem Wahljahr hat das gar keinen Platz. Irgendwann muss ich als Bürgerin oder als Bürger wissen, was Parteilinie ist."

Derzeit spielt alles einem dritten Kandidaten in die Hände: FPÖ-Chef Herbert Kickl, dessen Partei seit über einem Jahr in Umfragen stabil auf Platz eins liegt und Ende 2023 sogar erstmals die 30-Prozent-Marke knackte. Die Freiheitlichen, meint Praprotnik, würden von einer negativen Grundstimmung im Land profitieren, die wiederum stark mit der Teuerung verknüpft sei. Ob es gelinge, die FPÖ zu stoppen, werde damit zusammenhängen, wie die wirtschaftliche Lage rund um die Wahl aussieht – und ob die regierende schwarz-grüne Koalition es schafft, die Preisentwicklung in den Griff zu bekommen. Denn: Schlechte Stimmung schadet vor allem den Regierungsparteien. "Die Herbstkampagne der ÖVP mit dem Slogan 'Glaub an Österreich' ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Man versucht, die subjektiv schlechte Bewertung, die es bei vielen Menschen gibt, umzudrehen. Denn Menschen, die entweder eine negative Einschätzung der Vergangenheit oder eine negative Erwartung für die Zukunft haben, neigen dazu, Oppositionsparteien zu wählen."

Polarisierung und Zuspitzung

Die FPÖ verstehe es besonders gut, die Logik der sogenannten sozialen Medien für sich zu nutzen, sagt Kathrin Stainer-Hämmerle. "Diese Polarisierung und Zuspitzung – bis hin zu radikalen Formulierungen – funktioniert gut bei den Algorithmen und in den Foren. Das ist eine Entwicklung, die wir überall beobachten und die natürlich auch Österreich enorm schadet." In Kombination damit, dass es fast keine Stammwähler mehr gebe, trage das dazu bei, dass ständig mobilisiert werde. Das sei auch in anderen Ländern so. "In Österreich kommen die Gerichtsprozesse und ein besonders rauer Umgangston zwischen den Parteien dazu. Vielleicht ist das eine Nachwirkung dessen, dass man hier so lange in einer großen Koalition und Sozialpartnerschaft gekuschelt hat und es besonders ungewohnt für uns ist, wenn man respekt- und rücksichtslos versucht, sich auf Kosten anderer zu profilieren. Man merkt schon, dass sich in der neuen Generation der Politikerinnen und Politiker der ehemaligen Großparteien eine gewisse Abneigung gegeneinander entwickelt hat. Ich glaube, das ist auch ein Grund, warum die FPÖ so eine Lücke gefunden hat. Diese feindselige Fixierung der ÖVP und der SPÖ aufeinander hat der FPÖ still und heimlich das Feld aufbereitet."

»Die Fixierung der ÖVP und der SPÖ aufeinander hat der FPÖ still und heimlich das Feld aufbereitet«

Kathrin Stainer-Hämmerle, Professorin für Politikwissenschaft an der FH Kärnten

Während die FPÖ vor einigen Monaten noch in Umfragen "hinaufgerechnet" wurde, wie der Meinungsforscher Christoph Haselmayer glaubt – also überhöhte Werte ausgewiesen wurden –, hat sich das Bild mittlerweile verfestigt. "Wenn alle Umfragen die FPÖ über einen längeren Zeitraum hinweg mit großem Abstand auf Platz eins sehen, ist das natürlich aussagekräftig", sagt Politikwissenschaftlerin Kathrin Stainer-Hämmerle. "Ich gehe aber für den Moment davon aus, dass viele Menschen noch gar nicht wissen, was sie wählen werden. Dann kann es also auch keine Umfrage wissen. Man müsste nicht Millionen für einen Wahlkampf ausgeben, wenn der nichts bewirkt." Dass die FPÖ in den Umfragen derzeit vorne liegt, sei gar nicht so erstaunlich, meint Stainer-Hämmerle, "das hatten wir 2014 bis 2015 auch schon, damals belegte Heinz-Christian Strache mindestens ein Jahr lang Platz eins in den Umfragen, dann kam Kurz und hat alles gedreht. Interessant finde ich hingegen, wie Herbert Kickls Werte sich verändert haben. Früher wollten die Leute eigentlich gar nicht, dass die FPÖ regiert. Eine Stimme für die Freiheitlichen war eher eine Denkzettelstimme. Jetzt gibt es aber viele, die sich wünschen, dass die FPÖ tatsächlich den Kanzler stellt. Kickl profitiert davon, dass Nehammer und Babler als Kanzlerkandidaten nicht so viel Strahlkraft haben, wie man es von ÖVP und SPÖ erwarten würde."

Chancen einer Liste Karas

Und die anderen Parteien? Die Grünen legen in Umfragen nicht zu, verlieren aber auch nicht viel. "Man steht nicht so viel schlechter da als 2019, würde ich sagen. Die grüne Wählerschaft bewegt sich offenbar weniger schnell als die anderer Parteien", sagt Katrin Praprotnik. Trotzdem dürfte das Wahljahr 2024 ihnen einige Enttäuschungen bringen: Die Regierungsbeteiligung im Bund ist ziemlich sicher dahin, auch jene in Vorarlberg und der Innsbrucker Bürgermeistersessel wackeln. Neos – aber auch andere Parteien, ÖVP, Grüne, SPÖ – könnten unter dem Antreten einer Liste Othmar Karas sehr leiden, vermutet Kathrin Stainer-Hämmerle. "Wenn Karas eine Bürgerplattform aus verschiedenen Richtungen zusammensammelt, ist das für viele sicher sehr wählbar", analysiert sie. "Ich befrage immer meine Studierenden, und die sind im Moment ganz begeistert von Experten. Sie wollen unpolitische Politiker. Und ich glaube, so etwas könnte Karas bedienen. Indem er eine Liste mit Menschen aus allen möglichen Ecken aufstellt, die nicht diese parteipolitischen Reflexe haben." Noch ist allerdings unklar, ob und in welcher Form Karas tatsächlich antritt. Auch ob Bierpartei-Chef Dominik Wlazny noch einmal auf die große Politikbühne steigt, ist neun Monate vor der Nationalratswahl ungewiss. Die KPÖ könnte, mit Rückenwind von den Gemeinderatswahlen in Innsbruck und Salzburg, wo Spitzenkandidat Kay-Michael Dankl sogar Chancen auf den Bürgermeistersessel eingeräumt werden, zumindest ein Respektergebnis erzielen.

Shaming und Blaming

Die negative Grundstimmung im Land, kombiniert mit der besonders aufgeheizten Atmosphäre in der Politik – Stichwort U-Ausschüsse –, lässt viele ein Jahr besonders schmutziger politischer Auseinandersetzung erwarten. "Wir neigen immer sehr schnell dazu, den aktuellen Wahlkampf als den schmutzigsten aller Zeiten zu titulieren, ohne dafür ausreichend Belege zu haben", wiegelt Katrin Praprotnik ab. Auch Kathrin Stainer-Hämmerle meint: "Man muss ehrlich sein, der Ton war früher auch nicht sehr viel höflicher. Es ist immer schon ausgeteilt worden." Dennoch gebe es Unterschiede. Das "Dauerfeuer" beispielsweise, mit dem heutzutage in politischen Auseinandersetzungen geschossen werde. "Früher waren es halt ein paar Plakate und ein paar Diskussionen", sagt Stainer-Hämmerle. "Jetzt findet das in Permanenz statt, auf allen Kanälen. Ich würde mir wünschen, dass man nicht so sehr auf die anderen zeigt. Das ist schon eine neue Qualität, dass man einander nicht nur unterschiedliche Positionen vorwirft, sondern immer mit Schuldzuweisungen arbeitet. Das kriegen die Wählerinnen und Wähler auch mit. Höflichkeit und Rücksichtnahme kann man sich in der Politik nicht erwarten. Aber eine faktenbasierte Auseinandersetzung und weniger Shaming und Blaming wären wünschenswert.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 1+2/2024.