Robert Menasse: "Die EU-Wahl wird eine Katastrophe"

Seine Romane über Europa sind klug, erhellend und spannend wie Actionthriller. Vor der Wahl zum Europäischen Parlament Anfang Juni erkundet Robert Menasse in seinem Essay "Die Welt von morgen" die EU der Zukunft. News traf ihn zum Gespräch.

von Robert Menasse © Bild: News/Matt Observe

Bedrohlich Zeiten für die Europäische Union: Immer mehr Staaten werden von Rechten geführt, Italien, Polen, Ungarn. Der Nationalismus feiert fröhliche Urständ’. Europa rückt immer näher an den Krieg in der Ukraine. Und seit dem Angriff der Hamas auf Israel steigt der Antisemitismus ins Unermessliche.

Kein Grund zur Verzweiflung für Robert Menasse. Der bedeutende österreichische Schriftsteller widmete zehn seiner 69 Lebensjahre der Europäischen Union und kennt das Konstrukt genau. Er lebte in Brüssel, um für seine Roman-Trilogie über die EU zu recherchieren. 2017 erschien Teil eins, "Die Hauptstadt". Meisterhaft, in Balzac’scher Manier erzählt Menasse da die Lebensgeschichten von Menschen, die im Zentrum der EU leben und arbeiten und verwebt sie mit Elementen eines rasanten Action-Thrillers. Teil zwei, "Die Erweiterung", eine Satire auf die Bemühungen Albaniens, der EU beizutreten, und den polnischen Nationalismus verschaffte ihm den Preis für das europäische Buch.

Wenige Wochen vor der Wahl zum Europäischen Parlament am 9. Juni 2024 legt Menasse seinen Essay "Die Welt von morgen. Ein souveränes demokratisches Europa und seine Feinde" vor (ab 15.4. bei Suhrkamp). Im Gespräch schlägt Menasse den Bogen: über die Zukunft der EU, die erstarkte Rechte und die Hilfsmaßnahmen für die Ukraine. Und er skizziert seinen pazifistischen Traum: vom EU-Mitglied Palästina, bevölkert von jüdischen, christlichen und arabischen Bürgern.

Sie schreiben in Ihrem Europa-Essay auch über Perry Rhodan und Superman. Braucht Europa Superhelden?
Es ist naheliegend, dass man sich populärkulturelle Phänomene anschaut, wenn man sich mit dem Wandel von Zeitgeist beschäftigt. Heute ist ja weitgehend vergessen, dass das europäische Einigungsprojekt ursprünglich auf der Idee beruhte, ein nachnationales Europa zu entwickeln. Nachhaltiger Friede sollte durch die Überwindung des Nationalismus und durch die Verflechtung der europäischen Nationalstaaten hergestellt werden, so, dass sie nie wieder miteinander Krieg führen können. Und Perry Rhodan ist der Held einer nachnationalen Welt, es gibt keine Nationen mehr. Dass so ein Held 1961 von jungen Deutschen erfunden werden konnte und diese Hefte einen so großen Erfolg hatten, sagt etwas über die allgemeine Stimmung und die Sehnsüchte dieser Zeit aus. Anders und dem Zeitgeist der 30er-Jahre entsprechend die Figur Superman: erfunden in New York von Söhnen jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland, ist Superman ein mit Superkräften ausgestatteter Beschützer der amerikanischen Nation vor allem Unheil. Superman kam aus dem Weltraum und wurde Held einer Nation, nach dem Krieg kommt Perry Rhodan aus einer nun nachnationalen Welt und bricht in den Weltraum auf. Dass sich Abermillionen Perry-Rhodan-Leser eine Welt vorstellen konnten, in der es keine Nationen mehr gibt, zeigt, dass das allgemeine Bewusstsein damals weiter war als heute. Das europäische Friedensprojekt hat einige erfolgreiche Schritte zur Überwindung des Nationalismus gesetzt, supranationale Institutionen, gemeinsamer Markt, gemeinsame Währung und so weiter, aber heute erleben wir eine massive Renationalisierung in den europäischen Mitgliedstaaten. Man sagt immer, die EU sei ein Elitenprojekt, aber die heutigen Eliten sind fantasieloser als die Millionen Perry-Rhodan-Leser.

Durch die Teilung Deutschlands in die Bundesrepublik und die DDR ist Perry Rhodan aber ziemlich eingefahren, nicht?
Das erste Perry-Rhodan-Heft erschien im Jahr des Mauerbaus. Man kann die Teilung Deutschlands ja auch so sehen: als Zerstörung einer Nation.

Kann man das gutheißen?
Man kann nicht gutheißen, dass in der DDR eine Diktatur errichtet wurde, auch wenn sie sich ideologisch auf Internationalismus berief. Das ist selbstverständlich nicht gut gewesen. Aber ich finde es auch nicht gut, dass dann durch die Wiedervereinigung eine empathische Restaurierung der deutschen Nation stattgefunden hat. Ich hätte es vernünftiger gefunden, wenn die DDR in die EU aufgenommen worden wäre. Das wäre ihre Befreiung gewesen durch den Wegfall der Grenze und durch die gemeinsame Währung, also alles, was sie wollten. Aber damals, mit der Restauration der deutschen Nation, hat die Emphase des deutschen Nationalismus wieder begonnen.

Robert Menasse
© News/Matt Observe
Robert Menasse wurde am 21. Juni 1954 in Wien geboren. Nach dem Studium der Germanistik und der Philosophie in Wien lehrte er als Gastdozent an der Universität von São Paulo, Brasilien, Literatur. Seine Essays über österreichische Innenpolitik und Europa sind bedeutende Analysen der Gegenwart. 2017 erschien der erste Teil seiner Romantrilogie über Europa, „Die Hauptstadt“. 2022 folgte Teil zwei, „Die Erweiterung“. Menasse lebt in Wien und im Waldviertel.

Die deutschen Grünen waren bei ihrer Gründung eine Partei von Pazifisten, jetzt sind sie für Aufrüstung. Was ist da los in Deutschland?
Bitte, ich habe keinen Essay über deutsche Innenpolitik geschrieben. Mir ging es im Wesentlichen darum, die Idee der EU zu verteidigen und den gegenwärtigen Zustand und die inneren unproduktiven Widersprüche der EU zu kritisieren, also um eine kritische Reflexion der noch immer und jetzt erst recht notwendigen europäischen Idee.

Aber es stellt sich jetzt natürlich die Frage, ob das Friedensprojekt EU nicht allmählich ein Kriegsprojekt wird. Ist das nicht so?
Das sehe ich nicht so. Friede muss wehrhaft sein. Das Problem war doch, dass bisher das Friedensprojekt keine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickelt hat, niemand hat das für notwendig erachtet. Es gab zwar die Idee bereits in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre, aber die wurde damals sofort begraben. Vor allem die Franzosen wollten das nicht. Sie wollten sich nicht vorstellen, dass in einer gemeinsamen Armee französische Soldaten möglicherweise von einem deutschen Offizier kommandiert werden. Außerdem gibt es ja die NATO. Was allerdings besser ist, wenn die europäische Verteidigung unter amerikanischem Oberbefehl steht, ist mir nicht schlüssig.

Die Mitgliedstaaten wollten, dass Verteidigungspolitik in nationaler Souveränität bleibt, und das Ergebnis ist ein nicht-souveränes Europa. Bis zum Ukraine-Krieg gab es nur die bedenkliche Perspektive eines NATO-Beitritts der Ukraine, aber nicht einmal den Ansatz einer Diskussion über eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Nicht einmal nach dem Überfall Russlands auf Georgien 2008, und noch immer nicht 2014, nachdem Putin die Krim annektiert hat.

»Die Neutralität ist eine Fiktion, die bewahrt uns vor gar nichts«

Würde uns eine gemeinsame Sicherheitspolitik nicht in etwas hineinziehen, vor dem uns die Neutralität bewahren könnte?
Die Neutralität ist eine Fiktion, die bewahrt uns vor gar nichts. Sie bewahrt uns höchstens davor, ein Minimum von menschlicher Hilfsbereitschaft zu zeigen: Österreich will der Ukraine ja nicht einmal bei der Minenräumung weit hinter der Front helfen. Hineingezogen wird man möglicherweise gerade dann, wenn man sich als völlig wehrlos erweist. Dabei hat Österreich historische Erfahrungen, die zu einer ganz anderen Diskussion heute führen müssten. In Österreich sollte man sich daran erinnern, dass die Worte des Kanzlers 1938, er wolle kein Blutvergießen, weshalb sich Österreich dem Aggressor kampflos ergab, erst recht zu unzähligen Toten geführt haben. Appeasement und Verzicht auf Widerstand schaffen keinen Frieden, sondern macht einen Aggressor nur immer radikaler.

Hätte Österreich eine Chance gehabt?
Das damalige schon von Nazis unterwanderte österreichische Heer hätte wahrscheinlich nicht lange standgehalten. Man weiß aber nicht, ob England und Frankreich nicht zu Hilfe gekommen wären, und ob der Versuch, sich zu wehren, nicht Mut gemacht hätte, einen österreichischen Widerstand aufzubauen.

Sie schreiben in Ihrem Essay, dass der Krieg zum ersten Mal in ihrer Lebenszeit etwas sei, das nicht hinter uns, sondern vor uns liegt. Meinen Sie, dass uns ein Krieg bevorsteht?
Der Krieg in der Ukraine ist vor unserer Haustür. Und wir wissen nicht, wie er weitergeht. Wir haben das vor gar nicht langer Zeit schon einmal erlebt. Beim jugoslawischen Bürgerkrieg. Schon damals hätte klar sein müssen, dass die Europäische Union auch als politische Gemeinschaft eine Entscheidung treffen müsste, wie man in Zukunft mit solchen Situationen umgeht. Man kann sich nicht europäische Union nennen und in einer Krise sagen, jedes Club-Mitglied soll handeln, wie es will. Italien und Deutschland waren in den Jugoslawienkrieg verwickelt. Deutsche Bomber sind von italienischen Stützpunkten aufgestiegen, aber nicht die EU, nur die Mitglieder waren im Krieg involviert. Das war scheinheilig. Man hat sich vor einer europäischen Entscheidung gedrückt. Aber die Europäische Union ist eben auch eine politische Union, und muss als Gemeinschaft politische Entscheidungen treffen, und zwar auch deshalb, weil es anders gar nicht funktionieren kann. Wenn zum Beispiel freiheitliche Populisten – die die geniale Gabe haben, ununterbrochen Unsinn zu reden, zu dem Menschen nicken – behaupten, die EU gehört zurückgestutzt zu einer Wirtschaftsgemeinschaft und darf keine politische Union sein, die die Souveränität Österreichs unterhöhlt, dann sollen mir die Herren Kickl und Vilimsky erklären, wie eine Wirtschaftsgemeinschaft zum Beispiel ohne gemeinsame Wirtschaftspolitik funktionieren soll. Das wäre die blanke Anarchie. Das will der Herr Vilimsky? Ist er dumm oder zynisch? Jede Wirtschaftsgemeinschaft ist sofort auch eine politische, die Frage ist nicht, ob sie Politik machen soll oder nicht, die Frage ist, ob sie politische Entscheidungen treffen kann, sodass die Gemeinschaft funktioniert, oder nicht. Diese Herren verkaufen die Leute für blöd. Umgekehrt muss man aber auch die EU selbst kritisieren, weil sie sich selbst um die Antwort auf solche Fragen drückt. Das produziert eben auch die Krisen, die dazu führen, dass die Menschen misstrauisch werden oder gar die EU ablehnen, weil sie nicht funktioniert. Die politische Feigheit auf EU-Ebene trifft auf die politische Dummheit der EU-Kritiker.

Robert Menasse
© News/Matt Observe

Sollen österreichische Soldaten in der Ukraine zum Einsatz kommen, wenn die EU Bodentruppen ins Kriegsgebiet schickt?
Sie stellen Fragen! Hat die EU Bodentruppen? Macron hat vorgeschlagen, europäische Truppen zu schicken, die es nicht gibt, und liefert nicht einmal Munition, die er vielleicht auch gar nicht hat. Wir sollten nicht über heutige Fiktionen diskutieren, sondern über notwendige konkrete Utopien. Wie kann und soll eine souveräne europäische Sicherheitspolitik ausschauen? Der Ukrainekrieg hat dazu geführt, dass jetzt diese Frage am Tisch liegt.

Sollen wir der Ukraine unbegrenzt Hilfe leisten?
Was heißt unbegrenzt? Wenn man hilft, soll man konsequent helfen. Es gibt gute Gründe dafür, der Ukraine jede nur mögliche Hilfe zukommen zu lassen. Erstens: Wenn jemand überfallen wird, kann man nicht sagen, man sei zwischen Täter und Opfer neutral. Zweitens: Lässt man einen Aggressor gewähren, ermutigt man ihn zu noch mehr Aggression und es gibt immer mehr Opfer, bis man womöglich vor lauter Neutralität selbst eines wird. Drittens: Österreich als Land der Lebenslüge, erstes Opfer der Naziaggression gewesen zu sein, könnte jetzt einiges gutmachen: Anders als wir es gemacht haben, wehrt sich da ein Opfer, statt dem Aggressor zuzujubeln, und wir haben aus der Geschichte gelernt und unterstützen den Widerstand. Das alles bedeutet aber nicht, dass man die Hilfe mit dem Versprechen eines baldigen EU-Beitritts der Ukraine verbinden muss. Der Vorschlag war ein Vorpreschen der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die auch bei jeder Gelegenheit den faschistischen Gruß der Ukraine "Slawa Ukrajini!" in die Mikrophone sagt. Das finde ich sehr problematisch. Wir wissen nicht, wie der Krieg ausgeht. Wir wissen nicht, in welchen Grenzen die Ukraine dann existieren wird, wenn sie überhaupt existieren wird. Wir wissen nicht, wie das politische System im Wiederaufbau sein wird. Es kann sein, dass die Oligarchen frohlockend nach dem Krieg zurückkehren und ihr korruptes System wieder aufbauen. Wir dürfen nicht vergessen, vor dem Krieg war die Ukraine ein unfertiger Staat ohne klare Nationsidee. Das war bei allen bedenklichen Seiten, die dieser Staat hatte, doch sympathisch. Jetzt werden die Heldensagen geschrieben, die aus der Ukraine eine glühende Nation machen. Glühender Nationalismus in der EU ist Gift für die Idee der EU. Man muss helfen, aber dann das Glühen ein bisschen abkühlen lassen.

Was halten Sie vom Vorschlag Sahra Wagenknechts, der Ukraine keine Waffen mehr zu schicken, sondern zu verhandeln?
Meiner bescheidenen Meinung nach kann man mit Putin sowenig verhandeln wie mit der Hamas. Wenn der eine den anderen zur Gänze vernichten will, kann es keinen Kompromiss geben. Lassen wir uns ein bisschen vernichten und dann ist Frieden? Im Ernst? Wie soll das gehen? Die Netanjahu-Regierung ist kriminell, ich glaube, darauf können wir uns einigen. Aber halb Israel demonstriert gegen diese Regierung. Das zeigt, dass Israel die einzige Demokratie in dieser Region ist. Mir ist keine Demonstration von Palästinensern gegen die Hamas bekannt. Wer soll da mit wem verhandeln? Die Opposition in Israel mit der inexistenten Opposition der friedensliebenden Palästinenser? Die sogenannte "Zweistaatenlösung" ist seit dem Jahr 1947 tot, als die Palästinenser gemäß der UNO-Resolution einen eigenen Staat haben konnten, ihn aber abgelehnt hatten, weil sie keinen Staat wollten, wenn es auch einen Judenstaat gibt. Wer heute noch von der "Zweistaatenlösung" quatscht, hat zwei Dinge nicht verstanden: die Geschichte und die Gegenwart. Es gibt nur eine Lösung. Wir werden sie nicht erleben, aber irgendwann werden die Enkel von völlig erschöpften Konfliktparteien sie durchsetzen: ein Palästina, in dem Juden, Araber und Christen zusammenleben, in einer säkularen demokratischen Republik, und jetzt werde ich radikal utopisch: die Mitglied der Europäischen Union ist. Der Judenstaat ist ein Problem, das in Europa produziert und dann nach Palästina exportiert wurde. Das gehört nach Europa zurückgeholt. Nennt mich Spinner. Ich nenne mich Träumer einer Welt ohne all die Phrasen, die noch nie ein Problem gelöst haben.

Buchcover „Die Welt von morgen“
© beigestellt

Das Buch
Erhellend, eloquent, klarsichtig: Robert Menasses Essay "Die Welt von morgen. Ein souveränes Europa – und seine Feinde"*, Ab 15. 4. bei Suhrkamp, € 24,90


Kehren wir zur EU zurück.
Ja bitte. Ich will ja nicht eitel wirken, aber ich dachte, es soll in diesem Interview um den Europa-Essay gehen, den ich gerade veröffentlicht habe.

Reden wir über den Rechtspopulismus. Während der Schüssel-Haider-Regierung hat man gegen Österreich Sanktionen verhängt und sogenannte Weise geschickt. Jetzt sind in so vielen Staaten Rechte in der Regierung. Warum unternimmt die EU nichts gegen Meloni, Orban und all die anderen?
Österreich hat ihnen das Tor geöffnet. Es gab natürlich gute Gründe, warum die Europäische Union damals besorgt war, als eine rechtsextreme populistische Partei mit einem vollkommen unkalkulierbaren Führer, in einer Koalition mit einem eitlen politischen Zyniker, in einem Mitgliedsland, in Österreich, in die Regierung gekommen ist. Aber das Problem war: Es gab keine Kriterien, es gab kein verbindliches Regelwerk, wie man das sanktionieren konnte. Und da hat man erkannt, wenn man so mit Sanktionen weitermacht, ohne dass es dafür einen Rechtsrahmen gibt, wird das zur reinen Willkür. Das heißt, eine sehr problematische Regierung wird auf sehr willkürliche Art gemaßregelt. Das kann nicht dem europäischen Rechtszustand entsprechen. Deswegen kam es dann zu dieser scheinheiligen Halblösung. Man schickt die zwölf Weisen, die weisen alles zurück, darum sind sie die Weisen, die Zurückweisen. Und danach hat niemand gesagt, das darf uns in Zukunft nicht mehr passieren. Niemand in der EU sagte, wir brauchen Kriterien, wie wir mit rechten, rechtsextremen, neofaschistischen, radikalpopulistischen Regierungen innerhalb unseres Klubs umgehen. Sie waren nur noch froh, dass sie sich aus ihrer zwar berechtigten, aber willkürlichen, also sehr problematischen Spontanaktion irgendwie herausgewurstelt haben. Danach wollte niemand dieses Thema mehr anrühren, es war einfach peinlich. Und so hatte man wieder kein Regelwerk zur Hand, als in Polen, Ungarn oder Italien Regierungen gebildet wurden, die europäisches Recht brechen. Österreich war der Türöffner, und ich fürchte, dass durch diese Tür die nächste problematische österreichische Regierung eintreten und auf die EU eintreten wird.

So schnell kann man gar nicht schauen, und schon ist ganz Europa rechts. Was dann?
Es ist nichts dagegen zu sagen, dass es rechte Parteien gibt, eine funktionierende Demokratie braucht zumindest eine bürgerliche Partei, die bei Sinnen ist. Das Problem ist nur, wenn zivilisatorische Errungenschaften und demokratische Prinzipien abgebaut werden, wenn man Grundwerte aushebelt, und wenn die unabhängige Justiz oder die Pressefreiheit infrage gestellt werden, oder soziale Errungenschaften wie das Abtreibungsrecht – und wenn man das dann rechts nennt. Das ist nicht rechts in einem demokratischen Spektrum, sondern antidemokratischer Extremismus. Wir müssen uns endlich mit diesem Problem auseinandersetzen, dass die Demokratie die einzige von allen denkbaren politischen Organisationsformen ist, die auch ihre Feinde an ihrer Brust nährt. Das heißt, dass nicht alles, was in einer Demokratie politisch Zustimmung bekommt und gewählt wird, im Sinne einer Demokratie legitim ist. Ich weiß nicht, wie man das FPÖ-Wählern klar machen kann, aber es muss immer wieder gesagt werden.

Im Moment sagen alle Politiker nur, was sie aufgrund von Meinungsumfragen glauben, was die Leute hören wollen.
Na ja, nicht alle. Aber bleiben wir bei der Verwechslung von bürgerlich und rechts. Es gab ÖVP-Politiker, die man wirklich respektieren konnte, auch wenn man diese Partei gar nicht gewählt hat. Neisser, Mock, Busek, Riegler, Fischler, Mitterlehner, Karas, eine Zeit lang sogar Khol, bevor er zum Vater der Wahrheit wurde. Sie hatten nichts Verächtliches, sie waren keine geistlosen Zyniker. Okay, Khol wurde einer, aber es waren Politiker, die man bei allen weltanschaulichen Differenzen anerkennen konnte. Aber heute? Diese Figuren, die mir Blasmusik als Grundlage meiner Identität und anderen als Voraussetzung für Zugehörigkeit vorschreiben wollen, und alles tun, um den Rechtsextremismus und freiheitlichen Faschismus salon- und mehrheitsfähig zu machen – sie sind so verächtlich, dass es kein Adjektiv für sie gibt, das publizierbar ist. Aber bitte, reden wir nicht länger über die Niederungen der österreichischen Innenpolitik.

Ihr Europas-Essay erweckt den Eindruck, man sollte das EU-Projekt auf Reset setzen und neu starten. Warum gibt es keine gemeinsamen Listen bei der EU-Wahl?
Das habe ich in meinem Essay doch beschrieben. Fragen Sie den Nächstbesten, was Demokratie ist! Wie muss sie organisiert sein, worin erweist sie sich? Sie werden erstaunt sein, wie er dann stammeln wird. Jetzt werden wir eine europäische Volksvertretung wählen, also ein supranationales Parlament, das Gemeinschaftsrecht entwickeln soll. Aber wir können es nur auf der Basis von nationalen Listen. Finde den Fehler! Aber da haben wir noch gar nicht das Grundproblem. Was ist Demokratie? Wir können es national nicht beantworten, brauchen jetzt aber eine nachnationale, eine europäische Demokratie. In den 27 Mitgliedstaaten der EU haben wir 27 verschiedene Systeme von Demokratie. Was ist jetzt Demokratie? Und das ist die große Herausforderung, die den allerwenigsten bewusst ist: Wir müssen, wenn wir wirklich ein demokratisches Europa wollen, 27 nationale Demokratiesysteme in einem gemeinsamen demokratischen System aufheben.

Besteht da nicht die Gefahr, dass nationaler Widerstand dazu führt, dass wir in eine Demokratie à la Orban geraten?
Es gibt immer Gefahren, aber man kann nicht sagen, deshalb führen wir keine Diskussion. Jetzt kann man sagen, dass die nächste Wahl eine Katastrophe wird und zwar aus drei Gründen. Erstens, weil Ursula von der Leyen verlängert wird. Sie ist eine Marionette der Nationalstaaten. Als Kommissionspräsidentin hätte sie die Aufgabe, europäische Gemeinschaftspolitik zu entwickeln und Widerstand zu leisten gegen die Blockaden der Nationalstaaten. Aber als Präsidentin von der Nationalstaaten Gnaden kann sie das natürlich nicht. Das einzige, was sie einigermaßen zustande gebracht hat, war der Green Deal. Aber den ist sie sofort bereit zu verraten, wenn sie dafür in ihrem Amt verlängert wird. Da haben Sie die ganze europäische Tragödie. Gemeinwohl ist der Abschreibposten, wenn es um die Karriere einer Zynikerin geht. Das zweite Desaster dieser Wahl wird die Stärkung der Rechtspopulisten und Neofaschisten im Europäischen Parlament. Das heißt, wir werden die nächsten Jahre in Europa eine europäische Volksvertretung haben, in der ein gutes Drittel der Abgeordneten nur drinnen sitzt, um die europäische Demokratie zu zerstören, statt sie weiterzuentwickeln. Die dritte Katastrophe nach dieser Wahl wird sein, dass aufgrund der extremen Rechtsbewegung in verschiedenen europäischen Nationalstaaten jeder dieser Nationalstaaten einen Nationalisten als Kommissar nominieren wird. Das wiederum heißt, wir stehen vor der Destruktion der europäischen Kommission und des europäischen Parlaments. Die Europäische Union wird nach dieser Wahl die größte Krise seit ihrer Gründung haben, weil es keinen größeren Widerspruch geben kann als jenen zwischen der europäischen Idee und einem machtvollen, gnadenlosen Nationalismus.

Heißt das, dass die EU gescheitert ist?
Noch nicht. Aber ihr Scheitern ist möglich. Allerdings gab es schon Krisen in der EG und in der EU, die eine bedrohliche Dramatik hatten, und da gab es jedesmal im letzten Moment doch Zugeständnisse der Mitgliedstaaten, um den Zusammenbruch zu vermeiden. Und diese Zugeständnisse, bloß aus Angst vor dem Ende, waren die Momente, die wir rückblickend Fortschritt nennen.

Unter den zuvor genannten Parteien ist die FPÖ dabei, nehme ich an?
Ich hörte unlängst ein Interview mit Vilimsky und bin ehrlich erstaunt über dessen Genialität, den größtmöglichen Unsinn so zu formulieren, dass eine beträchtliche Zahl der Population dazu nickt. Sie kennen doch diese Wackeldackel, die manche hinten in den Autos haben. Egal, wie sie fahren, sie nicken immer! Vilimsky macht aus halb Österreich eine Nation von Wackeldackeln. Man kann die Abstimmungsergebnisse im EU-Parlament abonnieren. Da habe ich gesehen, dass die FPÖ-Abgeordneten immer grundsätzlich gegen alles stimmen, auch gegen Dinge, die im Interesse ihrer eigenen Wähler wären, und zwar aus einem einfachen Grund, weil sie nicht akzeptieren können, dass europäisches Recht über dem nationalen Recht steht. Das heißt, sie stimmen dagegen, sogar wenn das europäische Recht einen Vorteil für die eigenen Wähler brächte. Das wissen aber ihre Wähler nicht. Die hören immer nur, dass Vilimsky österreichische Interessen verteidigt. Er sollte doch einmal erklären, was die exklusiven Interessen der Österreicher sind, und kein anderer Mensch in Europa oder gar der Welt kann diese Interessen haben. Was soll das sein? Mir fällt nichts ein. Man muss schon ein ziemlich rassistischer Trottel sein, um zu glauben, dass etwas, das ich gut für mich finde, anderen Menschen verwehrt werden müsse. Ich glaube, dass man den 30 Prozent FPÖ-Wählern das durchaus erklären könnte, so dass die FPÖ dann bei drei Prozent Nazis landet. Aber solange die ÖVP ihnen unausgesetzt recht gibt, wird die FPÖ wachsen. Und am Ende wird es zu einer Liebesheirat kommen: zwischen einer Nazi-Partei, die sich "Österreich zuerst" zu einer austrofaschistischen Partei geläutert hat und einer bürgerlichen Partei, die sich ihrer Wurzeln als austrofaschistische Partei besinnt. Die Freiheitlichen wissen, was sie tun. Gott vergib den Christdemokraten, denn sie wissen nicht, was sie tun. Oder doch? Ich lese immer wieder, dass die ÖVP doch nie und nimmer den Juniorpartner eines FP-Kanzlers machen würde. Wie ahnungslos können Leitartikler sein? Die ÖVP hat in den letzten Jahrzehnten viel mehr Erfahrung damit, den Vizekanzler zu stellen, als den Kanzler. Gib der VP vier wichtige Ministerien, Finanzen, Wirtschaft, Außen, Soziales, und es ist der ÖVP egal, wer unter ihr Kanzler ist. Und Kickl wird das Mantra "Keine Koalition mit der Kickl-FP" (als gäbe es eine andere) getreulich bedienen, und nicht den Vizekanzler geben. Kickl wird sich zurückziehen und bei der Präsidentschaftswahl kandidieren.

Er spekuliert darauf, diese Wahl zu gewinnen. Und dann hat er das verfassungsmäßige Recht, die Regierung aufzulösen, und eine "Expertenregierung" einzusetzen, bestehend aus freiheitlichen "Experten". Und die Idioten, die Opfer, die Ressentiment-Bürger werden noch zu dieser Aushebelung der Demokratie jubeln: Ja, super, Expertenregierung! Aber Sie sehen, ich bin kein guter Hellseher, weil ich sehe schwarz.

Lassen Sie uns noch über dieses zutiefst schreckliche Thema Antisemitismus sprechen. Was sagen Sie dazu, dass der derzeit so stark von den Linken zu spüren ist?
Der Antisemitismus zeigt meines meiner Meinung nach grundsätzlich, dass es eigentlich ein tiefes Bedürfnis der Menschen nach Sozialismus gibt.

»Offenbar muss ein Volk von Juden unterdrückt sein, damit es der Solidarität würdig ist«

Meinen Sie eine Sehnsucht nach Nationalsozialismus?
Der Antisemitismus ist der Sozialismus des dummen Kerls. Und der linke Antisemitismus hat mich nicht überrascht, den kenne ich seit den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts, als jeder in Solidarität mit den unterdrückten Völkern der Welt ein Palästinensertuch getragen hat. Es ist seltsam, sie wollen sich gut fühlen in ihrer Solidarität mit den Unterdrückten, aber das einzige unterdrückte Volk, das sie kennen, sind die sogenannten Palästinenser. Sie demonstriere nicht für die Uiguren, oder für die Kurden. Offenbar muss ein Volk von Juden unterdrückt sein, damit es der Solidarität für würdig befunden wird.

Aber haben Sie nicht Angst vor dem wachsenden Antisemitismus?
Er wächst nicht. Er zeigt sich nur deutlicher. Aber mich langweilt diese Frage. Ich weiß wirklich nicht, ob es mehr Antisemitismus gibt, oder mehr Diskussionen darüber, wer Antisemit ist oder was Antisemitismus ist. Andere Frage bitte.

Halten Sie einen dritten Weltkrieg für möglich?
Was einmal war, ist immer möglich. Also auch ein Weltkrieg. Aber die EU bezeichnet sich als Friedensprojekt, und das ist die Grundlage europäischer Politik. Man kann jetzt natürlich darüber diskutieren, wo die EU das bewiesen bzw. bei diesem Anspruch versagt hat. Aber damit sind wir beim Ausgangspunkt unseres Gesprächs: Nehmen wir die Idee der EU ernst, oder nicht. Ich habe einen Essay geschrieben, der nicht mehr als dies wollte: eine Diskussion darüber, was die EU, die in all unser Leben hineinwirkt, sein kann und sein soll. Es ist kein Manifest, und keine Utopie. Es ist der Vorschlag, die Einladung zu einem Gespräch. Wir sind jetzt in unserem Gespräch ziemlich abgeglitten, aber die Einladung bleibt: Diskutieren wir endlich sachlich darüber, was und wie die EU vernünftigerweise sein kann oder gar soll.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 15/2024.

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