Ruth Wodak: "Lassen wir uns nicht vom eingesessenen Antisemitismus ablenken"

Die jüdische Sprachsoziologin Ruth Wodak hat ein Buch mit prominenten Beiträgern zum Wiener Alltagsantisemitismus herausgegeben. Es wurde vor dem 7. Oktober 2023 fertig und lässt doch nichts vermissen: Was jetzt aufflammt, war immer da.

von Ruth Wodak © Bild: Stefan Fürtbauer / picturedesk.com

Knapper hätte der Termin nicht fallen können. "Wien, im September 2023" ist das Vorwort der Herausgeberin datiert. 22 Jahre nach Erscheinen des Sammelbandes "Das kann immer noch in Wien passieren" ist nun die zweite, um viele Beiträge erweiterte Auflage verfügbar. Der Untertitel lautet "Alltagsgeschichten", und Gegenstand der Erinnerungen u. a. von Carl Djerassi, Doron Rabinovici, Oscar Bronner und Ariel Muzicant ist der eingesessene Alltagsantisemitismus. Was allerdings mittlerweile alles in Wien passiert, hat man sich vor dem 7. Oktober nicht in Albträumen vorstellen können. Die Herausgeberin, die führende Sprachsoziologin Ruth Wodak, 73, Tochter einer angesehenen Wiener jüdischen Familie, hat das Buch dennoch nicht aktualisiert. Denn der explodierende Antisemitismus, der von links und rechts und der zugezogene, ist nur die Fortschreibung einer unheilvollen Tradition.

"Erfahrungen eines systematischen und strukturellen Alltagsantisemitismus" habe sie gesammelt und auch selbst erlebt, sagt sie und verwendet sich gleich für die Umbenennung auf "Judenfeindlichkeit", treffender: "Judenhass". Der "judeus ex machina" habe schon lang vor der Nazizeit als Sündenbock herhalten müssen, religiös, rassistisch, politisch, über Jahrtausende. Müssen die Juden nicht als Christusmörder herhalten, sind sie Kapitalisten oder Bolschewiken, eine Liste der Irrationalitäten. Schon Freud habe auf das scheinbare Fremd- und Anderssein im Hinblick auf assimilierte Juden verwiesen: je kleiner der Unterschied, desto größer die Absicht, sich davon zu distanzieren.

Buch "Das kann immer noch in Wien passieren"
© beigestellt

Das Buch
Zeugnisse des Wiener Antisemitismus, ältere und neue, u. a. von Oscar Bronner Sophie Lillie und Doron Rabinovici: "Das kann immer noch in Wien passieren"* dokumentiert die alltägliche Niedertracht. Czernin, € 22,95

Jüdische Antisemiten

Der Judenhass sei nie nur rechtsextrem gewesen, kommt sie der Frage zuvor. Auch Kommunisten und Sozialdemokraten hätten ihn gepflogen. Und die großen jüdischen Namen? Der glühende Antisemit Karl Kraus und Kanzler Bruno Kreisky, der Israel erkennbar missbilligte? "Das war und ist oft nicht Antisemitismus, sondern Antizionismus. Da Juden keine homogene Gruppe darstellen, gibt es viele unterschiedliche Positionen und Standpunkte. Manche wollten nicht mit den sogenannten Stetl-Juden in einen Topf geworfen werden, andere nicht mit den orthodoxen Juden usw. Das heißt, der Antizionismus richtet sich gegen den jüdischen Nationalismus, der durch Herzl in einem antisemitischen Umfeld entstanden ist."

Man müsse differenzieren: Der Judenhass, der dem Staat Israel die Existenz abspricht, mit Generalisierungen wie "alle Juden sind …" oder "alle Israelis sind …", der sei manifest. "Die Kritik jedoch an der rechtsextremen israelischen Regierung und deren Versuchen, die liberale Demokratie auszuhöhlen, teilen derzeit Millionen Israelis. Fundierte und evidenzbasierte Kritik muss immer möglich sein."

Und die BDS-Bewegung, die Israel aus der Wahrnehmung der Welt tilgen will? "Wenn eine solche Meinung tatsächlich vertreten würde, wie der Appell zur Auslöschung Israels, ist es sicherlich antisemitisch." Die Ausladung des israelischen Geisteslebens von britischen Universitäten: "Absolut falsch; ich unterstütze Öffentlichkeiten, wo man sich rational und nicht polarisierend innerhalb der vorhandenen gesetzlichen Bedingungen auseinandersetzen kann. Cancel-Culture ist in vieler Hinsicht problematisch und kann letztlich die Meinungsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit gefährden. Schauen Sie sich etwa an, was alles in Florida unter dem Gouverneur DeSantis verboten wurde. Darf dann", kommt sie auf einen leidigen Kollegen, "der FPÖ-Historiker Lothar Höbelt an der Universität Wien lehren?"

Wo beginnt das Canceln?

Nun gibt es eine ernste Debatte über die Einladung von BDS-Proponenten zu den Wiener Festwochen. "Ohne dass ich hier die Details kenne: Ich halte, wie gesagt, die Cancel-Culture insgesamt für ein Problem. Lädt man den früheren griechischen Finanzminister Varoufakis und die Nobelpreisträgerin Ernaux aus? Oder setzt man sich mit ihnen in einer moderierten rationalen Debatte auseinander? Kann man rational diskutieren oder ist der Gegenstand schon zu polarisiert? Oder eignet sich der Event nicht für eine kritische Diskussion? Wenn jemand die Existenz Israels bestreitet, ist das natürlich judenfeindlich/antisemitisch. Sollen wir dann aber", legt die bedeutende jüdische Denkerin an Dringlichkeit zu, "auch Menschen mit frauenfeindlichen, muslimfeindlichen und romafeindlichen Äußerungen ausladen? Die Kriterien innerhalb der Cancel-Culture-Bewegung sind sehr vage, jeder, ob von links oder rechts, kann plötzlich ein- und ausladen", verweist sie nochmals auf Florida, auch auf Orbans Ungarn.

Klare Richtlinien seien zu erstellen, kontextabhängig auch von der österreichischen Geschichte, über vorhandene Gesetze gegen Verhetzung und das Verbotsgesetz hinaus. "Hier muss es zunächst für die Wissenschaft klare, politisch nicht instrumentalisierbare Guidelines geben. Sonst könnte eine autoritäre Regierung – und dies wurde schon im 20. Jahrhundert mehrfach durchexerziert – je nach Interessenslage alles Mögliche verbieten."

Soll die AfD verboten werden? Da sei ihre Expertise überschaubar. Aber eine 30-Prozent-Partei zu verbieten, sei nicht einfach. Eher könne man Gesetzesbrechern das passive Wahlrecht aberkennen.

Und wie wappnet man sich bei uns? "Indem man sich überparteilich von der FPÖ abgrenzt und nicht versucht, sie von rechts zu überholen. Das ist sogar in Polen gelungen, warum nicht auch in Österreich?" Das Lueger-Denkmal, fügt sie hinzu, sei ersichtlich und auffällig zu verfremden und dann gut sichtbar zu kontextualisieren. Aber nicht abzutragen.

Jüdische Kindheit in Wien

Jahrgang 1950, jüdisch, aufgewachsen in Wien. Gibt es da noch schmerzende Erinnerungen? Im Gymnasium, sagt Ruth Wodak, sei die Nähe zur Nazizeit noch manifest gewesen. Eine Professorin, vormals Führerin beim Bund Deutscher Mädel, habe gelehrt, nur blonde Kinder mit blauen Augen seien in der Lage, Mathematik zu erfassen. Die Schülerin Wodak sei in der Klasse beliebtes Modell für Stürmer-Karikaturen mit überdimensionalen Nasen gewesen.

»Ein Lehrer sagte mir in den Achtzigerjahren: 'Ich dachte, Juden stinken'«

War das nicht die unter Kindern übliche Grausamkeitsroutine ohne Subtexte? Da holt die Professorin leidenschaftlich aus. "Bei mir ist es jedenfalls nicht so angekommen … Viele Kinder sind so sozialisiert worden. Sie kamen aus bürgerlichen Haushalten im achten Bezirk. Der Alltagsjudenhass geht quer durch Parteien, soziale Schichten und Berufe. Höhere Ausbildung schützt nicht vor Vorurteilen. Auf der Uni ist mir Judenfeindlichkeit weniger begegnet, eher im Alltag", gelangt sie zum quälend Anekdotischen. "Wenn bei einer Einladung jemand primitive antisemitische Witze erzählt und andeutet, dass man ohne Juden gut leben könnte, dann stehe ich auf und gehe. Oder bei der politischen Bildung, die ich in den Achtziger-, Neunzigerjahren für die Lehrerfortbildung gemacht habe: Da versuchte ein Lehrer, mich zu 'beschnuppern', fragte mich nach meinem Parfum und fügte dann hinzu: 'Ich hab immer gedacht, Juden stinken.'" Nicht zu reden von der auch im Buch thematisierten Landplage des Taxifahrers und seinen Erhellungen zu den Themen "Weltverschwörung" und "Rothschilds". "Derartige Verschwörungsnarrative zu sogenannten Krisengewinnern waren auch während der Impfgegner-Demos laut hörbar!"

Und die Migranten?

Es hilft nichts, das Interview ist beim aus Nahost importierten Judenhass eingetroffen. "Lassen wir uns nicht vom rezenten, alteingesessenen Antisemitismus ablenken", bittet Ruth Wodak da schon fast flehentlich. Gewiss: "Es gibt Allianzen zwischen Extremrechten und Islamisten. Natürlich ist die momentane judenfeindliche und israelfeindliche Atmosphäre schrecklich und erschreckend. Die Schändung des jüdischen Friedhofs ist Ausdruck dieser Mobilisierung – aber Friedhofsschändungen sind nicht neu, leider! Manche skandieren allerdings etwas, ohne zu wissen, um welchen 'river' und welche 'sea' es sich handelt, wie ich bei einigen Studierenden feststellen konnte. Andere wollen Israel einfach auslöschen … Bessere Bildung in den Schulen ist gefragt, Lehrkräfte müssen unterstützt werden, Integrationsmaßnahmen vervielfacht werden." Aber gefährlich bleibe der rechtsextreme Judenhass, die schlagenden Verbindungen, Landbauers Liederbuch. "Das erschreckt mich: Denn die FPÖ ist eine Partei, die zur Wahl steht und mit der die ÖVP schon in drei Bundesländern Koalitionen eingegangen ist. Ich war tatsächlich empört, dass Frau Mikl-Leitner nach vielen anders lautenden Ankündigungen mit Herrn Landbauer gemeinsame Sache macht."

In der nächsten Auflage des Buches wird noch viel zu erzählen sein.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 14/2024.

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