Hypochondrie: Auslöser, Diagnose, Symptome & Therapie [Experteninterview]

Eine übermäßige Beschäftigung mit der Angst, an einer schwerwiegenden Erkrankung leiden zu können, nennt man Hypochondrie. Eine Heilung ist schwierig. Was sind die typischen Symptome und wie kann man Betroffenen helfen und als Angehörige:r mit Hypochondern umgehen? Der klinische und Gesundheitspsychologe Johannes Lanzinger gibt Auskunft.

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Hypochondrie © Bild: iStockphoto

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Was ist Hypochondrie?

Johannes Lanzinger: Eine übermäßige Beschäftigung mit der Angst, an einer schwerwiegenden Erkrankung leiden zu können.

Typische Symptome: Woran erkennt man Hypochondrie?

Zum einen erkennt man es natürlich an den Symptomen: Hat man keine starken Symptome (der Krankheit vor der man sich fürchtet), sondern drückt es nur ein bisschen und man leidet eigentlich nicht daran, sondern unter der Angst. Das ist ein wichtiger Faktor, den aufzuklären gilt: Unter was leidet man eigentlich?

Ein weiteres Anzeichen ist natürlich, wenn etwa mehrere Ärzte bestätigen, dass da absolut nichts ist - aber man glaubt es trotzdem nicht.

Haben Hypochonder tatsächliche Krankheitssymptome? Oder bilden sie sich diese nur ein?

Ein bisschen beides. Es gilt das Konzept der Hypervigilanz (Vigilanz = Aufmerksamkeit und hyper = über). Das heißt, Hypochonder achten sehr stark auf Körpersymptome. Hat ein Hypochonder etwa Angst, Darmkrebs zu haben, tastet er meist ständig seinen Bauch ab – und spürt natürlich auch Dinge. Jeder Mensch hat gewisse Missempfindungen, denn wir sind keine Maschinen, es ist immer irgendwo ein bisschen was, aber wenn man etwa den Bauch nicht ständig kontrolliert, wird man diese Dinge nicht bemerken.

Durch diese übermäßige Konzentration darauf, fallen dem Hypochonder somit mehr Dinge auf. Obendrauf kommt noch Stress, denn Angst ist unweigerlich mit Stress verbunden. Und eine körperliche Stressreaktion hat oft sehr starke Symptome. Man spürt etwa, dass das Herz schneller oder unregelmäßig klopft oder der Stress wirkt sich auf die Magen-Darm-Tätigkeit aus, das heißt, man bekommt vielleicht tatsächlich ein bisschen Stechen im Bauch. Durch diese Stressreaktion entstehen dann Symptome, die jemand, der keine Angst hat, gar nicht kennt und spürt. Das heißt, je mehr ich mich mit dem Thema beschäftige, desto kleinere Sachen fallen mir auf und desto mehr reagiert mein Körper mit Stress - und desto mehr spüre ich auch.

Ist Hypochondrie eine Krankheit?

Ja, Hypochondrie ist eine Krankheit. Es nennt sich hypochondrische Störung und gehört zu den somatoformen Störungen.

Wer stellt die Diagnose?

Klassischerweise zählt Hypochondrie zu den psychischen Störungen und deswegen stellt ein Psychiater, ein Neurologe, ein Psychotherapeut oder ein klinischer Psychologe die Diagnose. Eine Verdachtsdiagnose stellt aber der Hausarzt – und der verweist dann an einen Facharzt.

Fürchten sich Hypochonder vor einer bestimmten Krankheit oder prinzipiell davor, krank zu werden?

Es gibt verschiedene Ausprägungen. Hält man sich genau an die Definition der hypochondrischen Störung, weist der oder die Betroffene eine oder zwei spezifische Krankheitsängste auf. Zum Beispiel Darmkrebs und Herzinfarkt oder so. In der Praxis sehe ich aber unterschiedliche Dinge. Es gibt diese Klassiker, wo es eine Krankheit ist – und da ist es oft der Krebs – aber auch es gibt auch andere Fälle.

Wieso haben Hypochonder oft Angst vor Krebs?

Ich glaube, weil man bei Krebs noch nicht zu hundert Prozent versteht, was das eigentlich ist und wie man sich davor schützen kann. Damit ist so eine Diagnose sehr unvorhersehbar. Man kann sie vielleicht gut behandeln, es kann aber auch schwierig sein...es ist einfach sehr diffus.

Gehen Hypochonder vermehrt zum Arzt oder fürchten Sie sich davor?

Es gibt beides. Der typische Hypochondrie-Patient geht in intensiven Zeiten mehrmals die Woche zum Arzt, es kann aber auch genau anders herum sein. Also es kann auch eine Angst vor Ärzten oder vor allem was mit dem Kontext Krankheit zu tun hat, geben, so dass man gar nicht mehr hingeht.

Auslöser und Ursachen

Hypochondrie tritt meistens zum ersten Mal im jungen Erwachsenenalter auf und es gibt bestimmte Risikofaktoren: genetische Komponenten oder auch, wenn man schon eine Erkrankung hatte (wenn man etwa schon Krebs hatte, achtet man natürlich öfter auf Symptome und bekommt vielleicht schnell Angst – irrationale Angst).

Oft ist es auch eine Mischung aus Stress und möglichen unguten körperlichen Erfahrungen, die zu körperlichen Reaktionen führen, die man nicht so gut einschätzen kann und die Angst hervorrufen. Eine Rolle spielt natürlich auch, wie sehr man seinen Ärzten vertraut.
Es gibt aber nicht eine Ursache. Wie bei vielen psychischen Erkrankungen kommen da immer mehrere Dinge zusammen.

Wollen Betroffene Hypochondrie oftmals nicht wahrhaben?

Unterschiedlich. Ich denke, die meisten Hypochondrie-Patienten, die das schon länger haben, wissen es. Sie können durchaus rational darüber sprechen. Nur wenn die Angst kommt, funktioniert diese Ratio nicht mehr so richtig.

Es gibt aber unterschiedliche Stärken der Ängste. Eine wirkliche hypochondrische Störung haben wahrscheinlich ein bis drei Prozent der Bevölkerung aber es gibt natürlich viele Menschen mit übertriebenen Krankheitsängsten, die jedoch nicht die Kriterien der Störung erfüllen. Bei diesen sollte man Hypochondrie nicht in den Mund nehmen, weil es sehr schnell abwertend klingt. Auch da ist es hilfreich, geduldig zu sein und zu versuchen, den rationalen Part zu übernehmen. Man sollte sich als Angehörige/r nicht zum Komplizen der Krankheit machen.

Hilfe

Die erste Anlaufstelle ist der Hausarzt, der erst einmal beruhigen kann, indem er versichert, dass das Symptom untersucht wurde und nicht dramatisch ist. Vielen Hypochondern reicht das auch, wenn da jemand ist, der einen versteht, der geduldig ist und einem nicht das Gefühl gibt, verrückt zu sein.

Hilft das nicht, gibt es natürlich die Möglichkeit der Behandlung und da hat sich die kognitive Verhaltenstherapie als ganz wirksam erwiesen.

Wie funktioniert die Therapie?

Diese besteht aus verschiedenen Behandlungsschritten, die man chronologisch durchläuft:
Am Anfang betrachtet man auf rationaler Ebene, was Hypochondrie ist. Man nennt das Psychoedukation, dass Patienten verstehen, worunter sie eigentlich leiden. Dinge wie Hypervigilanz werden erklärt und man lernt einzuschätzen, welche Symptome eigentlich normal sind.

In einem zweiten Schritt lernt man Entspannungsübungen, um den Stress aktiv zu reduzieren. Damit man bei Symptomen nicht alles überprüft/abtastet, sondern sich selbst bewusst macht, dass gerade die Hypochondrie und die Angst das Problem sind und keine körperliche Erkrankung. Mit den Übungen versucht man, aus dieser Angst wieder raus zu kommen ohne zum Arzt zu gehen oder den Körper zu untersuchen. Man lernt, die Angst auszuhalten und wieder Selbstbewusstsein zu bekommen.

»Was wir als Therapeuten wollen, ist, dass sie sich wirklich ausführlich mit dem Thema beschäftigen«

Mit Konfrontation kann man es schlussendlich auf die Spitze treiben. Dabei konfrontiert man sich absichtlich mit seinen Ängsten, indem man etwa einfach so zum Arzt, ins Krankenhaus oder auf einen Friedhof geht. Oder man liest einen Artikel über Krebs, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Denn bei Hypochondrie ist es oft so, dass sich die Betroffenen zwar sehr mit dem Thema auseinandersetzen aber nur oberflächlich. Sie denken es nicht zu Ende. Sie lesen etwas, checken die Symptome im Internet, glauben dies oder jenes zu haben und hören damit auf zu recherchieren. Was wir als Therapeuten wollen, ist, dass sie sich wirklich ausführlich mit dem Thema beschäftigen, es realistisch anschauen und zu Ende lesen. Um das ganze fassbarer zu machen und dabei auch zu merken: Ich schaff das.

Ist eine hypochondrische Störung heilbar?

Es gibt natürlich Patienten, die das hinkriegen aber es ist schwierig. Was Psychotherapie leisten kann, ist, dass man lernt, damit umzugehen und einen die Symptomatik nicht mehr belastend einschränkt. Aber meine Erfahrung zeigt, dass jemand, der an Hypochondrie leidet, immer sensibler sein wird.

Wie können Angehörige damit umgehen?

Wichtig und gleichzeitig das schwierigste ist, dass man geduldig bleibt. Obwohl man vielleicht jeden Tag gebeten wird, etwas zu tasten, zu prüfen, ist es wichtig, dass man die Person trotzdem ernst nimmt, sie nicht lächerlich macht, dass man betont, sich etwas gerne anzuschauen, aber dabei auch immer wieder darauf hinweist, dass die Hypochondrie das Problem ist.

» Je diffuser Ängste sind und je mehr man sie vermeidet, desto stärker sind sie. «

Wenn Hypochonder tatsächlich krank werden

Das kommt darauf an. Eine Grippe macht nicht so viel, weil Grippe hat mit Krebs zum Beispiel nichts zu tun. Hat aber jemand eben Angst vor Krebs und bekommt Krebs – was übrigens nicht so oft auftritt – ist die Erfahrung, dass zu dem Zeitpunkt, wenn die Diagnose da ist und damit alles konkret ist, die Angst tatsächlich weniger ist. Dann weiß man, worum es geht und man kann sich überlegen, wie man damit umgeht. Das ist eine generelle Regel bei Ängsten: Je diffuser sie sind und je mehr man sie vermeidet, desto stärker sind sie. Deswegen ist Konfrontation so wichtig. Denn wenn man weiß, was los ist, kann man damit umgehen.

Gibt es Überschneidungen zu anderen Krankheiten?

Depressionen und Angststörungen sind die häufigsten Komorbiditäten. Depression liegt bei 50 Prozent, das heißt, wenn jemand unter einer hypochondrischen Störung leidet, dann hat er mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit auch eine Depression und bei Angststörungen sind es 30 Prozent.

Wer ist besonders von Hypochondrie betroffen?

Es sind ca. ein bis drei Prozent der Bevölkerung betroffen, dabei aber keine bestimmten Gruppen. Zwischen Männern und Frauen ist es gleichverteilt. Hypochondrie tritt erstmals im jungen Erwachsenenalter auf und dann bleibt die Störung relativ hartnäckig. Also gibt es sowohl viele junge als auch ältere Patienten.

Corona-Pandemie und Hypochondrie

Wie wirkt sich eine Pandemie wie Corona auf Hypochondrie aus? Das was wir bemerkt haben, ist sehr unterschiedlich. Es gibt Patienten, die leiden mehr darunter, bei denen verstärken sich die Symptome, etwa beim Sicherheitsverhalten, also bei Zwängen wie etwa dem ständigen Händewaschen. Diese nehmen schon zu in Zeiten wie diesen.

Ich habe aber auch einige Patienten, die sagen: Es ändert sich nicht viel für mich. Ich hatte davor keine Angst vor einem Virus sondern vor Krebs und ich habe immer noch Angst vor Krebs.
Viele sagen: „Endlich erleben andere auch einmal, was ich mein ganzes Leben lang erlebe.“ Die finden das sogar amüsant, dass der Partner, der sonst ganz cool ist, plötzlich auch starke Ängste hat.

Aber natürlich ist es für alle eine Belastungssituation und psychische Probleme, die davor schon da waren, werden dadurch natürlich oft verstärkt.

Johannes Lanzinger ist klinischer Gesundheitspsychologe bei Phobie-Zentrum Phobius in Wien.