Tatort Schule: Wie brutal
geht es wirklich zu?

Hat die Gewalt tatsächlich zugenommen? Und was kann getan werden? Lehrer, Experten und Schüler geben Auskunft.

Tatort Schule. Hört man die Freiheitliche Partei Erziehungscamps und Sicherheitsdetektoren in unseren Schulen fordern, zeichnet dies ein düsteres Bild. Doch hat die Gewalt an Österreichs Schulen tatsächlich so stark zugenommen? In welcher Form tritt Gewalt dort am häufigsten auf? Und welche Gegenmaßnahmen wären sinnvoll? Das beantworten Schüler, Lehrer und Experten.

von Gewalt in der Schule © Bild: iStockphoto/chameleonseye

847 Anzeigen wurden im Schuljahr 2017/18 wegen Gewalttaten an Österreichs Schulen registriert. Eine Zahl, die weder überrascht, noch repräsentativ für das wirkliche Ausmaß zu sein scheint. „Ich gehe davon aus, dass es noch viel mehr Fälle gibt, die erst gar nicht zur Anzeige gebracht werden, denn für eine Anzeige muss die Eskalationsstufe schon sehr hoch sein“, sagt Schüler und Bundesschulsprecher Timo Steyer zu News.at. Auch Christiane Spiel, Universitätsprofessorin für Bildungspsychologie der Universität Wien, stimmt dem Schüler hier zu. Diese Zahlen seien nur der Spitze des Eisbergs, so die Bildungsexpertin.

Österreich im negativen Spitzenfeld

Tatsächlich liege Österreich bei allen Erhebungen der WHO (HBSC-Studien) der letzten Jahre zu diesem Thema im negativen Spitzenfeld, was den Prozentsatz an TäterInnen und Opfern betrifft, erklärt Spiel gegenüber News.at. Der Großteil der Schülerschaft sei bereits in Kontakt mit Gewalt in der Schule gekommen, habe auch eine Umfrage der Bundesschülervertretung ergeben, bestätigt auch Steyer diesen Trend.

»Gewalt war ganz normal, so wie woanders Jause zu essen«

Doch hat diese Gewalt in den heimischen Bildungseinrichtungen tatsächlich zugenommen? Oder war die Gewaltbereitschaft immer schon hoch? „Die Sensibilität und die Aufmerksamkeit zum Thema hat sich geändert“ wodurch sich die Anzeigenbereitschaft eben erhöht habe, erklärt Spiel. Eine tatsächliche Steigerung kann auch die Lehrerin Viktoria Hausmann (Name von der Redaktion geändert, die Lehrerin möchte anonym bleiben ) in den bislang 20 Jahren ihrer Lehrtätigkeit nicht erkennen. Vielmehr sei die –durchaus hohe - Gewaltbereitschaft immer schon da gewesen. „Die Kinder waren damals schon sehr gewaltbereit und auch den Lehrern gegenüber unmöglich“, erzählt Hausmann von ihren ersten Dienstjahren in einer – damals noch – Hauptschule in Wien-Floridsdorf. Auch in einer neuen Mittelschule, einer sogenannten „Brennpunktschule“, in Wien-Favoriten, an der sie danach unterrichtete, sei Gewalt an der Tagesordnung gestanden. „Das war ganz normal, so wie woanders Jause zu essen“, berichtet sie. Bestimmt jede Woche habe die Rettung kommen müssen, sei es wegen Verletzungen im Turnunterricht, Mädchen, die sich die Kopftücher vom Kopf gerissen haben oder Prügeleien vor der Schule.

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Unterschiedliche Ursachen

Es waren harte Jahre für Hausmann in denen sie viel Energie reingesteckt habe bis es ihr schlussendlich zu viel wurde: „Ich konnte einfach nicht mehr.“ Jetzt unterrichtet sie in einer Neuen Mittelschule in Niederösterreich, in der näheren Umgebung Wiens. Und das Bild sei hier ein komplett anderes, erzählt die Lehrerein. Schlägereien gäbe es so gut wie nie, die Kinder aus Migrantenfamilien, die in der städtischen Schule mehrheitlich für Gewalt verantwortlich gewesen seien (wohl auch, weil es anteilsmäßig viel mehr gab), seien am Land viel besser integriert. Sind österreichische Kinder also weniger gewaltbereit? Nein, widerspricht Hausmann dieser Annahme. Die Ursachen für Gewaltausbrüche lägen allerdings woanders. Liegt Gewalttätigkeiten unter Einwanderer-Kindern meist die „verletzte Ehre“ zugrunde, so gehen die Gemüter unter österreichischen Burschen eher beim Sport, wie etwa einem verlorenen Fußballspiel hoch, berichtet die Pädagogin. Für beide gleich sind jedoch schlechte Schulleistungen oftmals ein Auslöser. „Sie können sich dann oft nur durch Gewalt wehren oder in den Mittelpunkt stellen“, so Hausmann.

„Nummer eins ist klar die verbale Gewalt“

Keine Unterschiede ob der Herkunft sieht die Lehrerin auch bei der Form der Gewalt, die ausgeübt wird: „Nummer eins ist klar die verbale Gewalt“, ist sie sich sicher. Auch Bildungsexpertin Spiel stimmt der Lehrerin hier zu: „Verbale Gewalt, das heißt, Beschimpfen, Bedrohen, verbal niedermachen“ komme am häufigsten vor, weiß sie aus eigenen Erhebungen.

Neue Form des Cybermobbings

Zugenommen habe jedoch eine besondere Form der Gewalt, nämlich das Cybermobbing, also „interpersonelle Gewalt unter Verwendung neuer Medien“ wie etwa das Verschicken gemeiner, bedrohender SMS, Mobbing in sozialen Medien oder das Posten peinlicher Fotos ins Internet, erklärt Spiel. Davon – in Kombination mit physischer Gewalt – kann auch Hausmann berichten und erzählt von dem Fall eines etwa 13-jährigen Jungen, der bei einem Schulausflug nach Schönbrunn von einer Gruppe Mitschüler verprügelt wurde. Dabei wurde er auch gefilmt – und das Video dann im Internet verbreitet.

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Konsequenzen nicht zielführend

Grausame Fälle wie dieser seien natürlich eher die Ausnahme, aber dennoch bekämen Lehrer auch weniger schlimme Mobbingfälle als diesen oft erst mit, wenn es schon zu spät sei, so Hausmann. Schüler würden selten bis nie LehrerInnen aufsuchen, um einen Vorfall zu melden oder um selbst Hilfe zu suchen, so Hausmann. Deshalb wird in der Regel erst dann reagiert, wenn etwas passiert ist – eben oft zu spät. „Die Schläger wurden für zehn Tage suspendiert, das war es“, erzählt die Lehrerin. Gebracht habe diese Strafe jedoch nichts: „Sie führen sich immer noch so auf wie damals.“ Konsequenzen – egal welcher Art - seien bei solchen Schülern generell nicht zielführend, erklärt die Lehrerin.

»Wir wollen ja nicht nur das Verhalten, sondern auch die Einstellung nachhaltig ändern«

Gewaltprävention statt Konsequenzen

Das bestätigt auch die Theorie von Bildungswissenschaftlerin Spiel, dass in Bezug auf Gewalt viel früher angesetzt werden müsse, nämlich präventiv. „Wir wollen ja nicht nur das Verhalten, sondern auch die Einstellung nachhaltig ändern“, so Spiel. Nachhaltige Gewaltprävention erfordere allerdings, dass die ganze Schule mitmache, dass Schulleitung und Lehrkörper dahinter stehen und sich auf Maßnahmen einigen, die dann konsequent umgesetzt werden mit der Botschaft „Wir dulden keine Gewalt“.

Christiane Spiel
© Christiane Spiel Bildungsexpertin Christiane Spiel: "Leider fühlen sich noch immer zu viele Lehrpersonen als EinkelkämpferInnen

Ganze Schule muss mitmachen

Das sogenannte WiSK-Programm (Wiener Sozialkompetenz Training), das Spiel mit Kollegen im Rahmen der Nationalen Strategie zur Gewaltprävention mitentwickelt hat, zielt genau auf diese Prävention ab. Nimmt eine Schule an dem Programm teil, werden auf Schulebene Regeln für ein positives Miteinander erarbeitet, Informationen für LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern erstellt sowie Vorgehensweisen im Falle von Gewalt an der Schule entwickelt. Auf Klassenebene wird durch Rollenspielen zum Beispiel an der Perspektivenübernahme insbesondere mit den Opfern gearbeitet.

»Flächendeckender Einsatz eines Präventionsprogramms? "In Österreich undenkbar"«

Im flächendeckenden Einsatz sind Programme wie dieses jedoch bei weitem nicht. „Ich fürchte, das hat viel mit der Kultur in Österreich zu tun“, so Spiel. „In Finnland, wo eine Kollegin ein ähnliches Programm entwickelt hat (mit viel mehr Geldmitteln als wir in Österreich), haben nach drei Jahren 80% aller Schulen daran teilgenommen. So etwas wäre in Österreich undenkbar.“

"Zu viele Lehrerpersonen fühlen sich als EinzelkämpferInnen"

Eine Voraussetzung für eine derartige gesamtschulische Gewaltprävention sei zudem, dass sich die LehrerInnen als Team verstehen. Auch das sei in Österreich kaum der Fall. „Leider fühlen sich noch immer zu viele Lehrpersonen als EinzelkämpferInnen“ sagt die Expertin und findet wiederum von Hausmann Bestätigung aus der Praxis: Sogar von der Direktorin gäbe es wenig bis kaum Unterstützung, im Gegenteil, seien die Handlungen dieser eher inkonsequent.

»In fast 90 Prozent sind MitschülerInnen Zeugen, greifen aber nur in cirka 20 Prozent ein. Wird jedoch eingegriffen, können fast 60 Prozent der Vorfälle sofort beendet werden.«

Bullying betrifft immer ganze Gruppe

Doch nicht nur Lehrer, auch Schüler sind immer Teil einer Gruppe, darum sei es auch wichtig zu sehen, so Spiel, dass Bullying ein Gruppenphänomen ist, bei dem nicht nur ein einzelner Schüler, sondern jedes einzelne Gruppenmitglied beteiligt sei: „In fast 90 Prozent sind MitschülerInnen Zeugen, greifen aber nur in cirka 20 Prozent ein. Wird jedoch eingegriffen, können fast 60 Prozent der Vorfälle sofort beendet werden.“ Eine Tendenz in diese Richtung will Timo Steyer bereits jetzt erkennen: „Meiner Meinung nach geht der Trend eher in die Richtung, dass sich SchülerInnen füreinander einsetzen.“ Durch Peer-Mediation (eine pädagogische Methode, bei der Schüler Konflikte selbst lösen) würden die Schüler auch noch das richtige „Wie“ in diesem Zusammenhang lernen.

Zu wenige SozialarbeiterInnen

Überhaupt ist das etwas, was sich der Schulsprecher vermehrt wünscht: „Projekte wie Buddy Systeme oder Peer Mediation müssen unbedingt gefördert werden“ sowie es auch dringend mehr Supportpersonal in Form von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern sowie schulpsychologischer Betreuung brauche. Genau dieses Supportpersonal sei, so Hausmann, während ihrer Lehrzeit in Wien nicht einmal ansatzweise vorhanden gewesen. Und auch jetzt gäbe es gerade einmal eine Sozialarbeiterin für die ganze Schule. Ja, der notwendige Einsatz von SchulpsychologInnen und SozialarbeiterInnen sei „zahlenmäßig im Gegensatz zu anderen Ländern sehr gering“ , bestätigt auch Spiel eines der vielen Probleme auf diesem Feld.

»Das sind in Wahrheit nicht gesehene Kinder.«

Prävention, Lehrergemeinschaft, Peer-Programme, Sozialarbeiter. Das sind also die Dinge, die sich Lehrer, Schüler und Experten wünschen zur Gewalteindämmung an Österreichs Schulen. Und wie beurteilen sie die Vorschläge der Wiener FPÖ wie etwa Erziehungscamps für Problemschüler, Gefängnisbesuche mit diesen bzw. härtere Sanktionen? „Meiner Meinung nach ist es kontraproduktiv, auffällige Schülerinnen und Schüler in eigene Camps zu stecken oder durch andere Maßnahmen zu bestrafen.“ winkt Steyer ab und auch Viktoria Hausmann kann nur den Kopf schütteln: „Nein! Kinder brauchen nur Aufmerksamkeit und Liebe. Die, die so sind, wollen nur gesehen werden. Das sind in Wahrheit nicht gesehene Kinder.“

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Weiterführende Links und Informationen:

- Das WiSK-Programm

- Faustlos ist ein Programm zur Prävention von Gewalt an Schulen. Ziel des Programms ist neben dem Unterlassen von körperlicher Gewalt auch auf verbaler Ebene fair miteinander umzugehen.

- Samara ist ein Verein zur Prävention (sexualisierter) Gewalt und bietet zum Beispiel Gewealtspräventionsworkshops für Kinder und Jugendliche sowie auch für PädagogInnen oder Informationsabende für Eltern an

- No Blame Approach (wörtlich "Ansatz ohne Schuldzuweisung") setzt darauf, trotz der schwerwiegenden Mobbing-Problematik auf Schuldzuweisungen und Bestrafungen zu verzichten und Mobbing unter Schülerinnen und Schülern zeitnah und nachhaltig zu beenden. Die Vereinigung bietet Fort-, Aus- und Weiterbildungen sowie Beratung und Unterstützung an.

- Der Verein für Schulmediation hilft bei der Lösung von Konflikten in Schulen und ist profesionelle Mediation durch langjährig erfahrene Mediatorinnen und Mediatoren mit Grundberufen aus sozialen, pädagogischen und juristischen Bereichen.