Ein Sorgenexkurs zu den Festwochen. Etwas Lena

Schnelle Bemerkungen zum EU-Wahlkampf, ehe ich wieder in die Umlaufbahn um die bessere Welt der Kunst einschwenke: Milo Raus erste Wiener Festwochen brauchen Augenmerk auf Kunst statt auf Politik

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Jetzt wollte ich noch etwas zu Lena Schilling bemerken, der ich zuletzt als zehnjähriger Inhaberin eines gigantischen Mundwerks in einem steirischen Kinderhotel begegnet bin. Aber das Thema umkreist im Leitartikel meine Kollegin Anna Gasteiger, in deren sanfte Wortmacht ich blindes Vertrauen setze. Lassen Sie mich daher nur eilig mit Ihnen teilen, was mir im persönlichen und schriftlichen Austausch so zugeflogen ist. 1) unterschätzen Sie nicht die nicht mehr blutjungen Eltern, solche wie meine Frau und mich, deren Kinder etwa in Lena Schillings Alter stehen. 2) rechnen Sie das im Besonderen auch auf die Großeltern hoch, die teils unter den feministischen Parametern der Kreisky-Zeit alphabetisiert wurden. Sie können das unter Sentimentalitäten subsumieren. Oder sich Gedanken darüber machen, ob es geraten ist, eine Dreiundzwanzigjährige, die im Begriff steht, aus ihrem Leben etwas zu machen, mit anonymen Beschuldigungen durch einen von der eigenen Bobo-Blase betriebenen Escape Room zu jagen.

Vergessen Sie aber 3) vor allem nicht Lena Schillings Altersgenossen, zu denen ich über meine Töchter ein wenig Zugang habe. Ich meine keine kreischenden Teenies, sondern ernsthafte, politisch interessierte Leute, unter ihnen nicht wenige Erst- und Jungwähler, die auf dem Weg zur Uni weder die Bobo- noch die U-Bahn-Publizistik zum Denken bemühen.

Und wenn ich mir die Umfragen ansehe, auch die in dieser unserer Ausgabe: So liegen die Grünen bei der EU-Wahl mit der angeblich irreparablen Spitzenkandidatin um ein ganzes Politbüro über dem, was der Bundespartei im Herbst blüht. Wenn ich mich nicht täusche, will man Lena Schilling noch mithilfe einer Vorzugsstimmenkampagne von Brüssel fernhalten. Begünstigt wären dann namenlose Mitbewerber, deren Zorn über die interessante Quereinradlerin womöglich mit der ganzen Affäre zu tun hat. Ziehen Sie daraus welchen Schluss Sie wollen, mich betrifft es nicht einmal mittelbar. Ich wähle weiter unter gellender Qualbekundung rot, solange die Partei noch im Angebot steht.

Lassen Sie mich daher in die Umlaufbahn um die mir näherliegende bessere Welt einschwenken. Heißt: Die Wiener Festwochen haben soeben begonnen und werden, wenn Sie das lesen, schon im Vollbild erblüht sein. Vor allem werde ich dann wissen, ob mir Mozarts „Titus“ gefallen hat, vom Operndebütanten Milo Rau gegen das postkoloniale Unrecht aller fünf Kontinente hochgerüstet.

Was ich nämlich an den ersten beiden Tagen beobachten musste, war ein fundamentales Dilemma: Der künstlerische Anspruch steht in keinem Verhältnis zu den politischen Absichten.

Begonnen hat man mit einem Gastspiel aus Zürich. Kim de l’Horizons Roman „Blutbuch“ wurde da unter auch physischer Mitwirkung des Verfassers dramatisiert und heißt jetzt „Blutstück“. Der Roman ist gut, profitiert aber auch vom trägen Themendiktat der Preisgerichte. Musste man bis vor Kurzem ein Migrantenschicksal erlitten (oder zumindest literarisch glaubhaft beweint) haben, um auch nur an ein Förderstipendium zu kommen, so disponiert man jetzt sinnvollerweise auf „nonbinär“ um. Heißt: Man bekennt sich zu keinem Geschlecht, und die schlauen Schweizer sind wieder einmal vorn dabei. Wie der Ausgang des Song Contests und die „genderfluide Person“ Kim de l’Horizon beweisen. „Blutbuch“ ist ein formal und sprachlich spannender Text, von dem aber in der Umsetzung durch die Regisseurin Leonie Böhm nichts bleibt. Nur woke Mitmenschenanstrudelung in einer Art Selbsthilfegruppe traumatisierter Hippies, die in der analen Phase festhängen.

Tags darauf sah ich im Burgtheater „Barocco“, ein Gastspiel des großen Regisseurs und Widerstandskämpfers Kirill Serebrennikow. Ein musikalisches Manifest nennt er es, und wenn Serebrennikow von der Freiheit, dem Kampf um sie und dem Wüten gegen sie erzählt, vom Aufbegehren im Jahr ’68, den Selbstverbrennungen in Prag und dem Elend heute: So sieht man großartige zweieinviertel Stunden mit lodernden Flammenwänden, betörend schönen Filmsequenzen, tollen Schauspielern, sehr guten Tänzern und einem leidlichen Gesangsensemble. Nur an dem, was der Titel verspricht, scheitert es: Vermischtes von Bach, Händel, Rameau, Lully und Telemann wird da barbarisch unter „Playlist“ abgelegt und dann abwechselnd von einer Krawallrockgruppe und einem Kaufhaussynthesizer zu Tode gebracht. Da zum Geschrei aus den Gesichtsmikrofonen auch keine Arientexte angeboten werden, nähert sich das Ganze bisweilen einem bunten Abend. Und das wäre Freiheit gewesen: sich allen Kostenvorhaltungen zu widersetzen und auf einem qualifizierten Originalklangensemble zu bestehen. Im Namen der künstlerischen Verantwortung nämlich, die unteilbar ist.

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