"Es ist nicht klar, ob 14-Jährige bruchrechnen können"

Österreich sonnt sich im Glanz des Physik-Nobelpreises an Anton Zeilinger. Dabei läuft viel schief im Schulsystem. Michael Eichmair, Professor für Mathematik an der Universitär Wien, kritisiert die Unaufrichtigkeit der Politik: "Wenn man die Probleme nicht offen benennt, kann man sich schlecht dagegen aufstellen".

von Michael Eichmair © Bild: News/Matt Observe

Die Reaktionen auf die Physik-Nobelpreis-Vergabe an Anton Zeilinger waren freundlich, aber ein bisschen verhalten. Bei einem Literatur-Nobelpreis wäre es viel mehr rundgegangen. Teilen Sie diesen Eindruck?
Ich freue mich sehr für Anton Zeilinger und bin froh, dass die Reaktionen auf die Würdigung seiner bahnbrechenden Beiträge zur Quantenphysik durch den Nobelpreis einhellig positiv ausfallen. Selbstverständlich ist das ja leider nicht. Elfriede Jelinek und Peter Handke waren beide augenblicklich mit bissigen Anfeindungen konfrontiert, als sie mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet wurden. Das war sehr befremdlich für mich. Der Physik-Nobelpreis an Anton Zeilinger ist jedenfalls ein toller Ansporn. Er zeigt, was in Österreich in der Wissenschaft alles möglich ist. Die Frage, ob ich in Österreich weniger lernen würde als anderswo, hat mich als junger Student sehr umgetrieben.

Die Angst, dass das Bildungssystem in Österreich zu schlecht ist?
Ich hatte eine Klasse übersprungen und war wirklich unbedarft, als ich in Linz zu studieren begonnen habe. In der Hauptbibliothek gab es ein breites Regal mit Büchern nur über Mathematik. Ich dachte, sehr naiv, ich würde dort jetzt eine Seite nach der anderen lesen und dann Mathematiker sein. Nach ein paar Wochen hat mir ein Professor die Fachbibliothek Mathematik gezeigt. Ich war bis dahin ja der Meinung, dieses Regal in der Hauptbibliothek mit seinen Restbeständen, wäre die große weite Welt der Mathematik. Ich konnte mein Glück gar nicht fassen. Mein Professor hat mir auch eine Mappe mit alten Prüfungen aus Cambridge in die Hand gedrückt, die wirklich knifflig waren. Das hat mich sehr herausgefordert, ich musste mich wirklich anstrengen. Ein paar Monate später habe ich dann gemerkt, dass ich einem Missverständnis erlegen war. Was ich für den Stoff der ersten beiden Studienjahre in Cambridge gehalten hatte, war in Wirklichkeit der Stoff von drei Jahren. Rückblickend hat mich dieses Missverständnis weit nach vorne geworfen.

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Sie haben Ihren PhD in Stanford gemacht, waren am MIT und an der ETH Zürich tätig. Mit nur 32 Jahren wurden Sie Professor für Globale Analysis und Differentialgeometrie an der Universität Wien. Kann man sagen, Sie haben Ihren Weg nicht wegen, sondern trotz des österreichischen Bildungssystems gemacht?
Ich muss sagen, dass ich an der Schule ein paar schwierige Sachen erlebt habe, die mich ziemlich verstört haben. Man spricht nicht gerne darüber, was niemandem hilft. Aber in vielen Fächern hatte ich großartigen Unterricht, nicht nur in Mathematik. Davon habe ich auch im Ausland viel gezehrt, ich denke gerne daran zurück und bin sehr dankbar.

Und später, an der Universität?
Ich habe sehr gerne in Linz und dann in London studiert, meine Professoren haben sich sehr um mich gekümmert und ich habe viel von ihnen gelernt. Danach habe ich in Stanford das Doktorat gemacht. Das waren wirklich tolle Bedingungen. Es ist ein schwieriger Vergleich, aber das haben wir in Österreich so nicht. Da sind wir schon abgehängt.

Über solche Dinge spricht man in Österreich nicht gerne.
Eine Sache, die in diesem ganzen Kontext fehlt, ist Aufrichtigkeit. Wir können uns einreden, dass wir überall mithalten können, aber das geht halt oft an der Realität vorbei.

Aufrichtigkeit von wem?
Politische Verantwortungsträger in Österreich versuchen, sich Sachen schöner zu reden, als sie tatsächlich sind. Ein wirklich positives Beispiel in diesem Zusammenhang ist aber das IST Austria, das überhaupt keinen Vergleich zu scheuen braucht. Eine Sache, die dort wirklich gut und für Österreich eher ungewöhnlich gelaufen ist, ist, dass man sich nicht von bestehenden Strukturen abhängig gemacht, sondern neu begonnen hat.

In welchen Bereichen erleben Sie diese Unaufrichtigkeit die Sie angesprochen haben noch?
Wir reden jetzt zum Beispiel viel über die Lehramtsausbildung und den Mangel an qualifizierten Lehrern. Es ist für mich ganz klar, dass wir nicht ein wenig, sondern weit unter dem tatsächlichen Bedarf ausbilden. Viele Studierende unterrichten schon als Bachelor, ich glaube, das ist viel zu früh. Das ist schon alarmierend. Ich fände es gut, wenn wir darüber offen sprechen würden. Wenn man diese Probleme nicht offen benennt, kann man sich schlecht dagegen aufstellen.

Ein anderes Problem, mit dem Sie sich seit Jahren beschäftigen, ist der Übergang von den Schulen an die Hochschulen. Was läuft da schief?
In den letzten Jahren haben an meiner Fakultät pro Jahr circa 300 Studierende das Bachelor of Science-Studium in Mathematik aufgenommen. Abgeschlossen haben im Mittel 50. Das ist keine untypische Bilanz im MINT-Bereich. Gut ist sie nicht, und ich finde, dass man hier genauer hinsehen muss. Ich kümmere mich mit meinem Projekt MmF ("Mathematik macht Freude") schon einige Jahre um den Vorkurs an der Universität Wien für Studienanfänger in den mathematikintensiven Fächern.

Es ist erschreckend, was teilweise fehlt. Wir strengen uns sehr an, beim Aufholen von Defiziten zu helfen. Auch wenn viele viel aufholen, ist es nicht klar, ob das reichen wird. Viele Studienanfänger resignieren gleich zu Beginn. Mein Eindruck ist, dass viele davon durchaus das Talent und den Fleiß haben, das es braucht, um im Studium zu reüssieren. Wir konfrontieren sie von Beginn an mit Erwartungen, die sich zwar mit dem Lehrplan an den Schulen decken, von denen sie aber in Wirklichkeit meilenweit entfernt sind. Das ist bitter und ungerecht.

Michael Eichmair
© News/Matt Observe Michael Eichmair, Professor für Mathematik an der Universitär Wie
Michael Eichmair
Der Oberösterreicher (*1983) studierte in Linz, London und den USA, war an mehreren international renommierten Universitäten tätig und ist seit März 2015 Professor für Globale Analysis und Differentialgeometrie an der Fakultät für Mathematik der Universität Wien. Eine Beratungsgruppe zur Neupositionierung des Mathematikunterrichts an Österreichs Schulen, deren Sprecher Eichmair ist, ruht seit 1. Jänner 2022.

Warum lernen die Kinder und Jugendlichen nicht genug in den Schulen?
Was meiner Meinung nach wirklich schief gegangen ist, ist die Zentralmatura in Mathematik. Die war in dieser Form auch sicher nicht der Wunsch der Lehrerinnen und Lehrer oder der Hochschulen. Es wird damit ein recht eigenwilliges Bild von Mathematik geschaffen, das natürlich stark auf den Unterricht wirkt. Ich finde das sehr schwierig. Es ist sicher richtig, dass das Fach Mathematik in Österreichs Schulen die größten Probleme verursacht.

Ich wünsche mir das natürlich ganz anders. Ich habe den Eindruck, dass man die Jugendlichen spätestens dann, wenn sie studieren wollen, auflaufen lässt. Die Erwartungen, die wir an Studienanfänger stellen, sind im internationalen Vergleich nicht überzogen und meines Erachtens schon deutlich geringer als zum Beispiel in Deutschland oder der Schweiz. Wir wissen in Österreich auch nicht, was Schülerinnen und Schüler am Ende der Sekundarstufe 1 tatsächlich können und es fehlt offenbar da auch der Mut, das ordentlich zu erheben. Es ist nicht klar, ob 14-Jährige bruchrechnen können. Es ist auch nicht klar, ob sie durch eine einstellige Zahl schriftlich dividieren können.

Das lernt man in der Volksschule.
Ja.

Der frühere Bildungsminister Heinz Faßmann hatte Sie damit beauftragt, sich Gedanken darüber zu machen, wie man den Mathematik-Unterricht in Österreich neu positionieren könnte. Das war nach der Zentralmatura 2020, als besonders viele Schüler durchgefallen sind. Seit Faßmanns Abgang ruht die Arbeitsgruppe aber.
Ich hatte ein halbes Jahr davor eine rundum kritische Stellungnahme über diesen Termin abgegeben, in dem ich auch darauf hingewiesen habe, dass die Aufgaben nicht hinreichend validiert wurden. Es ist wirklich heikel, so eine Prüfung richtig einzustellen. Das Ministerium hat dann nichts weiter unternommen und es ist ausgegangen, wie es zu erwarten war. Danach hat mich Heinz Faßmann gebeten, mich der Sache anzunehmen. Das war zu einem Zeitpunkt, als schon die Stimmen lauter wurden, Mathematik zu einem Wahlfach zu machen.

Also weiter reduzieren, anstatt an der Qualität des Unterrichts zu arbeiten.
Das fällt wieder in den Bereich der Aufrichtigkeit. Man kann darüber nachdenken, die Latte immer tiefer zu legen. Das sollte man aber sehenden Auges tun. Schließlich steht dann der allgemeine Hochschulzugang auf dem Spiel. Dann heißt es: Wir machen überall Aufnahmeprüfungen, wie ja jetzt schon in Medizin oder Psychologie. Ja, und wer wird sich die Vorbereitung darauf leisten können? Ich hänge sehr am allgemeinen Hochschulzugang. Ich wünsche mir, dass man mit einer österreichischen Matura z. B. in Deutschland an einer Universität ohne größere Auflagen studieren kann. Die österreichische Mathematik-Matura ...

... ist jetzt schon Untergrenze und sollte lieber nicht weiter an Niveau verlieren, wenn ich Sie richtig verstehe?
Im Vergleich mit vielen anderen Ländern ist das sicher so. Eine Sache, die Österreich anders gemacht hat, als alle anderen Bildungssysteme, die ich kenne, ist, dass man im Mathematikunterricht alles auf die Karte Technologie gesetzt hat. Bei der schriftlichen Reifeprüfung kann der Laptop bei allen Teilen offen sein. Man kann zwar nicht googeln, aber alle Mathematikprogramme verwenden, die auch im Unterricht verwendet worden sind. Diese Programme sind mittlerweile sehr raffiniert und passen sich standardisierten Prüfungen immer besser an. Das Problem ist, dass jedes Hilfsmittel die Kompetenz verändert, die man eigentlich prüft.

Der Anteil der klassischen mathematischen Kompetenzen, die auf dem Prüfstand stehen, ist schon sehr gering. Die, die fest daran glauben, dass das der richtige Weg ist, argumentieren, dass die Schulen mit dem uneingeschränkten Technologieeinsatz einen Schritt in die Zukunft gemacht haben, und die Hochschulen jetzt nachziehen müssen. In dieser Vision erfüllt dann die Technologie die Rolle einer Prothese für die humane Kognition.

Warum sehen Sie das kritisch?
Eine Prothese hat man ja eigentlich dann, wenn man etwas Eigenes verliert und durch etwas Künstliches ersetzt. Ich habe selbst kein Musikinstrument gelernt, aber ich kann mir mit CDs oder Spotify Musik machen. Aber es ist natürlich etwas anderes, selbst ein Stück Musik auf dem Klavier zu spielen.

»Wenn man dieses exakte Denken aufgibt, wird alles diffus. Davor habe ich große Angst«

Die Abwertung von Mathematik gefährdet also mittelfristig gesehen den Hochschulzugang, meinen Sie. Wohin führt diese Entwicklung, weiter gedacht, noch?
Wir sprechen jetzt sehr viel über Wissenschaftsskepsis in Österreich. Ich glaube, dass viele Leute unterschätzen, was sie eigentlich aus ihrem Mathematikunterricht mitgenommen haben. Mathematik ist die einzige exakte Wissenschaft im Fächerkanon. Wenn man dieses exakte Denken aufgibt, wird alles diffus. Davor habe ich große Angst, auch gesellschaftlich. Die Diskussion über den Mathematikunterricht bricht leider immer wieder von Neuem auf. Ich habe vorhin über Aufrichtigkeit gesprochen. Man hat in Österreich in diesem Zusammenhang die große Sehnsucht nach einfachen Lösungen für schwierige Probleme. Nach dem Motto, wann ist das jetzt endlich vorbei mit der Mathematik, jedes Jahr wieder diese Probleme. Es gibt unangenehme Fragen, denen man sich nie wirklich gestellt hat. Und solange man sich nicht aufrichtig damit auseinandersetzt und glaubwürdige Antworten gibt, grüßen sie eben jährlich wieder.

Das Problem der Wissenschaftsskepsis war in den letzten Jahren ein großes Thema. Das Verständnis dafür, dass es Dinge gibt, die man verstehen und nachweisen kann, dass exakte Aussagen möglich sind und nicht alles Meinung ist, löst sich immer mehr auf.
Ganz charakteristisch für die Mathematik ist der Beweis. Beweise kommen in der Schule praktisch nicht mehr vor. Wenn gar nichts mehr bewiesen wird, dann bedeutet das, dass alles für bare Münze genommen werden muss. Das macht mir Sorgen. Ich glaube, dass für unsere Gesellschaft sehr viel gewonnen wäre, wenn alle aus ihrem Mathematikunterricht zumindest einen Beweis bei sich behalten, den sie auch anderen erklären können. Das kann etwas ganz Bescheidenes sein, aber ein Beweis. Viele Leute fühlen sich von Mathematik überwältigt, als wäre es etwas ganz Fremdes, das einem aufgedrängt wurde, das sie gar nicht verstehen können. Aber Mathematik kann man, anders als viele andere Bereiche des Lebens, von Grund auf verstehen. In dieser Einsicht sehe ich eine ganz wichtige Rolle von Mathematik in unserer Gesellschaft. Mathematik ist sehr zuverlässig.

Kommen wir noch einmal auf Zeilinger und den Physik-Nobelpreis zurück. Ohne Mathematik auch keine Physik, oder?
Also die mathematischen Anforderungen im Physikstudium sind drakonisch und zu Beginn noch deutlich höher, als bei uns. Ich habe mir da auch schon manchmal gedacht, dass wir uns das in Stanford oder am MIT nicht getraut hätten. Die Anforderungen kommen aber nicht von ungefähr. Zeilinger sagt ja auch, die Sprache der Quantenphysik ist die Mathematik.

Es wäre also wichtig, sich um diesen Bereich zu kümmern.
Es gibt eine große Erhebung aus Deutschland, wonach 80 Prozent aller Studierenden in Deutschland in Fächern studieren, bei denen Mathematik zu Beginn ein Nadelöhr ist. Fast 50 Prozent belegen Studien, in denen besonders viel Mathematik vorkommt, wie in den MINT-Fächern oder den Wirtschaftswissenschaften. Das sind also nicht irgendwelche Randgruppen. Ich könnte jetzt sagen, ich bin Forschungsmathematiker, mir ist das alles egal. Warum überhaupt in solche Diskurse eintreten?

Ja, warum?
Lehre macht mir selbst sehr große Freude. Ich habe mir oft gedacht, dass ich selbst viel Glück auf meinem Bildungsweg hatte, gerade in Mathematik, und dass ich dafür auch etwas schuldig bin. Meine Mutter ist bei der Rettung, mein Onkel bei der Feuerwehr. Ich bin in einem Dorf mit 300 Einwohnern groß geworden und überschlage hin und wieder, wie viele Tage dort Steuern gezahlt werden müssen, um mein Privileg in der Grundlagenforschung an der Universität Wien zu finanzieren. Ich möchte etwas leisten, das unmittelbar in die Gesellschaft wirkt, und nicht mit irgendeinem Pallawatsch daherkommen.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 41/2022 erschienen.