NEOS: Bis hierher - und wie weiter?

Stabil im Bund, Schwächen in den Ländern. Die Neos sind nach dem Hype der ersten Jahre in den Mühen der Ebene gelandet. Und müssen sich die Frage gefallen lassen, ob sie schon am Zenit ihrer Möglichkeiten angelangt sind.

von NEOS: Bis hierher - und wie weiter? © Bild: APA/HELMUT FOHRINGER

Meine Idealvorstellung ist, dass keine der beiden Seiten (ÖVP und SPÖ, Anm.) und auch keine Große Koalition eine Mehrheit ohne uns hat", so formuliert Parteichefin Beate Meinl-Reisinger oft und oft den Anspruch an sich selbst. So stark werden, dass man bei den nächsten Koalitionsverhandlungen nicht an den Neos vorbeikommt.

Doch bei den jüngsten Landtagswahlen in Tirol, Niederösterreich und Kärnten blieben die Liberalen deutlich hinter dem selbst gesteckten Ziel zurück. In Salzburg musste die Truppe rund um Spitzenkandidatin Andrea Klambauer zittern. Eine Neuauflage der "Dirndl-Koalition" mit ÖVP und Grünen wird sich wohl nicht mehr ausgehen. Pessimisten meinen sogar, die Neos würden ums Überleben kämpfen, so knapp schramme man an der Einzugshürde in den Landtag entlang.

Auf Bundesebene gehören die 2012 von einer Gruppe rund um Matthias Strolz gegründeten Neos mittlerweile zum etablierten Parteienspektrum. Bei der Nationalratswahl 2019 erreichten sie 8,1 Prozent der Stimmen, schon bald nach der Wahl kletterten sie in Umfragen auf zehn Prozent (mit Ausreißern Richtung zwölf Prozent). Dort verharren sie allerdings ungeachtet aller Turbulenzen anderer Parteien. Der Absturz der ÖVP nach dem Abgang von Sebastian Kurz und der Sinkflug der SPÖ aufgrund ihrer internen Streitereien schlagen sich in den Werten der Neos kaum nieder.

Das Potenzial ausgereizt

Es gibt, lautet ein gängiger Befund, für liberale Parteien europaweit einen Plafond in der Wählerzustimmung. Er liegt bei etwa zehn Prozent der Stimmen. Sind die Neos also am Zenit ihres möglichen Erfolgs angekommen? Nach außen gibt man sich bei den Neos pragmatisch. Es sei eben schwierig, in Bundesländern mit jahrzehntelanger ÖVP-oder SPÖ-Dominanz (und entsprechendem Drohpotenzial von Schwarz und Rot) Parteistrukturen aufzubauen. Auf Bundesebene habe man hingegen in eigentlich kurzer Zeit sehr viel erreicht und halte sich stabil.

Intern mehren sich allerdings nachdenklich-kritische Stimmen. "Wir dürfen uns nicht nur auf das liberale Potenzial minimieren", sagt einer, und: "Es wäre mehr drinnen, wenn wir wüssten, wofür wir stehen. Wir Neos sind ein Debattierklub geworden, es gibt fast nur noch Berufspolitiker bei uns, trotzdem kennt keiner unsere Zukunftskonzepte für die drängendsten Themen."

Neos schaffe es nicht, in die Breite zu gehen, lautet eine andere Kritik. Und: War man früher ein jüngerer, sympathischerer Ableger der ÖVP -die Gründer kamen aus dem Umfeld der auch damals tief frustrierten Schwarzen -, werde man heute eher als links wahrgenommen und wirke nicht mehr so stark ins bürgerliche Lager hinein. Ein Problem ist das aus Sicht der Verfechter einer "progressiven Mehrheit links der Mitte", sprich einer Ampelkoalition. Nehmen sich SPÖ, Grüne und Neos gegenseitig die Stimmen weg, wird es nichts mit dieser Mehrheit.

Zwei Personen verdeutlichen den Links-rechts-Spagat bei Neos besonders gut: Hier die U-Ausschuss-Aufdeckerin Stephanie Krisper, die weit ins grüne Lager hineinstrahlt, dort Sozialsprecher Gerald Loacker, ein rotes Tuch für viele Linke.

Während sich die Neos-Führung weder links noch rechts einordnen lassen will, hat Meinungsforscher Peter Hajek diesbezüglich Eindeutiges parat: "Es lässt sich genau festmachen, ab wann Neos das von der ÖVP zu holende Stimmenpotenzial ausgereizt hatte." Bei einer Parlamentsrede im Mai 2020 hatte Parteichefin Beate Meinl-Reisinger in Richtung der damals Türkisen und ihrer Wählerschaft gestichelt: "Wer nichts weiß, muss alles glauben." Hajek: "Ab diesem Zeitpunkt haben bestehende ÖVP-Wähler den Neos sozusagen den positiven Blick entzogen. Seither sehen wir in Umfragen: Sogenannte Leaning Voters, also Menschen, die zwar noch nicht Neos wählen, aber eine Affinität zu diesen haben, finden wir vor allem links der Mitte und deutlich weniger aus der Richtung der ÖVP."

Wie weiter?

Will eine kleine Partei zu einer "Volkspartei" oder "Catch-all Party" wachsen, "muss sie thematisch aufmachen oder ein Thema haben, das ein Treiber ist", erklärt Hajek mit einem Beispiel aus der österreichischen Parteiengeschichte: "Die FPÖ war bis in die 1980er-Jahre eine nationale Honoratiorenpartei. Jörg Haider hat erkannt, dass die Partei so nicht überleben wird. Also hat er auf Antiestablishment und ab dem Wien-Wahlkampf 1991 auf das Ausländerthema gesetzt. Diese zwei Treiberthemen funktionieren für die FPÖ immer noch." Nachsatz: "Allerdings sehe ich diese Möglichkeit für die Neos nicht, wenn man dem Markenkern treu bleiben will. Es gibt kein Treiberthema, das mit ihnen ähnlich gut verknüpfbar ist. Wenn man wie die Neos nicht populistisch sein will, ist es schwieriger."

Welche Strategie bleibt also?"Das Bohren harter Bretter", sagt Hajek. Die Neos müssten sich thematisch und auch personell verbreitern, um größere Wählergruppen anzusprechen. Wieder nennt Hajek das Beispiel einer anderen Partei: "Die Grünen hatten unter ihrem Parteichef Alexander Van der Bellen zusätzlich Eva Glawischnig als ,Kronprinzessin', Peter Pilz als Aufdecker oder Karl Öllinger, der für die Themen Gesundheit und den Kampf gegen den Rechtsextremismus gestanden ist. Mit dieser Strategie mögen vielleicht nicht die ganz großen Sprünge gelingen, es geht aber nur so."

Manche in der Partei wünschen sich daher den streitbaren Salzburger Sepp Schellhorn zurück. Der ehemalige Chef der Hoteliervereinigung und Wirtschaftsbündler hat tief in den Wirtschaftsflügel der ÖVP hinein gewirkt. Er war im Gründungsteam der Neos. 2021 hat er sich aus dem Nationalrat und der Parteiführung, er war einer der Stellvertreter Meinl-Reisingers, zurückgezogen. Als Grund für diesen Schritt nannte er die Doppelbelastung zwischen der Politik und seinen Hotelund Gastronomiebetrieben. Dazu kam der Frust, als Oppositionspolitiker meist mit Vorschlägen an der Regierungsmehrheit zu zerschellen, und auch die offensive Rolle der Neos in den parlamentarischen U-Ausschüssen stieß irgendwann nicht mehr auf seine ungeteilte Zustimmung.

Mittlerweile gibt Schellhorn zu erkennen, dass ihm die Politik fehlt. Im Lauf des Jahres will er die Betriebe an seinen Sohn übergeben. Ob und an welcher Stelle er in die Politik zurückkehrt, lässt er, wann immer er öffentlich gefragt wird, offen.

Neos sind nicht mehr neu

In den ersten Neos-Jahren hatte Schellhorn mit Niko Alm einen kongenialen Mitstreiter für Unternehmertum und gegen den "Kammerstaat". Alm, der 2017 nicht wieder für die Neos kandidierte, ist heute wieder Unternehmer, nach eigener Aussage "nicht interessiert an Tagespolitik", aber dennoch mit Anteilnahme am Wohlergehen seiner früheren Parteikollegen. Er glaubt nicht, dass für diese bei zehn Prozent der Zenit erreicht sein muss. "Bei allen anderen Parteien sehen wir ja auch, dass eine gewisse ideologische Vorprägung nicht bedeutet, dass man dort gedeckelt ist. Man kann auch mit einem liberalen Kern so viel Attraktivität entwickeln, dass man über zehn, fünfzehn Prozent hinauskommt."

Wie das zu schaffen wäre? Alm: "Das Neue hat sich schon lange verbraucht, einfach durch Zeitablauf, das ist niemandes Schuld. Die Frische, die es am Anfang gegeben hat, kann es so nicht mehr geben. Man müsste fast schon eine Neuerfindung von Neos machen, um den Leuten zu erklären, wo hier Ansatzpunkte sind, warum die Partei gewählt werden soll. Das ist nicht unbedingt personell festzumachen. Personaldiskussionen sind immer das Einfachste, aber ich glaube, es gehört mehr dazu."

Herauszuarbeiten, wofür Neos steht, sei von Anfang an schwierig gewesen, erzählt Alm: "Da hieß es: neue Köpfe, neue Politik, neuer Stil. Aber das bedeutet ja eigentlich nichts Inhaltliches." Was er sich von den Neos wünscht? "Ich würde mir ein bisschen Mut zu neuen und vielleicht nicht aufs erste Hinschauen populären Positionen wünschen. Es wäre wichtig, etwas Neues in die politische Diskussion einzuführen. Etwas, das vorher so nicht da war, aber trotzdem anschlussfähig ist." Bildung sei jedenfalls nicht das Thema, mit dem Neos neue Wählerschaften erschließen könnten, meint Alm. "Das ist für Eltern sicher total interessant, aber jemandem wie mir, der sein Leben lang keine Kinder haben wird, sind andere Themen wichtiger. Das darf man nicht vergessen. Es wäre vielleicht gescheiter, sich bei anderen Sachen schärfer zu positionieren."

Im Gegensatz zu Alms Befund verweist Hajek auf "eine klare DNA" der Partei. "Bei jeder Wahltagsbefragung hören wir die gleichen Motive dafür, Neos zu wählen: Bildung, Wirtschaft, frischer Wind. Das ist seit Matthias Strolz das Image, das pickt."

"Positive" Protestpartei

Dennoch weiß man auch an der Parteispitze der Neos, dass dieses Image gepflegt und nachgeschärft gehört. Geplant ist, das Protestelement der Partei wiederzubeleben. Dass Neos 2017 eine Petition für die Abschaffung der kalten Progression gestartet hat, haben die Regierungsparteien bei der entsprechenden Steuerreform gekonnt ignoriert. Doch Neos-Generalsekretär Douglas Hoyos verweist auf weitere Vorstöße seiner Partei: Aktuell läuft eine Petition zum Thema psychische Gesundheit bei Jugendlichen, die derzeit bei rund 7.000 Unterschriften hält. "Dabei zeigen wir, dass positiver Protest möglich ist, der auch Lösungen anbietet." Zudem habe man in den Bundesländern gegen die ORF-Landesabgaben mobil gemacht.

Das Bildungsthema wollen Neos Richtung Lehrlingsausbildung verbreitern und den bevorstehenden 1. Mai zum "Tag der Ausbildung" ausrufen. Ebenfalls auf der pinken Agenda: der Arbeitskräftemangel, wo man auf "intelligenten Zuzug" setzt und anprangert, dass Österreich durch die aktuelle Zuwanderungspolitik der ÖVP den Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte aus Drittstaaten verliert.

Mit diesem "Zurück zu den Wurzeln des positiven Protests", wie es Hoyos nennt, will man bei Neos auch ein Versäumnis der letzten Jahre kaschieren. Die Partei ist seit ihrer Gründung mit dem Anspruch angetreten, regierungsfähig zu sein. Vor lauter Regieren vergisst sie allerdings in Wien und Salzburg darauf, Erreichtes auch "zu verkaufen"."Wir kommunizieren zu wenig nach außen", sagt Hoyos selbstkritisch, "das ist zu kurz gekommen, weil wir den Fokus eben auf die Arbeit legen." So sei untergegangen, dass Neos in Salzburg 46 von 52 Punkten im Regierungsprogramm abgearbeitet haben.

Stille Regierungspartei

Auch der Wiener Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr übt sich diesbezüglich in Selbstkritik: "Es ist eine große Herausforderung, die vielen Themen, die wir bewegen, auch so zu kommunizieren, dass sie angenommen werden. Wir sind da oft die Musterschüler und haben Aufholbedarf dabei, wie wir wahrgenommen werden. Das hat mit unserer sachlichen Politik zu tun. Ich bin nicht der, der nur auf die große Schlagzeile zielt. Mir geht es darum, Projekte voranzubringen. Auch wenn ich weiß, dass eine Schlammschlacht in der Öffentlichkeit für die Medien manchmal spannender ist oder ein Politiker wie Trump, der jeden Tag Schlagzeilen macht."

Ein bisschen sind also auch die Medien schuld, meint Wiederkehr. "Die Frage ist: Wie wird über unsere Arbeit berichtet? Zuletzt haben wir etwa das Projekt Wiener Sommerlernen vorgestellt, wo es erstmals in Wien ein Lernangebot für Kinder gibt, die das dringend brauchen. Darüber wird natürlich weniger berichtet als über die niederösterreichische Landesregierung, die ein Scheingefecht um Deutschförderklassen führt und dabei nur die Ausgrenzung in den Mittelpunkt stellt. Es gibt in der Bevölkerung und in der Politik genug Polarisierung. Unser Ansatz ist ein inhaltlicher und unsere Aufgabe, dass möglichst viele etwas davon mitbekommen."

Die Schwäche der Neos in Wien liegt allerdings auch darin, dass sie mitunter wie ein Anhängsel der dominierenden SPÖ wirken. In der derzeit laufenden Untersuchungskommission rund um die Turbulenzen bei der Wien Energie musste Wiederkehr eingestehen, erst im Nachhinein davon informiert worden zu sein, dass Bürgermeister Michael Ludwig über seine "Notkompetenz" eine 700-Millionen-Euro-Hilfe freigeben habe.

Die Information, dass Wiederkehr der SPÖ für seine nachträgliche Zustimmung ein Transparenzpaket abgerungen hat, musste Parteichefin Meinl-Reisinger nachträglich via "Presse"-Interview platzieren. Die Neos-Anhänger würden diese Schwächen wohl nicht übel nehmen, meint Hajek. "Wien-Umfragen zeigen ein stabiles Bild. Wenn die ,eigene Partei' in der Regierung ist, wird man nachsichtig."

Wahlvorbereitungen

Mitte Juni wollen die Neos bei einer Mitgliederversammlung ihr Programm nachschärfen. Man wird die Bundesländerwahlkämpfe analysieren und versuchen, Lehren für die nächsten Wahlkämpfe zu ziehen. Im Mai 2024 steht die EU-Wahl im Kalender. Hier ist ein Ziel, ein zweites Mandat zu erringen. Die derzeitige EU-Abgeordnete, Claudia Gamon, ist mittlerweile auch Landesparteichefin in Vorarlberg, wo ebenfalls 2024 gewählt wird. Spannend wird daher, wo sie ins Rennen gehen wird.

Und dann blickt alles auf den Bund. "Diese Regierung ist fertig", tönt es regelmäßig aus den Neos-Reihen. Doch ob das reicht, um sie abzulösen? Für eine Ampelregierung müssten alle drei infrage kommenden Parteien deutlich zulegen. Viel hängt dabei davon ab, für welche Parteiführung sich die SPÖ-Mitglieder in den nächsten Wochen entscheiden. Doch bei Neos hält man sich ohnehin auch die Tür Richtung ÖVP offen.

"Der Wahlkampf läuft ja erst an", sagt Douglas Hoyos. "Wir wissen noch nicht einmal, wer die Spitzenkandidaten der anderen Parteien sein werden. Nach der Wahl wird man dann sehen, in welcher Konstellation am meisten weitergeht, also wo man den derzeit herrschenden Stillstand beenden kann."

Mit taktischen Nichtfestlegungen wie diesen sind Neos jedenfalls in den Reihen der seit Jahrzehnten etablierten Parteien angekommen. Ihre Aufgabe ist es nun, es nach der nächsten Nationalratswahl auch an den Verhandlungstisch zu schaffen.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 16/2023.