Wer ist Kim de l'Horizon?

Bis zum 17. Oktober, 18.55 Uhr, war "Blutbuch" von Kim de l'Horizon eines von sieben Nominierten für den begehrten Deutschen Buchpreis. Der Roman über eine Erzählfigur, die sich Geschlechterrollen entzieht, überzeugte die Jury. Wer ist Kim de l'Horizon? Ein Gespräch über das Ringen um die richtige Sprache, Gendern und Empathie.

von Kim de l'Horizon © Bild: IMAGO/Hartenfelser

Steckbrief Kim de l'Horizon

  • Name: Kim de l’Horizon
  • Geboren: Am 9. Mai 1992 in Ostermundingen bei Bern (Schweiz)
  • Beruf: Person, die Lyrik, Prosa und Theaterstücke verfasst
  • Bekanntestes Werk: Blutbuch (2022)
  • Ausbildung: Studium Germanistik, Film- und Theaterwissenschaften (Zürich), Studium literarisches Schreiben (Literaturinstitut Biel, Bachelor), Studium Transdisziplinarität (Züricher Hochschule der Künste)
  • Familienstand: unbekannt

Kim de l'Horizon und der Deutsche Buchpreis

Für die Jury des Deutschen Buchpreises bestand kein Zweifel: "Blutbuch" von Kim de l'Horizon ist 2022 der Roman des Jahres. Die Geschichte eines Schweizer Kindes, das sich früh entschließt, weder als Mann noch als Frau durch die Welt zu gehen, wurde mit dem marktwichtigsten deutschsprachigen Literaturpreis ausgezeichnet, eine mit 25.000 Euro beglaubigte Ehre der Sonderklasse.

Der Auftritt der Künstlerfigur anlässlich der Verleihungszeremonie glich der Bestätigung des Geschriebenen. Kim de l'Horizon, eine groß gewachsene, schlanke Erscheinung, der Oberlippenbart streng getrimmt, der lange, schmale Rock, aus dem eine Art Wiese zu wuchern schien, mit grün glitzernden Pailletten besetzt, demonstrierte den Einklang von Literatur und Leben.

Zeichen für den Iran: Haare ab

Bei der Preisrede dann der Griff zum Rasierer: Laureat Kim schor sich das volle, schwarze Haupthaar, ein Akt der Solidarität mit den protestierenden Frauen im Iran: "Ein Zeichen gegen den Hass und für die Liebe, für den Kampf von Menschen, die wegen ihres Körpers unterdrückt werden."

Wie spricht man Kim de l'Horizon an?

Zwei Tage danach: ein kurzes Treffen am Stand des Dumont-Verlags auf der Frankfurter Buchmesse. Kamerateams stehen Schlange. Der Preis und die Umstände seiner Vergabe rücken Kim de l'Horizon in den Fokus der Berichterstattung. Dennoch bleibt Zeit für die Verabredung zum Interview per Zoom. Dabei wird gleich das Naheliegende geklärt. Wie soll man den Schriftsteller ansprechen? Wie mit einem Menschen kommunizieren, der weder "er" noch "sie" als Pronomen auf sich beziehen will?"Wenn jemand versteht, dass mir das männliche Pronomen wehtut, dann wird die Person das auch nicht mehr in Bezug auf mich verwenden. Dann ist klar, dass sie nicht verletzen will", erklärt Kim. Das will man natürlich nicht.

»Sagen Sie einfach Kim. Und wenn Sie mir schreiben, ,Guten Tag Kim'«

"Sagen Sie einfach Kim. Und wenn Sie mir schreiben, ,Guten Tag Kim'." So soll es geschehen: Kim, einfach Kim. Ein Termin per Zoom wird vereinbart, wenn der Messetrubel vorbei und der Roman gelesen ist.

Blutbuch, das Werk von Kim de l'Horizon

Und die Lektüre hat es in sich: Ein sprachgewaltiges Werk mit enormer Sogwirkung ist da zu begrüßen. Schon auf den ersten Seiten manifestiert sich, was die Jury "enorme kreative Energie" und "literarische Innovationskraft" nennt. In kunstvoll geführter Sprache beschreibt eine Ich-Erzählfigur (auch mit diesem Begriff wird auf die Präferenzen des Gegenübers Rücksicht genommen) im Rückblick auf die Kindheit, wie es ist, mit dem eigenen Körper nicht zurechtzukommen.

Das Kind will niemanden verletzen, schon gar nicht den Peer, wie der Vater im Roman auf Berndeutsch genannt wird. Der schenkt dem Sohn ein Schweizer Sackmesser. Das Kind benutzt es demonstrativ, wenn der Erzeuger in der Nähe ist. "Damit der Peer es sieht", ist im Roman zu lesen.

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Der Peer soll zufrieden sein. Keine Frage, dass das Kind beim Schlachten der Hühner assistiert und später selbst die blutige Aufgabe übernimmt, weil dem Vater davor graut. Dasselbe Kind aber sehnt sich nach dem Schönen in der Gestalt geschminkter Lippen, posiert in Kleidern vor dem Spiegel und unterhält in jüngsten Jahren die Großmeer, so die Bezeichnung für Großmutter, mit privaten Modeschauen. Die werden aber nur geduldet, wenn niemand zusieht. Als das Kind die Couture in die Kirche ausführen will, ist Schluss.

Übermächtig ist die Großmutter. Auch die Meer, die Mutter, fürchtet sie. Und die Erzählfigur? Ängstigt sich vor den spinnenartigen Händen und sucht dennoch ihren Zugriff.

Wer nun meint, "Blutbuch" sei auf die Geschichte eines jungen Menschen auf Identitätssuche zu reduzieren, greift viel zu kurz: "Blutbuch" ist ein kunstvolles Konstrukt über Werden und Vergehen, über Leben und Sterben. Denn parallel zur Selbstfindung der Erzählfigur wird der rasante Verfall der an Demenz erkrankten Großmutter erzählt.

Das ist viel, aber immer noch nicht alles: Denn im Zentrum der Ereignisse steht ein alles dominierender Baum, die Blutbuche, die dem Roman den Titel gibt. "Sie hatte etwas Monströses. Zwitterhaftes. Sie war eine Mischung aus einem Tier und einem Baum", schreibt Kim. Der Vater der Großmutter hatte sie am Tag ihrer Geburt gepflanzt.

Der Baum wird zur Projektionsfläche, zum Idealwesen des Kindes im Roman, der in Schweizer Orthografie ohne Gebrauch des Konsonanten "ß" geschrieben ist. "Liebe Blutbuche, wie wird mensch eine Blutbuche? Wie wird mensch so gross und so stark wie du?", fragt das Kind im Roman den Baum. Und wenige Zeilen später die Antwort: "Die Lektionen der Blutbuche waren: Dastehen. Das Laub abwerfen. Ausharren. An neuem Laub arbeiten. Ausschlagen. Verwandeln."

Eine Metamorphose wie vom römischen Dichter Ovid, der Daphne beschrieb, die sich in einen Lorbeerbaum verwandelt, um dem zudringlichen Gott Apollo zu entkommen.

Kim de l'Horizon über den Baum, die Blutbuche

Naheliegend, das Gespräch beim titelgebenden Baum zu beginnen. Eine famose Metamorphose, wie da aus der Blutbuche das "Blutbuch" wird. Da ist der Produktionsvorgang -aus Holz wird Papier - gleich mitgedacht. "Dieser Baum hatte eine eigene Wirkkraft auf mich. Er hat sich durch die Hintertür immer wieder ins Schreiben reingepflanzt. Ich konnte mich dann irgendwann nicht mehr wehren und dachte, gib dem Raum!", schildert Kim die vegane Inspiration. Aber wo dieser Baum zu finden ist, wird nicht preisgegeben.

Woher kommt Kim de l'Horizon?

Auch der bürgerliche Name des Autors nicht. 1992 in Ostermundigen bei Bern geboren, das genügt. In der Tat, denn an der Qualität des Geschriebenen ändert es nichts, ob man mehr über die Autorenfigur weiß. Herkömmliche Debütromane erzählen meist von Defiziten in der Kindheit, die im Erwachsenenleben zu Problemen führen. Derlei lehnt Kim ab, denn die ersten Versuche, einen konventionellen Roman zu verfassen, führten zu nichts. "Dann versuchte ich, beim Schreiben im Körper anwesend zu sein", blickt Kim zurück. Das funktionierte, und eine sehr persönliche Art zu schreiben nahm ihren Anfang. "Ich nenne es écriture fluide. Eine Literatur, die in Wellen kommt. Ich musste mich diesem Schreibfluss hingeben."

Der Weg zum Schreiben

Im Roman klingt das so: "Ich vermute, dass es mich auch darum ins Schreiben zog, weil das Schreiben eine einzige Wellenlinie ist, eine von weither kommende Woge, die lange vor mir begonnen hat und lange nach mir weiterfliessen wird. Weil das Element der Sprache das Flüssige ist. Das Träge, das Tiefe, Latente, das Tragende, Mitreissende, Anbrandende, das Ertränkende, Speichernde, Leben Gebende, Unerschöpfliche, Spiegelnde, Monster Beherbergende, Auflösende. Weil ich immer Wasser war, mein Körper immer spürte, wie sehr er ein Fliessen ist, ein In-Bewegung-Sein."

Kim de l'Horizon
© IMAGO images/STAR-MEDIA Kim de l'Horizon mit dem eigenen Buch "Blutbuch"

Kim de l'Horizon über Geschlechter

So können vielleicht auch Unbedarfte wie die Berichterstatterin begreifen, was Begriffe "wie genderfluid" und "nonbinär" bedeuten: Es geht um das Changieren zwischen den Geschlechtern.

"Der Begriff Nonbinarität ist vielleicht neu, aber es gab und gibt in den allermeisten Kulturen mehr als zwei Geschlechter, die wichtige gesellschaftliche Funktionen übernommen haben. Der westliche, patriarchale Kolonialismus hat das einfach vielerorts ausradiert mit dem Argument, das sei unzivilisiert", führt Kim im Interview aus und nennt Alok Vaid-Menon aus Amerika als wegweisende nonbinäre Person. Alok habe Kim im Internet entdeckt. Überhaupt habe das Netz dabei geholfen, diese Lebensform zu entdecken. Denn Nonbinarität sei für Kim zunächst keine Option gewesen. "Dann sah ich im Internet Leute, die das leben. Das war etwas Neues für mich, dass wir über weite Distanzen Communitys bilden können."

»Geschlecht ist eine selbsterfüllende Prophezeiung«

Wie bewertet Kim das Vorgehen von Eltern, die ihre Buben abwechselnd Kleider und Hosen tragen lassen, bis sie sich selbst entscheiden, ob sie dereinst als Frauen oder Männer leben wollen? Das soll Trend der Stunde in New York sein. "Das ist sehr sinnvoll. Denn Geschlecht ist eine selbsterfüllende Prophezeiung", stellt Kim klar und gibt ein Beispiel: "Wenn ein Mädchen in einem in Pink ausgemalten Zimmer aufwächst und dann später auch Pink trägt, behaupten die Leute, es habe diese Farbe selbst gewählt. Aber das stimmt einfach nicht. Wir werden von Anfang an in diese binären Welten hineingepfercht, dass wir so stark davon geprägt sind, dass wir uns selbst nicht mehr spüren."

»Spätestens ab der Geburt werden wir in diese Zweierreihe von Frau und Mann hineingepfercht und müssen uns irgendwie dazu verhalten. «

Wenn jemand behauptet, ein ungeborenes Kind werde ein Mädchen oder ein Bub, sei das wie ein Fluch. "Spätestens ab der Geburt werden wir in diese Zweierreihe von Frau und Mann hineingepfercht und müssen uns irgendwie dazu verhalten. Doch es gibt nichts, das Entweder-oder ist, auch wenn man hetero oder cis ist."

Gendern

Und das Gendern, der Gender-Stern, den Kim selbst im Roman verwendet? Ist das nicht eine militante Art, etwas in der Sprache einzufordern? "Dieses Thema ist völlig überladen und medial aufgebauscht. Ich weiß nicht, wie es in Österreich ist, aber in der Schweiz haben sich alle auf diesen Gender-Stern gestürzt und hielten das für eine Vergewaltigung der Sprache. Aber sie haben gar nicht gefragt, wieso das eigentlich gewollt wird."

Der Stern der Hoffnung und Sprache

Und wieso? Kim selbst verwendet den Stern nicht zu knapp im Roman. Es gehe um Empathie: Werde etwas mit Gender-Stern und Sprechpause ausgesprochen, seien damit mehr Leute gemeint. "Wenn Sie zu einem Kind sagen, es soll einen Lehrer zeichnen, wird es einen männlichen Lehrer zeichnen. Dieses generische Maskulinum ist wirklich ein Maskulinum. Das formt unbewusst unser Bewusstsein nach männlichen Formen. Denn Sprache ist Bewusstsein und Sprache schafft Bewusstsein, und Arbeit an der Sprache ist auch Arbeit am Bewusstsein und an der Kultur. Sehr viele Probleme auf dieser Welt", geht Kim ins größere Ganze, "haben mit Geschlechtlichkeit, mit toxischer Männlichkeit zu tun. Das Geschlecht ist der Ursprung vieler Traumata und von Gewalt. Diese sexualisierte Gewalt kommt daher, dass viele Männer keinen Bezug zu ihren Gefühlen haben und keine Empathie gelernt haben. Nur weil sie nicht in Verbindung mit sich selbst sind, können Männer weiblichen Körpern Gewalt antun. Es geht", fährt Kim fort, "nicht darum, ein neues Dogma zu setzen, sondern sich von Dogmen zu befreien. Wenn jemand sagt, ich bin zu 100 Prozent eine Frau oder ein Mann, dann muss das auch nicht angezweifelt werden. Aber viele Menschen passen nicht in diese Schemata." Das wiederum habe nichts mit Queersein zu tun.

Kim beschreibt den Roman als Versuch, neue Sprachlichkeiten zu finden, und muss noch etwas anmerken, bevor die vereinbarte Zeit um ist: "Ich versuche, negative Gefühle zu verwandeln. Die meisten Menschen wollen niemandem etwas Böses, aber wir müssen unser Verständnis füreinander schärfen, und wenn das Verständnis größer wird, kann auch ein viel liebevolleres Miteinander entstehen."

Dann wird der Schirm dunkel.