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"Die Mitläufer werden nicht dabei gewesen sein"

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Robert Menasses Europaroman "Die Erweiterung" wurde kürzlich von der EU zum Buch des Jahres nobilitiert. Der Starautor im Interview über die EU, Nationalisten und Antisemiten

Die Bedingungen für die höchste literarische Auszeichnung der EU sind klar: Das Werk muss in einem der 27 Mitgliedstaaten erschienen sein und den europäischen Gedanken vertreten. Beides trifft auf die literarischen Arbeiten Robert Menasses zu. Zehn seiner 69 Jahre widmet der österreichische Schriftsteller der europäischen Union. Die händigte ihm nun zum zweiten Mal den mit 10.000 Euro dotierten Europäischen Buchpreis aus. Nach dem Essay "Der Europäische Landbote" brachte nun der Roman "Die Erweiterung", Teil zwei einer projektierten Europa-Trilogie, die begehrte Auszeichnung. News erreichte Menasse in Budapest.

Herr Menasse, in Ihren Büchern zeigen Sie Schwächen und Probleme der EU, und dann dieser Preis. Ist das nicht paradox?
Der Europäische Buchpreis ist ja kein Preis für EU-Schönfärberei. Eine Jury von 17 Kulturjournalisten aus verschiedenen europäischen Ländern soll ja nicht eine Werbeagentur prämieren, sondern Literatur. Und in der Literatur geht es im Grunde immer um kritische Auseinandersetzung mit Zeitgenossenschaft. In meinen Essays versuche ich, die Idee des europäischen Einigungsprojekts zu rekonstruieren und zu verteidigen, aber dabei zu zeigen, was alles schiefläuft, worin die unproduktiven Widersprüche bestehen, die nur Krisen und zu Recht den Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger in die EU produzieren. Und in meinen Romanen will ich davon erzählen, wie die Verfasstheit des heutigen Europas in unsere Leben hineinspielt, es prägt oder beeinflusst, ob das jedem klar ist oder nicht. Wir haben ja nicht mehr bloß lokale oder regionale Biografien, aufgepeppt durch gelegentliche Urlaubsreisen ins Ausland, sondern europäische Biografien, einfach deshalb, weil die Rahmenbedingungen unseres Lebens zu einem beträchtlichen Teil durch "Brüssel" gestaltet werden. Entscheidungen der europäischen Institutionen spielen positiv und negativ in unser aller Leben hinein. Der Anspruch eines Romans ist doch, so zu erzählen, dass der Prägestempel einer Epoche spürbar wird und die Zeitgenossen sich erkennen und spätere Generationen uns verstehen. Zumindest ist das mein Verständnis von Literatur, und ich gestehe, dass ich es als große Bestätigung meiner Arbeit empfinde, in beiden Kategorien, als Essayist und als Romancier, diese europäische Auszeichnung erhalten zu haben.

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 © Matt Observe/News

Sie haben die unproduktiven Widersprüche des europäischen Systems angesprochen und dass Sie sogar den Unmut vieler Menschen in Hinblick auf die EU verstehen. Verstehen Sie das wirklich? In Österreich, das nach allen Statistiken besonders von der Mitgliedschaft profitiert hat, ist die Zustimmung zur EU am geringsten von allen Mitgliedstaaten.
Ja, Österreich hat profitiert, aber diese Rechnung ist falsch, darum funktioniert sie nicht. Es geht ja nicht darum, dass Länder statistisch profitieren, sondern Menschen. Wenn Eliten aus Wirtschaft und Politik eines Landes profitieren, ist es kein Widerspruch, wenn der Unmut von vielen Menschen wächst. Vor allem, wenn die Krisen immer bedrohlicher werden. Und diese Krisen sind eine Folge des Grundwiderspruchs der EU: Einerseits steht die EU ihrer Idee nach für eine nachnationale Entwicklung, für Gemeinschaftspolitik, Gemeinschaftsrecht, für eine Verflechtung der nationalen Ökonomien auf einem gemeinsamen Markt. EU bedeutet Transfer nationaler Souveränität an supranationale Institutionen. Das hat einsichtige historische Gründe, nachdem der Nationalismus Europa verwüstet und die größten Menschheitsverbrechen begangen hatte. Andererseits erleben wir die Renationalisierung der Mitgliedstaaten, Widerstand gegen Gemeinschaftsrecht und Gemeinschaftspolitik. Da gibt es keine Schnittmenge. Die Krisen sind transnational, von der Finanz- bis zur Klimakrise. Nationale Politik kann sie nicht lösen, weil sie eben transnational sind, und Gemeinschaftspolitik könnte sie eher lösen, kann es aber nicht, weil die Nationalisten sie blockieren. Das ist die Polykrise. Nationale Politik blockiert Europapolitik, sagt dann den nationalen Wählern: "Ihr seht, dass Europapolitik nicht funktioniert, wir müssen nationale Lösungen finden." Die kann es nicht geben. Schauen Sie sich Karner oder Edtstadler an. Sind sie ahnungslos oder sind sie zynisch? Beides ist nicht vertrauenerweckend. Der Wähler aber versteht nur, dass die EU nicht funktioniert und dass ihm eine nationale Lösung versprochen wurde. Aber die gibt es nicht, weshalb der Wähler glaubt, dass die Regierung nicht konsequent genug war, also muss er radikalere Nationalisten wählen. Aber die werden auch nicht liefern können, also müssen noch konsequentere Nationalisten her. Das ist die Stunde von Kickl, Orban, Meloni, Fico, Wilders, Le Pen. 30 Prozent wollen das. Und wenn 30 Prozent im Namen von Wirsinddasvolk und Wählerwille die staatlichen Institutionen in den Griff bekommen, ist das eine der Definitionen für Faschismus. Leider hat die Nachfolgepartei des Austrofaschismus damit kein Problem.

Wenn die Nationalisten wieder Europa in die Luft sprengen, werden die Mitläufer nicht dabei gewesen sein

Was tun?
Ich weiß nicht. Wenn die Nationalisten wieder Europa in die Luft sprengen, so wie sie es bereits einmal mit der Welt von gestern gemacht haben, werden die Mitläufer nicht dabei gewesen sein, aber wie schon einmal wimmern: "Das soll nie wieder geschehen dürfen." Keine Ahnung, meine Aufgabe oder sagen wir: das mir Mögliche ist, von dieser Zeit zu erzählen.

Aber braucht ein Schriftsteller nicht eine gewisse Distanz, um einen Überblick über das Zeitgeschehen zu haben?
Wenn ich Roman schreibe, möchte ich erzählen können, wie wir leben. Dazu muss ich mich fragen, was alles unser Leben beeinflusst, was die Bedingungen unserer Lebensanstrengungen sind. Es ist doch ganz klar: Stellen Sie sich vor, ein Liebesroman in den Fünfzigerjahren. Da gab es doch ganz andere Vorstellungen von Glück, andere Tabus, andere Fantasien, andere Prägungen, aber nicht zuletzt auch ein anderes Ehe- und Scheidungsrecht als heute. Einen Roman zu schreiben, der das nicht mitreflektiert, damals wie heute, ist Kitsch. Die 60er-Jahre ohne Pille und ohne Entkriminalisierung der Abtreibung wären nicht die 60er- oder 70er-Jahre gewesen. Genauso trifft das auf einen Gesellschaftsroman zu. Es gibt so etwas wie eine jeweils wirksame Produktion von Realität, in der wir unser Glück suchen. Es gibt Zeitgeist und es gibt Gesetze, die eine Zeit prägen. Das interessiert mich. Und deshalb liebe ich mein Balzac-Poster in meinem Arbeitszimmer und die gerahmte Originalausgabe der Pariser Zeitung "L'Aurore" mit Zolas "J'accuse" auf der Titelseite. Das habe ich bei einer Auktion für viel Geld, das ich mir absparen musste, erstanden. Von Zola Distanz zu fordern? Ich bitte Sie. Ich bekreuzige mich nicht vor der "L'Aurore", wenn ich zu arbeiten beginne, aber davon gehe ich aus, auf meine Weise in meiner Zeit.

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 © Rafaela Pröll/Suhrkamp Verlag

Und Sie sind nach Brüssel übersiedelt, um anzuklagen?
Nein, um zu verstehen. Mir ist klar geworden, dass Entscheidungen, die in Brüssel fallen, in unser Leben hineinspielen, es prägen. Ich wollte in den Maschinenraum der Realitätsproduktion. Ich war vier Jahre in Brüssel und glaube, dass ich Europapolitik mit allen Idealen und allen Desastern gelernt habe. Ich habe gesehen, welche Menschen dort arbeiten, die geschmähten Eurokraten. Das sind hochqualifizierte Menschen mit Engagement, Frustrationen, voller Ehrgeiz, aber auch illusionsloser Routine, es sind Lichter unter einem Scheffel, während sie meine Lebensrealität produzieren. Das habe ich versucht zu erzählen.

Für Ihren Roman "Die Erweiterung" sind Sie nach Albanien gereist.
Ja, nach dem Zentrum an die Peripherie. Ich wollte verstehen, warum Menschen unbedingt in die EU wollen und alle Hoffnungen dahinsetzen und wie sie das mit ihrer Kultur und ihrer Geschichte verbinden. Ich reise auch in Länder, die aus der EU hinaus wollen oder so tun als ob. Ich bin gerade, während wir skypen, in Ungarn. Das muss man auch erzählen: was eine Orbanisierung Europas bedeuten würde.

Ist das der Stoff für den nächsten Roman? Wir erleben derzeit, wie der Antisemitismus in Europa immer stärker wird. Ich dachte, das wäre ein Thema für den dritten Teil Ihrer Romantrilogie.
Ich hatte die Trilogie bereits konzipiert, bevor ich den ersten Teil, "Die Hauptstadt", geschrieben habe. Ich will mich nicht drängen lassen von Tagesaktualität. Obwohl: Antisemitismus ist nicht exakt das, was wir tagesaktuell nennen können.

Skandalös finde ich den linken Antisemitismus, da muss man fragen, woher der kommt

Wie erleben Sie dieses Aufflammen des Antisemitismus?
Wir haben drei Formen von Antisemitismus, den klassischen rechten, der eine große Schnittmenge mit dem katholischen Antisemitismus der Mitte hat, den es schon immer gegeben hat. Der manchmal mehr, manchmal weniger mörderisch ist. Skandalös finde ich den linken Antisemitismus, da muss man fragen, woher der kommt. Die Linken sind ja diejenigen, die sich moralisch so gut fühlen, wenn sie sich mit unterdrückten Völkern solidarisch erklären können. Was mich aber wundert, ist, dass sie sich, in Anbetracht der Vielzahl unterdrückter Völker der Welt, immer nur mit den Palästinensern solidarisieren. Aber nie mit Uiguren oder Kurden oder anderen unterdrückten Völkern. Das kann ich mir nicht anders erklären, als dass es bei dieser linken Solidarität mit Palästinensern in Wirklichkeit um einen geerbten Antisemitismus ihrer Väter geht. Mit dem muss man sich genauso auseinandersetzen wie mit dem importierten Antisemitismus durch Moslems.

Soll man die ausweisen?
Meinen Sie die Linken? Ach so, die antisemitischen Moslems. Die Frage ist, wohin. Rechtlich ist das sehr kompliziert. Es kommt darauf an, welchen Asylgrund sie hier haben und welches Land sie aufnehmen würde.

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 © Matt Observe/News

Ihr nächstes EU-Buch ist bereits angekündigt, ein Essay mit dem Titel "Die Welt von morgen. Ein souveränes demokratisches Europa und seine Feinde". Worum geht es?
Eine Reflexion zur Europapolitik der Blockaden und warum Europa im Moment nicht funktioniert, aber gleichzeitig ist es auch ein Versuch, die europäische Idee zu rekonstruieren und zu verteidigen. Bedenken Sie, unsere Epoche ist durch zwei Phänomene charakterisiert. Das eine ist das europäische Gemeinschaftsprojekt, das versucht, aus dem Kontinent etwas Gemeinsames, Friedliches im Wohlstand zu machen, mit enormen Widerständen, enorm vielen Problemen, aber als Idee, die weit getragen ist. Gleichzeitig gibt es einen zweiten Prägestempel, die Globalisierung. Das Interessante daran ist, dass man fast von einer Parallelaktion sprechen kann. Das europäische Gemeinschaftsprojekt hebt Grenzen auf, verbindet Nationen, überwindet Nationalismus. Die Globalisierung macht weltweit dasselbe. Sie durchbricht alle Grenzen, unterhöhlt Souveränität von Staaten. Sie produziert Gemeinsamkeiten an allen Punkten der Welt, wo immer dasselbe konsumiert wird, unabhängig von Klima und Kultur. Der Unterschied ist nur, das europäische Projekt ist bewusst gestartet worden und hat einen Gestaltungsanspruch. Die Globalisierung passiert durch Wirtschaftsdynamiken multinationaler Konzerne. Das heißt, das eine können wir gestalten, das andere müssen wir erleiden. Das sind die Themen unserer Epoche. Aber in der deutschen Literatur ist der 100. Mauerfall-Roman immer noch wichtiger als der Versuch, zu verstehen, was Europapolitik mit den Menschen macht. Aber das ist deutsche Nationalliteratur. Mich als Nicht-Deutschen interessiert am Mauerfall nur eines, nämlich dass eine Woche davor sich niemand vorstellen konnte, dass die Mauer fällt und die Sowjetunion zusammenbricht. Das bedeutet für mich und meine Generation, dass man nie wieder sagen darf, politisch Wünschenswertes ist unmöglich.

Das Buch
Thriller, Tragödie und Satire: "Die Erweiterung", der zweite Teil der EU-Trilogie, von Robert Menasse Suhrkamp, € 28,80

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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 50/2023 erschienen.

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