Zu schwach für eine "Große Koalition"

Mittlerweile ist nichts mehr ausgeschlossen: Bei der kommenden Nationalratswahl könnten ÖVP und SPÖ auf weniger als 20 Prozent abstürzen.

von Politische Analyse - Zu schwach für eine "Große Koalition" © Bild: Privat

ANALYSE

Mag sein, dass es sich um den "Worst Case" für die Parteivorsitzenden Karl Nehammer (ÖVP) und Andreas Babler (SPÖ) handelt. In den Rohdaten sind sie in den vergangenen Monaten jedoch kaum über 15, 16 Prozent hinausgekommen. Rohdaten bringen zum Ausdruck, wie viele Wähler sich wirklich zu Parteien bekennen. Sprich: Ohne große und vor allem erfolgreiche Mobilisierung wird es schwierig, letzten Endes wesentlich mehr zu erreichen.

Das Ganze zeigt, wie absurd die Debatte über eine "Große Koalition" bzw. Rot-Türkis ist. Der Begriff stammt aus einer Zeit, in der SPÖ und ÖVP bestimmend waren und zusammen 80, 90 Prozent hielten. Derzeit liegen sie klar hinter der FPÖ (Rohdaten: über 20 Prozent) und schaffen im Durchschnitt der hochgerechneten Umfrageergebnisse rund 45 Prozent. Insofern kann man nicht nur nicht mehr von einer "Großen Koalition" reden; es ist auch so, dass sich keine solche mehr ausgehen würde.

Anhängern einer "Großen Koalition" - seien es die Landeshauptleute Christopher Drexler (Steiermark) und Anton Mattle (Tirol) aufseiten der ÖVP oder Michael Ludwig (Wien) und Peter Kaiser (Kärnten) in den Reihen der SPÖ - ist das klar. Sie wissen, dass man Grüne oder Neos dazunehmen müsste.

Die Debatte verrät jedoch, dass erst sickern muss, welche Umwälzungen in der Bundespolitik denkbar geworden sind: Zur Verhinderung eines "Volkskanzlers" Herbert Kickl (FPÖ) werden sich ÖVP und SPÖ nicht einfach nur eine Kleinpartei nehmen, diese mit ein paar Ämtern abspeisen und dann ungestört regieren können wie in alten Zeiten. Wenn, dann müssten sie sich als Verlierer mit einer dritten Partei auf eine eher gleichberechtigte Zusammenarbeit einlassen, wobei die rot-grün-gelbe Ampel in Deutschland zeigt, wie aufreibend das ist.

Damit das einigermaßen funktionieren könnte, müsste man sich sehr viel überlegen. Problem: Es ist schier unmöglich für Nehammer und Babler, sich dieser Aufgabe mit der nötigen Aufmerksamkeit zu widmen. Mit jedem Bekenntnis zu einem türkis-roten Bündnis mit Grünen oder Neos vor der Nationalratswahl würden sie riskieren, Wähler zu verlieren. Nehammer Freiheitliche, die Sebastian Kurz zur ÖVP geholt hat, Babler Linke, die die ÖVP ablehnen. Wirklich angehen könnten sie das erst nach der Wahl. Doch dann ist die Zeit knapp - und ist nicht sicher, wer noch etwas zu sagen haben wird.

BERICHT

Mehrheit auf der Seite der Ukraine

Auch zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ist eine Mehrheit der Menschen in Österreich nicht müde in dem Sinne, dass sie die Ukraine ihrem Schicksal überlassen würden: Bei der jüngsten Eurobarometer-Erhebung gab es sogar größeren Zuspruch als im vergangenen Sommer. 83 Prozent unterstützen humanitäre Hilfe (plus ein Prozentpunkt), 78 Prozent die Aufnahme von Geflüchteten (plus fünf).

Bemerkenswert ist auch die Haltung zu den EU-Sanktionen gegen Russland: FPÖ-Chef Herbert Kickl mag diese ablehnen und in Umfragen insgesamt klar vorne liegen mit seiner Partei. In diesem Punkt vertritt er jedoch den Standpunkt einer Minderheit: Waren vor einem halben Jahr 55 Prozent von rund 1.000 befragten Österreicherinnen und Österreicher für die Sanktionen, ist dieser Anteil zuletzt auf 62 Prozent gestiegen. Das entspricht beinahe zwei Dritteln.

Auch die Finanzierung von Waffenlieferungen durch die EU stößt auf bemerkenswert viel Zustimmung, wenn man bedenkt, dass sie in einem Spannungsverhältnis zu einem herkömmlichen Neutralitätsverständnis steht: 53 Prozent lehnen sie ab, immerhin 43 Prozent sind dafür.

Keine Insel der Seligen mehr

Die Zeitenwende kommt auch in Österreich an. Dass die Bevölkerung eine Insel der Seligen sieht, ist mehr denn je ein Mythos. Allmählich scheint sogar eine offene Debatte über die Sicherheits- und Verteidigungspolitik möglich zu werden, vor der die Regierung noch immer zurückschreckt. Ausnahme: Beteiligung an "Sky Shield", einer länderübergreifenden Raketenabwehr, die geplant ist. 69 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher sind laut Eurobarometer dafür, die Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen auf EU-Ebene zu verstärken. 63 Prozent könnten sich sogar eine gemeinsame Politik dazu vorstellen.

ZAHL

Wer den Job verliert, fällt in Österreich besonders tief

Bekommen Arbeitslose zu viel Geld? ÖVP-Chef, Bundeskanzler Karl Nehammer, drängt im "Österreich-Plan" auf eine Kürzung im Zeitverlauf: Die Nettoersatzrate, die die Höhe gemessen am letzten Erwerbseinkommen zum Ausdruck bringt, solle zunächst weiterhin 55 Prozent betragen, dann aber allmählich auf weniger als 50 Prozent absinken. Dahinter steckt die Annahme, dass Betroffene so schneller wieder einen Job angehen würden.

Das durchzusetzen, wird allerdings kaum möglich sein: SPÖ, FPÖ, Grüne und Neos haben zwar unterschiedliche Vorstellungen, zumindest vorübergehend würden sie aber alle mehr Arbeitslosengeld gewähren. Auch Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP) hat dies einst vorgeschlagen. Bei Gesprächen über eine Reform, aus der dann nichts wurde, schlug er 2022 eine Nettoersatzrate von bis zu 70 Prozent vor. Nach drei Monaten sollte sie zurückgehen.

Im EU-Vergleich ist die Rate zu Beginn einer Arbeitslosigkeit in Österreich extrem niedrig. Im Durchschnitt beträgt sie 65 Prozent. In Spanien, Dänemark, Luxemburg und Belgien ist sie mit bis zu 91 viel höher. Dort wird eher der Ansatz verfolgt, dass Menschen, die ihren Job verlieren, nicht auch noch in ein finanzielles Loch fallen sollten, das sie zusätzlich belastet und die Stellensuche erschwert.

In nur fünf von 27 EU-Staaten ist die Nettoersatzrate zunächst niedriger als hierzulande: In Griechenland, Polen, Rumänien, Malta und Irland, wo sie laut OECD-Statistik lediglich 35 Prozent beträgt.

Im Zeitverlauf sinkt die Rate fast überall. Nach zwei Jahren beträgt sie im Schnitt 36 Prozent und ist damit wesentlich niedriger als in Österreich (51 Prozent). Arbeitslose erhalten hier dann die Notstandshilfe, sind in der Regel älter und oft nur begrenzt vermittelbar.

© News Zum Vergrößern klicken

Johannes Huber, Journalist und Blogger zur österreichischen Politik, www.diesubstanz.at