Wie grün ist Europa?

Die Klimakrise hält unvermindert an, doch grüne Politik gerät in Europa zunehmend unter Druck. Nationalstaaten kratzen am Green Deal der EU. Menschen verlieren den Glauben daran, dass Klimaziele überhaupt noch erreichbar sind. Eine Bestandsaufnahme.

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Grünes Europa © Bild: iStockphoto

Genf, am Montag der Vorwoche: Der Weltklimarat IPCC präsentiert seinen Schlussbericht über die Klimakrise. Kurz zusammengefasst: Die negativen Auswirkungen des Klimawandels sind bereits eingetreten und werden sich mit jedem weiteren Zehntelgrad Erderwärmung weiter verschärfen. Schon jetzt sind weltweit Ernährungssicherheit und Wasserversorgung beeinträchtigt, Extremwettereignisse nehmen zu. Um das angestrebte 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, sei ein "Quantensprung bei den Klimamaßnahmen" nötig, sagt UN-Generalsekretär Antonio Guterres.

Brüssel, Ende derselben Woche: Beim EU-Gipfel soll es um weitere Hilfen für die Ukraine und Wirtschaftsfragen gehen. Doch die Staats-und Regierungschefs debattieren auch über ein anderes Thema: das in der EU eigentlich schon beschlossene Aus für Neuzulassungen von Autos mit Verbrennermotoren ab 2035. Auf Betreiben des deutschen Kanzlers Olaf Scholz (der wiederum seinem FDP-Verkehrsminister Volker Wissing folgt) und seines österreichischen Kollegen Karl Nehammer wird eine Hintertür für Motoren, die mit E-Fuels betrieben werden, geöffnet. Ausgerechnet zwei jener sechs EU-Länder, in denen die Grünen in der Regierung sitzen, rütteln an einem Leuchtturmprojekt zur Erreichung der europäischen Klimaziele.

Da war doch was: Im Dezember 2019 präsentierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den "Green Deal" für Europa. Dessen Ziel ist es, die Netto-Emissionen von Treibhausgasen bis 2050 auf null zu setzen. Finanzmarktregulierung, Energie, Verkehr, Handel, Industrie sowie Land-und Forstwirtschaft -alle Bereiche sollen dabei mitwirken. Doch immer wieder zeigt sich, es gibt widerstreitende Interessen und es wird lobbyiert. "Eigentlich ist die EU weltweit die Region, die den Klimaschutz vergleichsweise ernst nimmt. Der Green Deal war ein ,man on the moon'-Moment, doch die Rakete ist noch lange nicht dort und rumpelt mittlerweile sehr", sagt der Politikwissenschafter Reinhard Steurer von der Universität für Bodenkultur. "Jedes Jahr gibt es irgendwelche Abstriche: Erst ist die gemeinsame Agrarpolitik wenig grün ausgefallen, dann wurden Gas und Atomkraft in die grüne Taxonomieverordnung aufgenommen, was eine große Fehlentscheidung war, jetzt der Beschluss zu den Verbrennermotoren. Das ist aber keine Überraschung. Es geht dabei um viel. Klar, dass Lobbyisten erfolgreich Gegendruck erzeugen."

Das Pendel schlägt zurück

Der grüne EU-Abgeordnete Thomas Waitz berichtet aus dem politischen Alltag: "Ein Kollege von der ÖVP hat mir zu den Abstimmungen über das Nature Restoration Law und die EU-Pestizidverordnung gesagt: ,Das werden wir jetzt versenken.' Als ich ihn darauf hingewiesen habe, dass er diese Regelungen vor einem halben Jahr sinnvoll gefunden hat... Ja, aber never waste a good crisis. Jetzt nützen wir die Dynamik, um möglichst viel wieder zurückzudrängen', war die Antwort." Man merke, so Waitz, eine Pendelbewegung: "Eine Zeit lang waren praktisch alle Fraktionen zumindest in Sonntagsreden in Richtung mehr Grün unterwegs. Jetzt schlägt das Pendel zurück."

Abseits der Politik halte er das sogar für nachvollziehbar, sagt der Grün-Politiker. "Solang mein Einkommen passt und mein Leben halbwegs funktioniert, solange ich mir ohne Probleme Lebensmittel leisten kann, greife ich schnell mal zu einem biologischen Produkt oder wähle den teureren Stromtarif, der mir erneuerbare Energie liefert. Aber jetzt geht es ans Eingemachte, da sind kurzfristige Versprechen attraktiver. Unsere demokratischen Wahlzyklen sind nicht ganz optimal für Klimapolitik, weil bei dieser der Effekt erst in 20, 30 Jahren sichtbar ist."

Vor Corona, vor dem Ukraine-Krieg, vor der Teuerung war das Momentum auf der Seite der Grünen. Bei der EU-Wahl 2019 zählten sie mit einem Plus von 23 Mandaten -neben Liberalen und Rechtspopulisten -zu den großen Gewinnern. In Deutschland wurden sie sogar die zweitstärkste Fraktion nach der CDU. Derzeit halten die Grünen im Europaparlament 72 Mandate. Rund ein Viertel ihrer Abgeordneten kommt aus Deutschland. Aus gar nicht wenigen EU-Mitgliedstaaten wurden hingegen keine Grünen entsendet. Im Süden und in den meisten ehemals kommunistischen Ländern hat die Partei bisher nicht ausreichend Fuß gefasst.

Der Politikwissenschafter Martin Dolezal forscht an der Uni Graz zu grünen Parteien. Er erklärt die unterschiedliche Verteilung der Wählergunst mit einem Nord-Süd-und einem Nord(west)-Ost-Gefälle in Europa. Grüne Wählerinnen und Wähler seien eher wohlhabend und postmaterialistisch eingestellt und eher im Norden und Westen des Kontinents zu Hause.

Dazu kommt, so Steurer, dass in den ehemals kommunistischen Ländern die Zivilgesellschaft jahrzehntelang unterdrückt worden und daher immer noch schwach ausgeprägt sei. "Grüne Parteien sind oft aus Bürgerbewegungen heraus entstanden. Dieser Nährboden fehlt hier."

Schwierig ist es für neue, kleinere Parteien wie die Grünen in Ländern mit einem Mehrheitswahlsystem wie etwa Großbritannien. Gute Chancen hätten sie hingegen, so Dolezal, in föderalen Systemen -siehe die Regierungsbeteiligungen in Tirol, Vorarlberg, Salzburg, Oberösterreich und Wien -oder eben auf EU-Ebene. "Die Menschen wählen eher eine nicht so etablierte Partei, wenn es für sie nicht so wichtig ist." Als weiteren wichtigen Faktor für grüne Erfolge führt Dolezal die Strategien der großen Parteien ins Treffen: "Wenn diese das Klimathema selbst okkupieren, bleibt weniger Platz für grüne Parteierfolge. Sind hingegen die Grünen in einem Land etabliert, mache es für die anderen Parteien wenig Sinn, ihnen das Thema noch zusätzlich hochzuspielen."

Schwieriges Regieren

In sechs EU-Ländern haben es die Grünen in die Regierungen geschafft: Neben Österreich und Deutschland sind das Finnland, Irland, Belgien und Luxemburg. In Finnland wird dieses Wochenende gewählt. Letzte Umfragen sagen den Grünen ein Minus von drei Prozentpunkten voraus (2019: 11,5 Prozent). Ähnlich ergeht es den Grünen in den anderen Ländern, nur in Deutschland haben sie seit der letzten Wahl an Zustimmung zugelegt. Der Sinkflug liege daran, meinen Dolezal und Steurer, dass Regierungsparteien nach der Corona-Pandemie generell mehr Misstrauen entgegenschlägt. Bei kleineren Partnern kommt meist hinzu, dass es für sie schwieriger ist, ihre Anliegen durchzusetzen.

Grüne Parteien geraten allerdings auf mehreren Ebenen unter Druck. Versuchten große Parteien in früheren Jahren noch, sich in Wahlkämpfen zumindest ein grünes Federl an den Hut zu heften, wollen sie heute Punkte machen, indem sie offensiv gegen Klimathemen und -aktivisten auftreten. Steurer führt das unter anderem darauf zurück, "dass Scheinklimaschutz einfach immer öfter auffliegt. Dieses Sotun-als-Ob, das für Politiker am angenehmsten ist, weil man niemandem weh tut, kommt in Bedrängnis. Die Klimakrise ist in eine Phase gekommen, wo man Ernst machen und Farbe bekennen muss." In Österreich bedeutet das: Die FPÖ zweifelt sowieso schon lange am von Menschen verursachten Klimawandel. "Die ÖVP", so Steurer, "stellt sich nun auch in ein Eck, wo wissenschaftliche Erkenntnisse geleugnet werden und geschwurbelt wird." Und selbst bei der SPÖ, eigentlich der logische Regierungspartner, "wenn man sich eine andere Klimapolitik erwartet, ist unberechenbar, bedenkt man, dass sie womöglich den Lobautunnel zur Koalitionsbedingung erheben könnte."

Das Sinken der Grünen in den Umfragen zeigt aber auch eine Abwendung vieler Bürgerinnen und Bürger vom Öko-Thema, ausgerechnet, wenn die Folgen der Erderwärmung immer stärker spürbar werden. Waitz hat dafür eine Erklärung: "Das hat auch damit zu tun, dass dieses Momentum eines globalen Aufbruchs zerbröselt ist. Wir hatten beim Vertrag von Paris, als man sich auf das 1,5-Grad-Ziel festgelegt hat, den Eindruck von Einigkeit auf diesem Planeten. Mittlerweile hat sich allerdings ein anderer Eindruck durchgesetzt, nämlich, dass die einzigen, die ambitioniert etwas tun und damit Kosten verursachen und Lebensumstellungen von Menschen verlangen, die Europäerinnen und Europäer sind, während andere Kriege führen -militärisch und wirtschaftlich- und auf die Klimakrisenbewältigung kaum Rücksicht nehmen. Da ist viel Vertrauen verloren gegangen, dass wir das global hinbekommen."

Gerade, wenn es um langfristige Lösungen gehe, brauche es das Vertrauen in der Bevölkerung, so Waitz, "sonst entsteht ein gewisser Fatalismus, wo die Leute uns sagen: ,Ist eh schön, dass Sie Probleme lösen wollen, die nicht in Ihrer Macht stehen', während andere den Anschein machen, kurzfristig Probleme zu lösen, mit Ausländerfeindlichkeit oder mit der Wiederherstellung günstiger fossiler Energieversorgung. Solche Konzepte glaubt man im Moment leichter, als dass wir das mit der Klimakrise hinbekommen."

Einsparen und Anpassen

Dabei gehe es bei Klimakonferenzen längst schon nicht mehr nur um die Verringerung von CO2-Emissionen, sondern um Schadensbegrenzung und Anpassung. "Da grenzt es schon an politische Dummheit, gegen alles zu sein. Es geht längst nicht mehr um grüne Ideologie, sondern um wissenschaftliche und wirtschaftliche Fakten." Neben der extremen Rechten treten immer öfter konservative Abgeordnete - sie stellen die stärkste Fraktion im Europaparlament -gegen Klimabeschlüsse auf, so Waitz. "Allerdings finden sie keine Mehrheiten und lernen, wie es ist, Abstimmungen zu verlieren. Im Moment gibt es noch eine progressive Mehrheit im Parlament. Aber schauen wir einmal, wie das nach den nächsten EU-Wahlen ist." Er befürchte, so der Grüne, einen Rechtsruck in Brüssel, "basierend auf Angst. Also sollten wir uns in den Spiegel schauen und fragen: Sind wir fähig, Angebote für die Zukunft zu stellen und den Bürgerinnen und Bürgern konkrete Antworten zu geben? Ja oder nein? Oder sind wir eher damit beschäftigt, uns gegenseitig das Leben schwer und den Tag madig zu machen?"

Die nächste EU-Wahl ist im Mai 2024. Auch in den ost-und südeuropäischen Ländern gebe es nunmehr erstarkende Grünbewegungen, sagt Waitz und hofft auf ein gutes Ergebnis. "Grüne haben da im Allgemeinen bessere Ergebnisse als bei nationalen Wahlen." Das liege einerseits an der Wahlbeteiligung -grün-affine Wählerinnen und Wähler nehmen eher an der EU-Wahl teil. Zudem müsse man nicht "taktisch wählen", weil man -etwa auf nationaler Ebene - eine bestimmte Regierungskonstellation unterstützen oder verhindern möchte. Ein weiterer Punkt für die Grünen: Großparteien veranstalten bei EU-Wahlen keine millionenteure Materialschlacht, kleine Parteien können also zumindest hier mithalten. Und: Während in großen Fraktionen die nationalen Abgeordneten oft sehr unterschiedliche Interessen vertreten, "weiß man bei den Grünen, was man bekommt oder auch, was man nicht bekommt", so Waitz. Bleibt die Frage des Wechselspiels zwischen grünen Parteien und Klimaaktivisten, und wie sich dieses in Wahlkämpfen auswirken wird. Das Verhältnis wird schwieriger. "Nur weil die Richtigen regieren, wird noch nicht richtig regiert", schreibt Luisa Neubauer von Fridays For Future Deutschland in der Zeit. "Eine Massenbewegung wie FFF mit ihren weichen Protestformen war sicher vorteilhaft für die Grünen. Da war es kein Problem, sich dazu zu bekennen", sagt Martin Dolezal, "Bei den Klimaklebern teilt man zwar das Anliegen, es ist aber schwieriger, mit der Form des Protests umzugehen." Ein Großteil der Bevölkerung lehnt diesen laut Umfragen ab. Ob den Grünen das bei Wahlen schaden könnte, sei nicht absehbar.

Reinhard Steurer, der die Klimaaktivisten öffentlich unterstützt, sagt: "Die Klimabewegung hält das Thema am Leben und bringt es in die Medien, wenn es dringendere Themen wie Inflation und Krieg gibt." Die Jugendlichen von FFF sind von vielen Politikern noch vereinnahmt worden. "Das geht mit den radikaleren Protesten nun nicht mehr. Eine entschlossenere Klimabewegung ist dem Klimanotstand durchaus angemessen", sagt Steurer. Zum Vorwurf der Polarisierung meint er, die werde von einer "unangemessenen Klimapolitik" befeuert und die Klimabewegung "nehme nur das vorweg, was ohnehin passieren wird, wenn die Klimakrise weiter eskaliert." Noch versucht die europäische Politik, das mit dem Green Deal zu verhindern. Selbst wenn die EU ihre Ziele für 2030 erreichen sollte, was in Österreich nicht einfach wird, "richtig schwierig wird es danach", sagt Steurer.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 13/2023.