Cybermobbing: "Das
Smartphone ist eine Waffe"

Joel wurde nur 13 Jahre alt. Cybermobbing ist schuld an seinem Tod. Die jugendliche Hannah* hingegen ist der digitalen Schikane mit einem blauen Auge entkommen. Beide Geschichten machen deutlich, wie Kinder mit dem Internet zu kämpfen haben und wie wenig Eltern darüber wissen.

von Ausgegrenzt - Cybermobbing: "Das
Smartphone ist eine Waffe" © Bild: iStockPhoto.com

Ich habe fünf Brüder, und einer davon ist ein Engel." Diesen Satz musste Michaela Horn ihrer jüngsten Tochter früh beibringen. Die sechsfache Mutter sitzt News mit Tränen gegenüber, als sie erklärt, warum: "Sie war erst ein Jahr alt, als sich ihr Bruder Joel das Leben nahm. Wie sollte ich ihr das sonst erklären?" Joel selbst war damals gerade einmal 13. Er spielte Fußball im Verein, hörte gerne Rap-Musik und war ein fröhlicher Bub. Er galt als guter Zuhörer, besonders einfühlsam und hilfsbereit.

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"Vielleicht wurde ihm genau das zum Verhängnis", sagt seine Mutter. Doch sie kann nur erahnen, was in ihrem Sohn tatsächlich vorging. Er habe davon gesprochen, dass er Markenklamotten haben wollte, dass ihn einige Mitschüler gehänselt hätten, weil er etwas molliger war, aber nichts, was sonst prägnant gewesen wäre, und nichts, was darauf hingewiesen hätte, wie verzweifelt Joel innerlich gewesen ist. "Erst drei Wochen nach seinem Tod haben wir erfahren, was er alles aushalten musste."

Dauerbeschuss in Echtzeit

Das ist acht Jahre her. Inzwischen hat sich wenig geändert, klagt Michaela. Im Gegenteil: "Es ist schlimmer geworden. Es ist ein wesentlich größeres Spektrum möglich. Mobbing ist gesellschaftsfähig geworden." Mobbing oder Bullying, also das systematische Schikanieren, Ausgrenzen, Fertigmachen, Quälen, Piesacken oder Verletzen einer Person, erlangte in den vergangenen 20 Jahren nicht nur durch die Namensgebung Aufmerksamkeit, sondern hat sich im Besonderen durch den technischen Fortschritt neu erfunden. Als "Cybermobbing", also internetgestütztes Mobbing, erreicht es nämlich eine ganz neue, vielfach unterschätzte Dimension.

Erst vergangene Woche hat sich eine elfjährige Schülerin in Berlin-Reinickendorf das Leben genommen. Mobbingfälle an dieser Schule sollen bekannt gewesen sein. Geschehen sei nichts -die Schule habe die Fälle heruntergespielt, heißt es. Dabei sollte jeder Fall sehr ernst genommen werden, sagt die klinische Psychologin Ursula Gottweis. "Im Gegensatz zu klassischem Mobbing ist Cybermobbing unabhängig von Zeit und Ort. Das heißt, es kann immer und überall, 24 Stunden am Tag laufen, das Opfer kann sich einfach nicht zurückziehen. Früher hat das Mobbing aufgehört, wenn das Kind von der Schule nach Hause kam. Diesen Schutzraum gibt es heute nicht mehr. Und das ist unglaublich belastend", sagt Gottweis.

Mit der Möglichkeit zum Dauerbeschuss in Echtzeit erreichen die Sprüche vom Schulhof nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich ein ganz neues Niveau: Geschriebene oder Sprach-Nachrichten, Fotos oder Videos können in sozialen Medien wie Facebook, Snapchat, Whatsspp, Instagram oder Youtube ins unermessliche geteilt, vervielfältigt, verändert, verunstaltet und vor allem bis auf unbestimmte Zeit gespeichert werden. Dadurch war es noch nie schneller und einfacher, aber auch noch nie nachhaltiger, jemanden fertigzumachen, als heute. "Wir vermuten dass Joel an jenem Abend verstanden hat, was das alles bedeutet, wer das alles sehen kann und dass man das womöglich nie wieder wegkriegt", sagt Michaela Horn.

Unterschätztes Problem

Laut einem Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aus 2015 weist Österreich mit 21,3 Prozent eine fast doppelt so hohe Mobbingrate an Schulen auf wie der Durchschnitt der 27 EU-Mitgliedsländer. Auch in einer PISA-Studie zum Thema Mobbing liegt Österreich über dem OECD-Durchschnitt. Flächendeckende Zahlen zu reinem Cybermobbing in Österreich fehlen weitgehend.

Doch Online-und Offlinemobbing gehen meist Hand in Hand, weiß Manuela Smertnik, pädagogische Bereichsleiterin der Wiener Jugendzentren: "Das Offlinemobbing geht online als Cybermobbing weiter. Meist geht dem Ganzen ein realer Streit oder eine reale Beleidigung voraus, die dann online weiter ausgetragen wird und dort eine ganz andere Qualität erreicht."

Das gehe vom Ausschluss aus Whatsapp-Gruppen über anonymisierte Beschimpfungen, die von Fake-Profilen gesendet werden, bis hin zu Erpressung mit schlüpfrigen oder peinlichen Fotos sowie Videos, in denen die Täter ihre Opfer zwingen, erniedrigende Dinge zu tun, um sie danach mit möglichst vielen Kontakten zu teilen. Warum tun Kinder und Jugendliche so etwas?"Wir leben in einer Zeit, in der jeder der Coolste, Schönste oder Tollste sein will. Das macht Druck. Ein Weg, sich selbst zu stärken, ist, andere schlechter darzustellen", sagt Psychologin Gottweis.

Daher seien die Betroffenen oft jene, die in den Augen der Täter ein leichtes Ziel darstellen. "Es trifft oft Kinder, die vielleicht etwas anders aussehen, sich ein bisschen schwerer tun, vielleicht etwas dicker sind, etwas anderes anziehen oder anders sprechen." Aus einer Studie des deutschen Bündnis gegen Cybermobbing geht hervor, dass knapp 13 Prozent aller deutschen Schüler zwischen zehn und 21 Jahren -jeder achte Befragte -unter Cybermobbing leiden. Bei einer durchschnittlichen Klasse von 24 Kindern wären das drei pro Klasse. Ursula Gottweis schockieren diese Zahlen aus dem Nachbarland nicht, denn sie weiß: "Es spielt sich wirklich in allen Klassen in Österreich ab, beginnend bei der Volkschule. Cybermobbing ist Standardthema."

Digitaler Tsunami

Auch Hannah* musste den Psychoterror selbst erleben. Die 14-Jährige grinst breit über den Bildschirmhintergrund am Smartphone ihrer Mutter Sibylle*. Sie hat feuerrote Haare, hunderte Sommersprossen auf der Nase und ein kugelrundes Gesicht mit Grübchen -Grund genug für ihre Mitschüler, sie seit der ersten Klasse im Gymnasium zu schikanieren. "Es war die Empfehlung der Lehrerschaft, eine Klassengruppe auf Whatsapp zu gründen, in der sich die Kinder über Hausaufgaben austauschen sollten", erinnert sich Sibylle, "aber natürlich wurde da alles andere besprochen."

Unter anderem Hannahs Aussehen. "Warum mischt sich die fette Sau schon wieder ein?","die Blade läuft eh gleich wieder rot an." Wäre das unter zwei oder drei Kindern passiert, wäre es vielleicht noch zum Aushalten gewesen, meint die Mutter: "Wenn aber 28 Kinder an einer Kommunikation teilhaben, die nicht für alle gedacht ist und die alle herausgefordert, in irgendeiner Weise zu kommentieren, multipliziert sich natürlich der Gruppendruck immens."

Für Hannah bedeutete das zunächst Stress. 980 ungelesene Nachrichten auf Whatsapp waren keine Seltenheit. Das Ganze hat sich zum Abend hin aufgebaut und vor dem Schlafengehen zugespitzt. Dann sei bei ihr der Druck da gewesen, sich zu erklären, etwas gerade oder in Ordnung bringen zu müssen. Schlafstörungen und durchweinte Nächte waren die Folge. Den Höhepunkt der Hänseleien bildete die Verunstaltung von Hannahs Whatsapp-Profilbild. "Da hat dann die Tsunami-Welle erst begonnen."

Die Mitschüler stachelten sich gegenseitig an, die Hemmschwelle wurde immer tiefer -typisch für Cybermobbing, sagt Psychologin Gottweis: "Die Täter fühlen sich in sozialen Medien sicherer, weil sie etwas nicht von Angesicht zu Angesicht sagen müssen. Sie können ungeniert ihren Gemeinheiten, Beschimpfungen und Abwertungen freien Lauf lassen."

Mächtiges Medium

Für Hannah führten die Nachrichten so weit, dass sie gesagt hat, sie möchte nicht mehr leben. "An den Kindern merkt man erst, wie stark dieses Medium ist, wie schwer sie sich tun, damit umzugehen. Da können nicht einmal Erwachsene widerstehen, geschweige denn zehnjährige Kinder", sagt Sibylle.

Das Internet stellt für Kinder und Jugendliche eine Gratwanderung zwischen Zwang und Glück dar: Fast 70 Prozent der Jugendlichen stimmen in einer aktuellen Studie des deutschen Instituts für Vertrauen und Sicherheit im Internet (DIVSI) zu, dass sie die Onlinewelt glücklich mache, obwohl 64 Prozent das Gefühl haben, im Internet Zeit zu verschwenden. Dazu, wie Kinder diesen Spagat und den verantwortungsvollen Umgang mit dem Internet meistern sollen, gibt es in Österreich unterschiedliche Meinungen. Viele Eltern finden, die Schule sollte diese Verantwortung übernehmen.

Die Lehrer hingegen sehen es nicht als ihre Aufgabe, zusätzlich Medienkompetenz zu unterrichten. Oft fehlen schlicht die Kapazitäten. Im heurigen Schuljahr wurde in österreichischen Schulen erstmals eine verpflichtende Maßnahme eingeführt. Den Schulen ist dabei selbst überlassen, wie sie das Paket "Digitale Grundbildung" lehren. Überprüfen tut dies bisher niemand. Im Bundesministerium kann man wohl auch deshalb nicht beantworten, wie zufrieden man mit der Umsetzung des Programms ist. Auch sonst bleibt eine Stellungnahme des Ministeriums zum Thema bis Redaktionsschluss aus.

Ein Zeichen setzen

Der damalige beste Freund von Joel, Raimund Freithofnig, sagt: "Es hätte mich genauso treffen können." Die Buben sind in der gleichen Ortschaft aufgewachsen, haben zusammen Fußball gespielt und waren fünf Jahre in der selben Klasse. "Bei mir hat sich natürlich eingebrannt, wozu so etwas führen kann. Ich nutze soziale Medien mit großer Vorsicht und denke darüber nach, was ich poste oder teile."

Auch in seinem Freundeskreis sei das Bewusstsein gewachsen. Joels Facebook-Profil zieren nach seinem Tod unzählige Nachrichten: "I finds einfach nur arg, wie man so gemein zu jemandem sein kann [...] jeder, der ihn jemals verarscht hat, soll so ein schlechtes Gewissen haben, dass er in der Nacht nicht mehr schlafen kann","Seht ihr jetzt endlich was ihr damit anrichten könnt?" und "Das ist so traurig. Ich kann es nicht nachvollziehen, wie er leiden musste. Aber ich habe so was Ähnliches erlebt."

Es waren diese Aussagen, die die trauernde Mutter vor acht Jahren dazu brachten, nachzuforschen. Sie fand heraus, dass jemand mit Hilfe eines US-amerikanischen Websitenanbieters, der mit "prank your friends", also "verarsche deine Freunde" wirbt, eine Homepage erstellt hat, die auf Joels Namen lief. Darauf waren Pornos Homosexueller zu sehen, Sexhotlines inklusive. Wie sehr es den 13-Jährigen verletzt hat, "der sich über seine sexuelle Orientierung noch überhaupt keine Gedanken gemacht hat und noch mit Lego gespielt hat", so die Mutter wütend, kann sie heute nur vermuten.

Straftat Cybermobbing

Wer dafür verantwortlich ist, will sie nicht mehr wissen: "Es ist meine große Angst, das Warum herauszufinden. Wenn der sagt, aus Langeweile oder Spaß, macht das mein Leben nicht leichter", sagt Michaela. Doch sie will aufklären: "Es ist meine Pflicht, meine Aufgabe, mein Erbe, das mir Joel hinterlassen hat. Nur weil mein Kind zu Hause am Computer sitzt, heißt das nicht, mein Kind ist sicher. Die Kriminellen kommen durch die Computer, durch die Smartphones in die Zimmer unserer Kinder, und wir sitzen im Wohnzimmer und schauen fern. Das müssen wir endlich begreifen."

Seit 2016 ist die "fortgesetzte Belästigung im Wege einer Telekommunikation oder eines Computersystems"(sprich Cybermobbing) zumindest laut Gesetz strafbar. Laut dem Bundeskriminalamt sind im vergangenen Jahr 359 Anzeigen diesbezüglich eingegangen. 274 Fälle wurden aufgeklärt. Beim Justizministerium sind im Jahr 2018 322 Fälle vorgelegt worden. 37 wurden angeklagt. Lediglich zehn Täter wurden tatsächlich verurteilt. Im laufenden Jahr wurde bereits ein Fall medial bekannt: Ein Mathematikstudent hat jahrelang fremde Männer über erotische Websites ausgeforscht, ihre Profile manipuliert und sie laut Gericht "in ihrer Lebensweise beeinträchtigt". Das Landesgericht Graz sprach eine rechtskräftige Bewährungsstrafe von zwei Monaten aus. Es ist leider nur einer von wenigen Einzelfällen.

Andere Lebensrealität

Vielen Betroffenen fällt es so schwer, das Tabuthema Cybermobbing anzusprechen, dass es zu keiner Anzeige kommt. Zu groß ist die Angst davor, noch mehr einstecken zu müssen oder nicht verstanden zu werden. Sie schrecken selbst vor einem Gespräch mit Vertrauten zurück.

Das lässt sich auch daran ablesen, ob und an wen sich die Kinder und Jugendliche bei Problemen wenden: Die Hälfte der Schüler in der Studie des deutschen Bündnis gegen Cybermobbing geben zwar an, sich Unterstützung von ihren Eltern zu holen, 16 Prozent aber wenden sich "an niemanden"; 20 Prozent haben bereits an Suizid gedacht. "Die Lebensrealität der Kinder und Jugendlichen heutzutage hat mit jener der Erwachsenen überhaupt nichts mehr zu tun.

Und in dem Moment, wo ich die Lebensrealität meiner Kinder nicht akzeptiere und mich nicht damit beschäftige, verstehe ich deren Probleme nicht", sagt die Mutter des verstorbenen Joel. "Ein Handy mit Internetzugang ist eine Waffe, die Kinder maßgeblich schädigen kann." Sie musste diese Erkenntnis auf die schlimmste Art erlangen, die sich eine Mutter nur vorstellen kann.

Der Artikel ist ursprünglich in der Printausgabe von News (Nr. 7/2019) erschienen!