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David Szalay: „Ich wollte schockieren“

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©IMAGO / opale.photo

Der ungarisch-britische Wahl-Wiener David Szalay wurde für seinen Roman „Was nicht gesagt werden kann“ mit dem Booker Prize ausgezeichnet. Ein Gespräch mit dem Ausnahmeschriftsteller über sein Meisterwerk, Moralvorstellungen und warum er in Wien lebt.

Die Kür des aktuellen Booker-Preisträgers darf zumindest einen Anflug von Lokalpatriotismus aufkommen lassen. Denn David Szalay, 51, Sohn eines Ungarn und einer Kanadierin lebt und schreibt in Wien. Sein verstörender Roman „Flesh“ (deutscher Titel: „Was nicht gesagt werden kann“) verschaffte ihm die bedeutendste, mit 50.000 Pfund (knapp 58.000 Euro) dotierte Auszeichnung der englischen literarischen Welt.

Furios schildert Szalay in „Flesh“ das Leben des wortkargen István, der es aus den ärmlichen Verhältnissen einer ungarischen Stadt in die Londoner Upper Class schafft und am Ende mittellos in seinen magyarischen Gemeindebau zurückkehrt.

Hypnotisierend, fesselnd

Der fünfköpfigen Jury gehörte in diesem Jahr auch die Schauspielerin und Produzentin Sarah Jessica Parker an. Der irische Autor Roddy Doyle, Sprecher der Juroren, nannte den Roman ein „hypnotisierendes, fesselndes Lebensporträt eines Mannes“ und „ein düsteres Buch, dessen Lektüre Freude macht“.

Die BBC strahlte die Verleihung live in der Prime Time aus. Danach lud Queen Camilla zum Empfang ins Clarence House, dem Wohnsitz des britischen Königspaares.

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David Szalay und Queen Camilla nach der Verleihung des diesjährigen Booker Prize

 © IMAGO/Stefan Rousseau / Avalon

Erst jetzt realisiere er das alles, sagt Szalay im Gespräch mit News, für das man sich per WhatsApp verabredet hat. Denn in diesen Wochen ist der Autor fast ständig unterwegs. Auf eine Lesereise durch die USA folgt eine weitere durch Italien. Eine Zugfahrt von Florenz nach Rom, wo er die italienische Ausgabe seines Romans bewirbt, bietet gute Gelegenheit zum Reden.

Warum Wien?

„Das Buch verkaufte sich schon vor dem Booker Prize ziemlich gut. Es ist ja nicht so, als ob es aus dem Nichts kommen würde“, sagt Szalay in gediegenem Society-Englisch. Das Deutsch, das er sich in seinen Wiener Jahren bisher aneignen konnte, reicht nicht für ein Interview.

Wie er denn auf Wien gekommen ist? Seine Antwort klingt nach purem Pragmatismus: Es liege für ihn günstig. Denn von hier aus sei es leicht, seine Kinder in Ungarn zu besuchen, und seine deutsche Ehefrau lebe lieber in einem Land, in dem man ihre Sprache spricht. Ihm selbst sei der Wohnort nicht so wichtig.

Zwischen Ungarn, Kanada und London

Auch sein Vater habe eine Zeit lang in Wien gelebt, als er aus dem kommunistischen Ungarn der 1960er-Jahre emigrierte. „Dann ging er nach Kanada. Dort hat er meine Mutter kennengelernt.“ Ungarisch habe der Vater die Kinder jedoch nicht gelehrt. „Wir haben nie darüber gesprochen, vielleicht, weil er in Kanada ein neues Leben beginnen wollte.“

Er ist ein Jahr, als sein Vater im Libanon eine Filiale der Bank of Canada eröffnen soll. Als die Lage dort nicht mehr sicher ist, lässt sich die Familie in London nieder. Deshalb ist Szalay heute ungarisch-britischer Staatsbürger.

Wie Hemingway

Das Gespräch wendet sich wieder der Literatur zu. „Flesh“ ist sein sechster Roman. 2013 wurde er von der englischen Literaturzeitschrift Granta auf die Liste der zehn besten britischen Autoren unter 40 gereiht. Eine Auszeichnung, die nur alle zehn Jahre vergeben wird.

2016 brachte er es auf die Shortlist zum Booker Prize. Und dann kam „Flesh“. Die Times nannte ihn schon im Juli als Spitzenkandidaten für den Booker Prize. Eine der einflussreichsten Buch-Podcasterinnen, Pop-Sängerin Dua Lipa, lud den Autor in ihren virtuellen Buchklub. Die New York Times verglich ihn mit Hemingway. Die Lektüre gibt den hymnischen Besprechungen recht.

Moralisch zwiespältig

Mit meisterhafter Radikalität und in wenigen Worten lässt Szalay Unsägliches Literatur werden. Etwa den Missbrauch seines 15-jährigen Helden am Beginn des Romans. Die Täterin ist dessen Nachbarin aus dem Plattenbau. Immer wenn ihr das Kind die Einkaufstaschen in die Wohnung bringt, legt sie Hand an ihn. Den Ekel, den der Bub empfindet, ignoriert sie. Wie kommt es, dass dieser extreme Sachverhalt von Rezensenten und Juroren bis dato unkommentiert geblieben ist?

„Einige sprachen von einer moralisch zwiespältigen Situation. Natürlich war ich mir bewusst, dass das verstörend ist. Ich wollte aber mit dem ersten Kapitel schockieren. Es soll die Leser richtig reinziehen, sie zwingen, weiterzulesen. Und ich denke, es hat seine Wirkung. Es ist auch völlig berechtigt, von dem, was im ersten Kapitel passiert, als Missbrauch zu sprechen. Aber ich wollte beim Schreiben solche Begriffe vermeiden, um die Wirkung zu verstärken, damit es noch schockierender wird“, sagt Szalay.

Natürlich war ich mir bewusst, dass das verstörend ist.

David Szalay

Er habe über das Leben als körperliche Erfahrung schreiben wollen und über die Unmöglichkeit, dem Schicksal auszuweichen. Darüber hinaus wollte er einen Roman mit ungarischen und britischen Aspekten schaffen.

Die Politikfrage

Wenn man schon beim Thema ist, wie erlebt er Orbáns Regime, wenn er in Ungarn ist?

„Im Alltag merkt man davon in Ungarn nicht wirklich etwas. Tatsächlich lebt man dort immer noch in einer freien Gesellschaft. Aber die Wahlen im April können ein echter Wendepunkt für das Land sein. Es kann leicht sein, dass Orbán verliert. Dann hat das Land hoffentlich die Chance auf einen Neuanfang.“

Eine unmoralische Gesellschaft?

Sein Zug fährt bald in Roma Termini ein. Das Gespräch wendet sich noch einmal der Literatur zu. Der Guardian attestierte seinem Helden etwas wie „toxisches männliches Betragen“. Aber ist dieser István nicht das Gegenteil?

Er lässt alles mit sich geschehen, wird zum Objekt der Damen, die bei ihm ihr Glück suchen. Die Anfragen beantwortet er meist mit einem schlichten „Okay“ und lässt sich verführen. Ist das Szalays Antwort auf die Korrektheitswelle oder hat er den Eindruck, dass die Leute langsam genug vom Moralisieren haben?

„Sehr interessante Frage. Ich kann sie nicht beantworten. Es gab auch schon Diskussionen darüber, ob diese Auszeichnung meines Romans ein Anzeichen dafür ist, dass sich in der Gesellschaft etwas geändert hat. Es steht mir jedoch nicht zu, das zu beurteilen. Aber ich denke, es muss etwas bedeuten, denn schließlich hat alles eine Bedeutung. Aber als ich das Buch schrieb, habe ich versucht, nicht über aktuelle gesellschaftlichen Debatten nachzudenken, weil ich das Gefühl hatte, dass mich das daran hindern würde, ehrlich und konkret über das Leben zu schreiben. Das möchte ich auch weiterhin versuchen.“ Das klingt nach besten Aussichten.

Steckbrief

David Szalay

David Szalay wurde 1974 in Montreal, Kanada, geboren, er wuchs in London auf und studierte in Oxford. Mit „Was ein Mann ist", seinem vierten Roman, kam er 2016 auf die Shortlist des BookerPreises. Sein Werk wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Ebenfalls auf Deutsch erschienen ist sein Roman „Turbulenzen". David Szalay ist verheiratet und lebt in Wien. Der Booker Prize wird für in England verlegte englischsprachige Literatur vergeben.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 50/2025 erschienen.

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