"Wir leben noch immer, und wenn wir ehrlich sein wollen: Wir leben in Österreich nicht schlecht"

Krieg, Terror, Antisemitismus, bevorstehende Wahlen: ein Gespräch mit dem Philosophen Konrad Paul Liessmann und dem Schriftsteller Michael Köhlmeier zur Orientierung in heillosen Zeiten.

von Bilanz des Jahres - "Wir leben noch immer, und wenn wir ehrlich sein wollen: Wir leben in Österreich nicht schlecht" © Bild: News/Matt Observe

Heillose Zeiten: Am 7. Oktober ging in Israel die friedliche Welt unter, die Hamas riss mit ihrem Terror Kinder, Frauen, Zivilisten aus dem Leben. Das Unglaubliche: Nicht die Solidarität mit den Überfallenen steigt, sondern der Antisemitismus. Russland setzt seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine ungebrochen fort, der Friede ist in weiter Ferne. In Europa wird gewählt. Doch die traditionellen Volksparteien schaffen sich ab. Und in Österreich? Fällt das Land nächstes Jahr den Rechten in die Hände? Vernunft und ein aufgeklärter Blick tun not. News bat den Schriftsteller Michael Köhlmeier, 74, und den Philosophen Konrad Paul Liessmann, 70, zum Gespräch.

Wenn Sie dem jetzt ablaufenden Jahr etwas nachrufen sollten, wäre das eventuell "Schleich di, du Oaschloch", wie ein couragierter Wiener einst den Terroristen vom Schwedenplatz beschied?
Liessmann: Einem Jahr, das ohnehin zu Ende geht, braucht man nichts mehr nachzurufen. Ich bin kein großer Freund von Jahresrückblicken, so wenig, wie ich gern in die Zukunft schaue. Die Vorschauen treffen nie ein, und die Rückblicke leiden darunter, dass wir glauben, es nun besser zu wissen. Wie furchtbar ein Jahr war, hängt außerdem von der Perspektive ab, aber es stimmt schon: Es stand im Bann der fortgesetzten Klimakrise, der Wirtschaftskrise mit Inflation, des Terroranschlags der Hamas und der Insolvenz des Benko- Imperiums. Positiv kann man da im Rückblick nur bemerken: Wir leben noch immer, und wenn wir ehrlich sein wollen: Wir leben in Österreich nicht schlecht. Und dazu kommt noch die persönliche Ebene: Für mich war es ein sehr erfolgreiches Jahr. Ich habe das Buch "Lauter Lügen" publiziert, das monatelang auf der Bestellerliste gestanden ist - ein schönes Weihnachtsgeschenk übrigens -, ich habe mit Michael Köhlmeier erfolgreich das Philosophicum Lech gestaltet. Die objektiven Krisen der Welt korrespondieren also, dem Himmel sei Dank, nicht immer mit den subjektiven Erfahrungen. Was hülfen umgekehrt einem Menschen in einer persönlichen Krise die schönsten Bemühungen um den Weltfrieden? Interessant wird es erst, wenn die Wirtschaftskrise, die Klimakrise oder der Krieg unmittelbare Auswirkungen auf den Einzelnen haben.
Köhlmeier: Im Gegensatz zum Konrad bin ich ein großer Verehrer des Rückblicks, und nicht nur des Jahresrückblicks, weil so aus Geschichten Geschichte wird. Im englischen Sprachraum wird klug zwischen story und history unterschieden, und wenn sie zusammenfallen, dann werden die großen Tragödien daraus. Aber so erfreulich auch für mich alles Persönliche war, ist es doch überschattet durch den Terrorakt der Hamas. Wenn man in zehn Jahren auf 2023 schaut, wird es ein großer Einschnitt sein, weil dieses über allen politischen Unterschieden hängende "Nie wieder" eklatant durchbrochen worden ist. Dass wieder ein solches Verbrechen an Juden stattfindet. Nun kann man fragen, wo der Unterschied ist, da doch im Kongo solche Verbrechen seit 100 Jahren verübt werden. Aber bei uns in Europa, mit unserer Geschichte! Das hat uns desillusioniert. Aber das hat meine persönliche Geschichte genauso überschattet wie im letzten Jahr der Überfall auf die Ukraine.

Und das plötzlich verbreitete Argument, die Hamas sei eine Befreiungsorganisation und habe lediglich auf fortgesetzte Unterdrückung reagiert?
Köhlmeier: Dieselbe Argumentation hätte man für die SS anführen können, indem man gesagt hätte, die SS hat uns endlich vom blutsaugenden Judentum befreit. Wenn jetzt jemand die Hamas als Befreiungsbewegung bezeichnet, hört sich für mich jede Diskussion auf. Es wäre ja auch merkwürdig, wenn man einer Witwe sagen würde, der Mörder deines Mannes hat übrigens eine sehr schwere Kindheit gehabt.
Liessmann: Ich sehe das ähnlich. Und ich habe noch niemanden gehört, vom UNO-Generalsekretär abwärts, der die Hamas aufgefordert hätte, bei ihrem Überfall auf Israel doch die Menschenrechte einzuhalten. Die dürfen offensichtlich Raketen auf zivile Einrichtungen schicken, Frauen vergewaltigen, Kinder zerstückeln. Und das ist offensichtlich alles in eins zu bringen mit der Ideologie der Befreiungsbewegung. Das Erschütternde ist jetzt nicht, dass fanatische Ideologen diese Positionen vertreten, sondern die Crème de la Crème der westlichen Intelligenz. Dass sich amerikanische Philosophinnen und deutsche Intellektuelle bereit erklären, genau jenes Spiel der Kontextualisierung zu betreiben, das beim Überfall Putins auf die Ukraine tabuisiert war. Wer sagte, dieser Konflikt habe eine Vorgeschichte, wurde sofort als Parteigänger Putins identifiziert. Jetzt plötzlich ist es geboten, den Kontext zu sehen. Natürlich soll jeder sagen können, was er will. Aber mich stört diese intellektuelle Unredlichkeit. Wenn jetzt Hörsäle der Universität der Künste in Berlin von radikalen Palästinensersympathisanten besetzt sind und dort nicht anti-israelische, sondern antijüdische Parolen geschrien werden und das Ganze unter wohlwollender Betrachtung der Behörden, dann frage ich mich: Was läuft hier eigentlich gravierend schief?
Köhlmeier: Welchem Staat der Welt würde man zumuten, dass er, ohne sich zu wehren, täglich mit Raketen angegriffen wird? Schon seit Jahrzehnten?
Liessmann: Jeder kann die israelische Regierung kritisieren, aber bei Israel geht es in der Tat darum, dass der Staat als solcher kritisiert wird. Es hat doch kein Trump-Kritiker angemerkt, man müsse endlich Amerika kritisieren! Zu sagen, Israel-Kritik muss möglich sein, heißt unterm Strich: Wir wollen dort keine Juden. In dieser feinen Semantik drückt sich dieser sublime Antisemitismus aus. Und das zweite, worüber man reden muss: dass natürlich die Migrationsbewegungen Menschen zu uns gebracht haben, die diesen muslimisch geprägten Antisemitismus importiert und vor allem im akademischen Milieu salonfähig gemacht haben. Diese Solidarität mit den Flüchtlingen, die ein humaner Impuls war, wurde auch zu einer Eingangspforte für übles Denken.

Und was tun mit dem importierten Terrorismus?
Liessmann: Es genügte schon, gäbe man zu, dass wir ein Problem haben.

Vor ein paar Jahren sprach man noch ganz anders über Migranten.
Liessmann: Wir, die für Offenheit, Humanität und freien Zugang zu allem und jedem plädiert haben, müssen jetzt die Erfahrung machen, dass manche das gnadenlos ausnützen. Aber wenn man das sagt, spielt man den Rechten in die Hände. Also schweigen wir. Und das ist das schlimmste Schweigen: Die Wahrheit zu verschweigen, weil wir Angst haben, sie könnte jemand anderem nützen. Das ist eines der großen Probleme, mit denen wir gegenwärtig konfrontiert sind.
Köhlmeier: Vor allem, wenn die eigenen moralischen Ansprüche zu einem großen Teil durch schlechtes Gewissen bestimmt werden. Wenn ich vom moralischen Anspruch rede, habe ich im Hintergrund immer, was in Deutschland und Österreich geschehen ist. Wenn ich aber die Kolonialgeschichte betrachte, sehe ich, dass die Araber die größten Sklavenhändler waren. Aber das nur nebenbei.

Daniela Spera fordert die Ausweisung von Demonstranten, die Gewalttaten befürworten. Wie sehen Sie das?
Liessmann: Wir haben Regeln, und wenn jemand hier leben will, wäre es doch das Minimum, zu erwarten, dass derjenige mit unserer Lebensform soweit übereinstimmt, dass er nicht selbst das Gefühl hat, mit ihr zu kollidieren.

Kommen wir zum Ukrainekrieg. Auch die Amerikaner zögern mit Waffenlieferungen, auch die europäische Front bröckelt. Wie lang soll da noch hineingebuttert werden?
Köhlmeier: Buttern gefällt mir nicht, das hat so was von oben herab. Die Frage ist vielmehr: Was ist es uns wert? Und was geht es uns an? Am Anfang hat man gesagt, hier wird die Freiheit Europas verteidigt.

Wird sie das noch?
Köhlmeier: Ich glaube schon. Ich bin von meiner Mutter so pazifistisch erzogen worden, dass ich mir von vornherein denke: alles, nur ja keinen Krieg! Aber was wäre in diesem Fall die Alternative gewesen? Dass die Ukraine gesagt hätte, kommt rein, wir sind ab morgen russisch. In Venezuela will jetzt Maduro Teile Guyanas annektieren. Er sagt wenigstens offen, dass es ihm nur ums Öl geht.
Liessmann: Aber Maduro ist ein Linker, deshalb wird sich die Aufregung bei uns in Grenzen halten.

Was ist Putin nun, links oder rechts?
Liessmann: Ein Diktator in der Tradition Stalins. Profunde Kenner und Analysten sagten nach der Lieferung der Hightech-Panzer, das Ende des Kriegs sei nur eine Frage von Wochen. Denn diesen hypertechnisierten Militärtechnologien hätten die Russen nichts entgegenzusetzen. Offensichtlich eine gravierende Fehleinschätzung. Wenn das wirklich unser Krieg ist, wie so oft behauptet wird, hätten auch deutsche, französische Soldaten dort kämpfen und sterben müssen. Wir lassen tatsächlich einen Stellvertreterkrieg führen, der uns aufgezwungen wurde.

Wenn jetzt die Ukraine der EU beitritt, werden wir da nicht in einen Atomkrieg verwickelt?
Köhlmeier: Ich finde, das sollte man noch ein bisschen aufschieben, bis der Krieg erledigt ist.
Liessmann: Ich glaube, dieses Angebot ist vorrangig eine moralische Unterstützung. Es wird Jahrzehnte dauern, bis die Ukraine bei der EU ist.

»Wenn sich jemand selber als Volkskanzler bezeichnet, sollten die Alarmglocken schrillen«

Michael Köhlmeier über Kickl und die absehbaren Folgen

Zurück zu den hiesigen Problemen. Gibt es etwas, das wir der jetzt amtierenden Regierung zugutehalten können? Das gegen Neuwahlen einzuwenden wäre?
Köhlmeier: Ich kann mich nicht erinnern, dass es zu meinen Lebzeiten eine Regierung gegeben hätte, ....
Liessmann: ... mit der alle zufrieden sind.
Köhlmeier: Wenn wir jedes Mal, wenn wir unzufrieden sind, Neuwahlen verlangen, wären die italienische Verhältnisse stabil dagegen. Der österreichischen Regierung will ich zugute halten, dass zwei so entgegengesetzte Parteien doch in vielen Dingen zu Kompromissen gefunden haben.
Liessmann: Experten sagen, dass im Bereich der Klimapolitik natürlich was weitergegangen ist, beim Klimaticket angefangen. Auch die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik war nicht so schlecht. Manche Experten halten die Strukturpolitik für exzellent. Allein dass die ÖBB der Deutschen Bahn nicht nur beim Nachtverkehr den Rang abgelaufen haben! In jedem anderen Land würde man das als Großtat feiern. Glaubt denn wirklich jemand, dass eine Ampel, die eine Minderheitsregierung wäre, in Österreich etwas bewerkstelligen kann? Dass eine ÖVP-SPÖ-NEOS-Koalition, sofern die zustande käme, sich nicht gegenseitig pausenlos blockierte? Dass die ÖVP-FPÖ-Koalition das Gelbe vom Ei wäre?
Köhlmeier: Glaubt irgendjemand, dass Demokratie überhaupt funktionieren kann ohne Widerspruch? Unsere Justizministerin ist sehr gelassen. Wenn jetzt viel von Korruption die Rede ist, kann es dafür zwei Gründe geben. Einmal, dass es wirklich viel Korruption gibt, und andererseits, dass sehr viel aufgedeckt wird. In den 50er-, 60er-Jahren, wo es hier genauso korrupt war, wurde wenig über Korruption geredet, weil alle sagten, es gibt doch gar keine.
Liessmann: Aber gemessen am AKH-Skandal sind die SMS heute ein schlechter Witz. Möglich, dass die Korruptionsstaatsanwaltschaft mitunter überzogen agiert! Es werden unablässig Leute vorgeführt, in die Medien gebracht und angeklagt. Und in vielen Fällen war gar nichts. Aber das Problematische dabei ist die Rolle der Medien und nicht die Justiz. Die Medien machen aus diesen Anklagen ein Lynchjustizfeuerwerk und werfen mit Vorverurteilungen nur so um sich. Wer angeklagt ist, ist schon schuldig. Das ist der neue Stil, und er kommt auch aus dem akademischen Milieu. Das war bei einigen #MeToo-Fällen und Rassismusvorwürfen so und wird auch bei Korruptionsfragen so gehandhabt. Das rührt schon an den Prinzipien eines Rechtsstaats.

Schauen wir uns einmal die Parteien an. Kann man von dieser ÖVP noch etwas erhoffen?
Köhlmeier: Man sollte Clausewitz lesen! Es gibt zwei Möglichkeiten, mit deinem Gegner umzugehen: Entweder du vernichtest ihn, dass nichts mehr von ihm übrig bleibt, und zwar für lange Zeit. Oder du schaust, dass er erhobenen Hauptes dir gegenübersitzt, weil du später mit ihm verhandeln willst.
Liessmann: Das ist an sich richtig. Auf die Parteien des 21. Jahrhunderts trifft das allerdings so nicht zu, denn in Europa sehen wir, dass große ehemalige Volksparteien wie die Sozialdemokraten oder die Christdemokraten z. B. in Italien oder Frankreich in die Bedeutungslosigkeit versunken sind. Das kann auch in Deutschland oder Österreich geschehen. Das heißt, wir müssen damit rechnen, dass die Verankerung der Volkspartei in ihren drei Bünden zu bröckeln beginnt. In einer Demokratie entscheidet letztlich der Wähler. Er sorgt dafür, ob jemand erhobenen Hauptes rausgehen kann, was mit 18 Prozent vielleicht nicht so gut möglich ist.
Köhlmeier: In Österreich gab es eine Regierung mit der FPÖ als Juniorpartner, und wenn du 18 Prozent hast, bist du für eine Koalition immerhin interessant.
Liessmann: Natürlich wäre es politisch klug sowohl von der SPÖ als auch von der FPÖ, sich mit der ÖVP nicht alles zu verscherzen.
Köhlmeier: Wenn Babler sagt, er macht grundsätzlich nur Opposition ...
Liessmann: ... dann könnte man erwidern: Wenn die Grünen mit der ÖVP können, soll das der SPÖ, die jahrzehntelange Koalitionen mit der ÖVP gebildet hat, nicht möglich sein? Auch wenn keine der beiden die stimmenstärkste Partei ist, wären sie in der Lage, an der FPÖ vorbei eine Regierung zu bilden. Aber sie werden einen Dritten dazu brauchen. Das wird dann sehr kompliziert.
Köhlmeier: Möglicherweise brauchen sie einen Vierten, und das Schreckliche daran wäre, dass die FPÖ dann allein in der Opposition ist.
Liessmann: Es ist offensichtlich, dass keine der Parteien ein Programm hat, beziehungsweise nur ein einziges: die FPÖ zu verhindern. Das heißt, dass sie nicht viel mehr anzubieten haben. Bei der SPÖ wäre ein Strategiewechsel dringen vonnöten.
Köhlmeier: Das weiß ich nicht. Die sozialen Probleme, etwa die Teuerung, hat doch schon Rendi-Wagner angesprochen.
Liessmann: Aber es hat nichts genützt! Von einem Programm sehe ich bei Babler - noch - nichts. Nehmen wir die Sache mit der warmen Mahlzeit für jedes Kind. Niemand leugnet, dass es in Österreich Familien gibt, die tatsächlich armutsgefährdet sind oder in Armut leben. Aber gleichzeitig klingt das so, als hätten wir keinen Sozialstaat, als würden bei uns Menschen massenhaft verhungern. Und das in einem Land, das wie kein anderes der Welt einen Großteil seines Budgets in den Sozialstaat pumpt. Da muss man doch bei glaubwürdigen Proportionen bleiben. Aber vielleicht ändert sich dies nun durch seinen Expertenrat.

»Wer Kickl verhindern will, muss eine Politik anbieten, die mehrheitsfähig ist«

Konrad Paul Liessmann über die bevorstehende Nationalratswahl

Soll man der FPÖ nun im Fall des Sieges den Regierungsauftrag erteilen?
Liessmann: Diese Frage stellt sich jetzt nicht. Ich bin strikt dagegen, aufgrund von Umfragen ein Jahr vor der Wahl so zu tun, als wäre die Wahl schon geschlagen. Ein halbes Jahr vor Wahlen sollten generell keine Meinungsumfragen mehr gemacht werden dürfen. Und zweitens liegt es in der Kompetenz des Bundespräsidenten, zu entscheiden, wer die Regierung bildet. Es gibt in Österreich das Gewohnheitsrecht, dass die stimmenstärkste Partei die Regierung bildet. Aber das ist nur Gewohnheitsrecht, das bislang in erster Instanz nie gebrochen wurde. Und es ist weder die Aufgabe von Philosophen noch von Schriftstellern oder Journalisten, dem Bundespräsidenten die Arbeit abzunehmen.
Köhlmeier: Man sollte dieses Jahr für sinnvolle Überlegungen nutzen, auch um zu verhindern, dass die Freiheitlichen die stärkste Partei werden. Wenn sich jemand selber als Volkskanzler bezeichnet, obwohl man weiß, dass das vor ihm Adolf Hitler getan hat, sollten die Alarmglocken schrillen.
Liessmann: Wer Kickl verhindern will, muss eine Politik anbieten, die mehrheitsfähig ist.

Die SPÖ will jetzt die Matura abschaffen, was halten Sie davon?
Liessmann: Das wollte die Wiener SPÖ, und das Problem ist, dass Babler auf bestimmte Fragen gar nicht mehr reagiert. Ich kenne von ihm auch keine relevante Stellungnahme zur Hamas. Obwohl die Partei in Nahostfragen eine große Tradition hat.

Soll die Matura nun bestehen bleiben?
Köhlmeier: Ich bin gegen Noten, weil ich immer gegen schlechte Noten kämpfen musste und weil mir intellektuelle Fähigkeiten nicht auf einer Skala von 1 bis 5 darstellbar sind.
Liessmann: Ich habe schon vor Jahren die Matura infrage gestellt. Und zwar nicht deshalb, weil ich sie prinzipiell für sinnlos halte, sondern weil sie sich durch eine Reihe von Reformen selbst abgeschafft hat. Besonders die Zentralmatura ist höchst problematisch, da sie zu einer allgemeinen Niveausenkung geführt hat. Durch Aufnahme- und Zulassungsprüfungen an den Universitäten ist die Matura als allgemeine Studienberechtigung zudem stark entwertet worden, andererseits ist sie fast nur noch ein ritueller Akt, weil man mit einem Dreier im Abschlusszeugnis ohnehin nicht durchfallen kann. Meine Idee war, dass man in der achten Klasse tatsächlich bis Juni unterrichtet, das brächte drei Monate zur Stoffvermittlung. Dann ein Abschlusszeugnis der 8. Klasse und eine schöne Abschlussfeier, und dem Ritual wäre genüge getan. Was die Noten betrifft, muss ich meinem Freund Michael Köhlmeier widersprechen. Ich bin kein prinzipieller Gegner von Ziffernnoten, die ja keine bloßen Ziffernnoten sind, weil jede Ziffer eine Abkürzung für eine verbale Beschreibung ist. Deine Arbeit war "sehr gut" - welches Kind möchte das nicht hören? Wenn das durch verbale Beschreibungen ersetzt wird, kommen standardisierte Floskelsätze heraus, die von den Kindern kaum verstanden werden, weil sie in der Volksschule das Lesen komplexer Sätze gar nicht lernen.
Köhlmeier: Aber so eine Benotung gibt es doch in keinem anderen gesellschaftlichen Bereich!
Liessmann: Du bist nicht up to date. Das ist doch heute bei allen Restaurant- und Hotelbewertungen so, auch bei Kulturkritiken. Ich schaue mir mittlerweile oft nur noch die Zahl der Bewertungssterne an und bin froh, nicht die von ChatGPT verfassten Beschreibungen lesen zu müssen. Wahrscheinlich gäbe es keine Debatte über Ziffernnoten, verteilte man stattdessen solche Sterne, die den Kindern aus den sozialen Medien ja geläufig sind.

© News/Matt Observe

Michael Köhlmeier wurde am 15. Oktober 1949 in Hard, Vorarlberg, geboren, studierte Germanistik und Politikwissenschaft und begann beim ORF als Hörspielautor. Seit den Achtzigerjahren legt er ein hochkarätiges erzählerisches Werk vor, zuletzt "Bruder und Schwester Lenobel"*. Seine Nacherzählungen von Märchen und Sagen und seine Dialoge mit Konrad Paul Liessmann sind exemplarische Volksbildung. Mit seiner Frau, der Schriftstellerin Monika Helfer, lebt Köhlmeier in Vorarlberg und Wien. Kürzlich erschienen: "Das Schöne"*.

© News/Matt Observe

Konrad Paul Liessmann wurde am 13. April 1953 in Villach geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Wien und habilitierte sich 1989. 2011 wurde er Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik. Seit 1996 leitet er das Philosophicum Lech. Liessmann ist einer der großen Philosophen unserer Zeit und ein scharfer Kritiker des Bildungsverlusts durch Kompetenzorientierung und Sprachprimitivisierung. Er lebt in Wien. Zuletzt erschienen: "Lauter Lügen"*.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 51+52/2023 erschienen.

Die mit Sternchen (*) gekennzeichneten Links sind Affiliate-Links. Wenn Sie auf einen solchen klicken und über diesen einkaufen, bekommen wir von dem betreffenden Online-Shop oder Anbieter eine Provision. Für Sie verändert sich der Preis nicht.