ÖGB-Chef Katzian: "Jetzt kriegen natürlich alle Fracksausen"

Lohnzurückhaltung im Herbst? Sicher nicht, sagt ÖGB-Chef Wolfgang Katzian. Er plädiert zudem dafür, die Vergabe von Fördergeldern künftig an Bedingungen zu knüpfen, und würde eine Rückabwicklung der Immobiliengeschäfte von Rene Benkos Signa mit Blick auf die Kika/Leiner-Insolvenz begrüßen.

von ÖGB-Chef Wolfgang Katzian © Bild: Ricardo Herrgott/News

Herr Katzian, wie viele Stunden arbeiten Sie eigentlich pro Woche?
Ich habe das Handy von 22 bis sieben Uhr auf lautlos gestellt. In dieser Zeit kommen nur mehr meine Mutter und meine Familie durch. Die meiste Zeit bin ich "under fire". In einer Spitzenfunktion ist es nicht so, dass man von acht bis 17 Uhr arbeitet. Solange es Spaß macht, ist es okay für mich.

ÖGB-Chef Wolfgang Katzian
© Ricardo Herrgott/News
Geboren am 28. Oktober 1956 in Stockerau, arbeitete sich der gelernte Bankkaufmann zum wichtigsten Mann in der Arbeitnehmervertretung empor: Zunächst war er Jugendsekretär der Gewerkschaft der Privatangestellten, später wurde er deren Vorsitzender. Von 2009 bis 2018 war Katzian Chef der Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter, seit 2018 ist er ÖGB-Präsident. Im Mai wurde er zum Präsidenten des Europäischen Gewerkschaftsbundes gewählt.

Sie wissen, worauf ich hinauswill, nämlich auf die 32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Verspricht man da nicht angesichts der demografischen Lage etwas, das gar nicht umsetzbar ist?
Versprechen tut das ja keiner. Die Arbeitszeitverkürzung ist eine urgewerkschaftliche Forderung. Ich habe erst kürzlich in den Reichsrat-Protokollen von damals nachgelesen, dass die Industriellen gesagt haben, das ist das Ende der Welt, und alles wird zusammenbrechen, wenn der Acht-Stunden-Tag kommt. Diese Argumente haben sich dann fortgesetzt bei allen Arbeitszeitverkürzungsschritten. Es war immer unmöglich. Die Welt bricht immer zusammen, die Wettbewerbsfähigkeit sowieso. Wir sind ja nicht dumm. Wir haben Ökonominnen und Ökonomen, die sehr genau rechnen können. Und wenn die Produktivitätsentwicklung so da ist, dass es vertretbar ist, dann muss man eine Arbeitszeitverkürzung machen. Insbesondere wenn wir wissen, dass durch die Digitalisierung, durch künstliche Intelligenz auch zunehmend Tätigkeiten wegfallen werden, muss man auf lange Sicht schauen, wie man die Arbeit so aufteilt, dass möglichst alle ein gutes Leben führen können. Kein Mensch sagt, dass man von heute auf morgen die 30-Stunden-Woche, die 32-Stunden-Woche einführen muss. Auch in der Vergangenheit war es bei allen Arbeitszeitverkürzungsschritten so, dass man zuerst versucht hat, auf Ebene der Kollektivverträge entsprechende Vereinbarungen zu treffen. Auch auf die Entwicklungen in den verschiedenen Branchen kann man Rücksicht nehmen. Und wenn man ein bestimmtes Niveau erreicht hat, kann man schauen, wie man es auf der gesetzlichen Ebene für alle macht. Es gibt Role Models, an denen man sich orientieren kann.

Aber noch mal: Grätscht uns nicht die demografische Entwicklung dazwischen? Wir haben einen Fachkräftemangel, einen Arbeitskräftemangel.
Ich glaube, dass das trotzdem kompatibel ist. Die Demografie ist ja keine Überraschung, die jetzt über uns hereinbricht. Dass die Babyboomer irgendwann einmal in Pension gehen, ist bekannt. Und dass das in vielen Berufen Herausforderungen mit sich bringt, ist auch bekannt. Klar ist auch, wenn wir unsere Struktur und unseren Sozialstaat erhalten und weiterentwickeln wollen, dann wird es ein bestimmtes Niveau an Beschäftigung brauchen. Dann reden wir auch -aber nicht nur - über gezielte Migration. Die wird notwendig sein. Alles andere würde ja bedeuten, dass man sich abschottet. Das wird nicht funktionieren. Was den sogenannten Arbeitskräftemangel betrifft, muss man natürlich ganz genau hinschauen: Wo gibt es die Probleme am Arbeitsmarkt? Warum gibt es die? Hat das ausschließlich mit der Demografie zu tun oder vielleicht doch auch mit den Arbeitsbedingungen in bestimmten Branchen?

Diskussionen um die Viertagewoche fangen gern mit dem Satz "Immer mehr Unternehmen machen das" an. Aber das sind doch Einzelfälle?
Die, die das jetzt schon machen, sind wenige. Aber sicher mehr als Einzelfälle. Der Punkt ist, sie haben es in einer Phase umgesetzt oder ausprobiert, wo alle gesagt haben: "Das geht nicht." Das Spannende ist nicht die Anzahl der Firmen, die das machen, sondern welche Erfahrungen sie damit gemacht haben. Da gibt es gute und schlechte Erfahrungen. Es gibt Firmen, die zum Schluss gekommen sind: "Wir schaffen es nicht." Und dann gibt es andere, die sagen: "Wir haben eine enorme und nicht für möglich gehaltene Produktivitätsentwicklung." Es gibt nicht das eine Modell der Viertagewoche, das man über alle drüberziehen kann und die Sache ist erledigt. Dennoch hat die Viertagewoche Zukunft, wenn sie an die Bedürfnisse der Unternehmen und der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer angepasst ist.

Meine Vorstellung von Arbeitszeitgestaltung ist, dass es einen stabilen, ordentlichen gesetzlichen Rahmen gibt. Dieser Rahmen gibt Sicherheit für die Wirtschaft, für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Und dann überlassen wir die Gestaltung der Arbeitszeit den Tarifpartnern, also Gewerkschaft und Wirtschaft. In jedem Kollektivvertrag - wir haben 460 in Österreich -gibt es ein Kapitel zur Arbeitszeitgestaltung. Das ist ganz unterschiedlich. Das muss unterschiedlich sein, weil Arbeitszeit in einem Mehrschichtbetrieb in der Industrie etwa anderes ist als in einem Bürobetrieb, wo von neun bis 17 Uhr gearbeitet wird. Das ist gut auf der Ebene der Sozialpartner und in den Kollektivverträgen aufgehoben. Die Details sind auf der betrieblichen Ebene zu lösen - etwa durch Betriebsvereinbarungen oder bis zu einem gewissen Grad durch Einzelverträge. In dieser Kaskade -Gesetz, Kollektivvertrag, Betriebsvereinbarung, Einzelvertrag - wird in Zukunft die Gestaltung der Arbeitszeit stattfinden.

Was ist das für ein Signal beispielsweise an das Pflegepersonal, wenn die, wo es leicht geht, eine Viertagewoche bekommen und sie nicht?
Die Sozialwirtschaft ist ja ein Bereich, wo erste Schritte der Arbeitszeitverkürzung schon durchgesetzt wurden. Bei den letzten Kollektivvertragsabschlüssen wurden Vereinbarungen getroffen, in einem bestimmten Zeitraum die Arbeitszeit zu senken. Die brauchen die Arbeitszeitverkürzung, weil das ein Job ist, der an die Substanz geht. Die einzige Chance, ausreichend Personal zu bekommen, wird sein, dass der Pflegeberuf insgesamt attraktiver wird. Das beginnt bei der Bezahlung und bei der Arbeitszeitgestaltung. Aber das Wichtigste wird sein, dass es einen Personalschlüssel gibt: so viele Patienten, so viele Pflegekräfte. Wenn das nicht gelingt, kommen wir nicht zum gewünschten Erfolg im Pflegebereich.

Gerade das gelingt uns ja nicht. Wir haben weder das Personal, noch reden wir von einem gescheiten Schlüssel, noch ist der Job attraktiv genug. Also wie machen wir das, wenn die Menschen weniger arbeiten? Wer füllt dann die restlichen Schichten auf?
Wenn wir die Arbeitszeit im Pflegebereich nicht weiter verkürzen - so wie das auch im Kollektivvertrag für die Sozialwirtschaft beispielsweise vorgesehen ist -, dann wird es wahrscheinlich noch mehr Leute geben, die das Handtuch schmeißen. Ich kenne einige Kolleginnen in der Pflege, die schon heute sagen, dass sie den Job sicher nicht bis zur Pension machen. Oder die sagen: "Wenn ich eine Chance finde, wieder aus der Pflege rauszukommen, dann gehe ich wieder raus." Das sind aber Leute, die ein riesengroßes Herz haben für die Pflege. Die lassen ihre Patientinnen und Patienten nicht hängen. Die Lösung ist, dass es diesen Pflegeschlüssel gibt und dass dafür alles notwendige Geld in die Hand genommen wird. Und dann sind wir bei der Frage, woher das Geld kommen soll, wer das alles zahlen soll. Aus unserer Sicht ist die Antwort klar. Es können nur die, die die großen Vermögen haben, einen Beitrag leisten, weil einem Nackerten kann ich nichts aus dem Sack nehmen. Die Rahmenbedingungen für die großen Vermögenden sind in Österreich sehr gut. Sie können einen Beitrag leisten.

Das Geld nützt ja nichts, wenn wir nicht die Leute haben, die in diesen Jobs arbeiten wollen.
Da muss man parallel schauen, dass es Ausbildungsangebote gibt. Die werden aber nur angenommen, wenn der Pflegeberuf selbst entsprechend attraktiv ist. Es braucht außerdem die Sicherheit, wenn ich heute arbeitslos bin und mich zur Pflegekraft umschulen lasse, dass ich in dieser Zeit auch in der Lage bin, mein Leben zu gestalten, meinen Mietzins zu zahlen. Da wurden schon Fortschritte erzielt. Es ist aber noch Luft nach oben.

Haben Sie das Gefühl, dass das Thema demografischer Wandel ernsthaft in Österreich diskutiert wird?
Es wird vielfach weggeschoben, weil natürlich unangenehme Themen zu diskutieren sind. Ich kann nicht sagen, ich beschäftige mich mit dem Thema Demografie, aber trotzdem dürfen keine Leute aus dem Ausland zu uns arbeiten kommen.

»Einfach den Schalter umlegen und sagen: 'Jetzt findet Zuwanderung statt, die wir brauchen', wird schwierig«

Gutes Stichwort. Fakt ist, wir können unser Wohlstandsniveau nicht halten, wenn wir nicht auch das Wort Zuwanderung in den Mund nehmen. Wer sagt es den Österreicherinnen und Österreichern?
Wir sind der Meinung, dass es Zuwanderung gibt, dass es Zuwanderung geben wird und dass wir Zuwanderung brauchen werden. Wir müssen schauen, dass das in einer koordinierten und sauberen Art und Weise erfolgt und nicht in einer Art und Weise, wo mit ausländischen Arbeitskräften Lohnund Sozialdumping vorangetrieben wird. Daher haben wir uns sehr für die Schaffung des Lohn-und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetzes eingesetzt. Am Anfang wurde jede einzelne Übertretung mit Strafen belegt. Dann hat man gesagt, wenn die Übertretung 20 Leute betrifft, hat man das nur einmal zu zahlen. Da gehört noch einmal hingeschaut und das Ganze entsprechend repariert. Aber wenn sichergestellt ist, dass kein Lohn-und Sozialdumping stattfindet, und wenn auch sichergestellt ist, dass es legale Zugangswege gibt, dann ist das ein Weg, um den wir nicht drum herumkommen. Es gibt ja viele Beispiele aus der Vergangenheit, wo Zuwanderung in den Arbeitsmarkt stattgefunden und Integration gut funktioniert hat. Es müssen sich halt alle darum bemühen. Einfach den Schalter umlegen und sagen: "Jetzt findet Zuwanderung statt - nämlich genau die, die wir brauchen", wird schwierig.

Erst vor Kurzem wurde in einer Studie gefragt, ob es für Leute interessant ist, in Österreich zu arbeiten. Der Tenor war mehrheitlich: Arbeitskräfte aus dem Ausland sind nicht willkommen, werden schlecht behandelt und negativ gesehen. In anderen Ländern ist das anders. Wenn man es sich aussuchen kann, wird man folglich eher nicht nach Österreich gehen. Wege schaffen ist das eine. Wie diese Menschen integriert und behandelt werden, das andere. Damit das gelingen kann, müssen das Thema Asyl und das Thema kontrollierte, strukturierte Zuwanderung voneinander getrennt werden. Österreich insgesamt ist schon attraktiv, aber natürlich spricht sich das herum, wie die Stimmung hier ist. Es gibt auch keine Klarheit. Es braucht in bestimmten Bereichen und Berufen unter bestimmten Kriterien und Auflagen kontrollierte Zuwanderung. Wenn aber gleichzeitig politisch Verantwortliche, die selbst auch in der Wirtschaft tätig sind, bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Ausländerkarte zücken, um politisches Kleingeld zu machen, dann wird das nicht funktionieren.

Die Zeichen zeigen eher in Richtung Verschärfung - siehe Umfragewerte der FPÖ. Was heißt das für den Wirtschaftsstandort Österreich?
So ist im Moment die Stimmung, und ob sich diese Stimmung dreht, weiß ich nicht. Im Worst Case heißt das, dass wir insgesamt zu wenig Arbeitskräftepotenzial haben. Im Best Case, dass wir das nutzen.

Anwerben, anwerben, anwerben ist das Motto in der deutschen Regierung. Der deutsche Arbeitsminister war dreimal binnen kürzester Zeit im Ausland, hatte zuletzt in Brasilien die Außenministerin mit. Braucht es solche Initiativen von politischer Seite her nicht auch in Österreich?
Bevor wir mit Hilfe von großen Delegationen Menschen von irgendwo anwerben, würde ich gerne alle Maßnahmen ausschöpfen, um die Menschen, die jetzt arbeitslos oder in Ausbildung sind, in Jobs unterzubringen. Da gibt es noch sehr, sehr viele Möglichkeiten. Es wird auch darauf ankommen, dass die Arbeitsplätze, die angeboten werden, attraktiv sind. Wir haben 300.000 Arbeitslose und wir haben Leute, die wechselwillig sind. Aber weil die nicht zu jeder schlechten Arbeitsbedingung arbeiten, holen wir uns die Menschen irgendwo aus dem Ausland, aus Afrika oder von sonst irgendwo. Das wird nicht funktionieren.

Attraktive Arbeitsplätze sind das eine. Braucht es auch Verschärfungen, um Menschen wieder in den Job zu bringen?
Das würde ja indizieren, dass von den 300.000 Arbeitslosen die meisten Tachinierer sind. Meine Erfahrung ist, dass es viele gibt, die arbeiten wollen. Aber nicht in einem Job, wo der Verdienst um ein Drittel geringer ist, und nicht in einem Job, der nicht der Ausbildung entspricht. Man muss sich darüber unterhalten, was gleichwertig heißt. Das ist komplex. Wenn ich sage, du bist bei Kika/ Leiner beschäftigt gewesen, aber der Billa sucht eh eine Verkäuferin, dann ist zwar richtig, dass das beides Handelsunternehmen sind. Aber bei Kika bekommt der Mitarbeiter eine Provision, wenn er ein Schlafzimmer verkauft. Der verdient ein anderes Geld, als wenn er an der Kasse bei Billa, Lidl und Co. sitzt.

Das heißt, die Vorstellung, dass man jetzt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Kika/Leiner locker in Lebensmittelkonzernen unterbringt, die händeringend nach Mitarbeitern suchen, ist zu rosarot?
Das ist absolut rosarot. Es ist zwar nett, dass sie alle sagen: "Wir nehmen euch auf." Aber noch vor wenigen Wochen ist den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gesagt worden: "Alles im grünen Bereich", und plötzlich heißt es: "Pech gehabt." 2.000 Leute müssen über die Klinge springen. Ich bin übrigens sehr froh, dass sich die Finanzprokuratur das jetzt alles anschaut und überprüft. Ich wäre auch dafür, wenn die Finanzprokuratur feststellt, dass das nicht in Ordnung war, dass dann auch die Immobiliengeschäfte (der Signa, Anm.) rückabgewickelt werden. Das ist eine Option. Warten wir das Ergebnis der Finanzprokuratur ab.

Es geht um Rene Benko. Ist das realistisch? In Österreich?
Ich bin immer zuversichtlich. Am Ende des Tages gewinnt der Rechtsstaat.

Nichtsdestotrotz hat Andreas Babler prompt die Hand in Richtung der Kika/Leiner- Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter ausgestreckt. Gaukelt er ihnen am Ende nicht auch etwas vor, was er gar nicht einhalten kann - Stichwort gleichwertige Jobs?
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die jetzt betroffen sind, sind bei ihren Gewerkschaften in sehr guten Händen. Das ist wichtig und gibt den Leuten Vertrauen. Das ist das eine. Wenn ich Andreas Babler richtig verstanden habe, dann hat er das als Beispiel gemeint, wie man mit solchen Entwicklungen umgeht. Da gibt es große Immobiliengeschäfte, und der Geschäftsführer von Signa stellt sich hin und sagt mit einem Grinser: "Das war für uns ein gutes Geschäft." Und ein bisschen später gibt es die Meldung, dass 2.000 Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren. Das geht nicht. Das ist eine Sauerei und die Leute empfinden das auch so. Wenn ein Politiker das anspricht, ist das gut.

Aber vielleicht war es ja auch von vornherein naiv, zu glauben, dass Rene Benko tatsächlich am Handelsgeschäft und nicht nur an den Immobilien ein Interesse hat?
Ich habe ihm das eh nicht abgekauft.

Kurzarbeit mit vergleichsweise hohem Einkommensersatz in der Coronapandemie, hohe KV-Abschlüsse -das schindet im Ausland Eindruck. Im Inland hat man das Gefühl, es reicht nicht. Die Unzufriedenheit ist trotzdem hoch. Parallel werden Stimmen laut, die sagen, man muss den Menschen den Nanny-Staat wieder abgewöhnen. Wie blicken Sie auf diese Diskussion?
Wenn Menschen nicht wissen, wie sie den Lebensmitteleinkauf machen sollen, sie die fünfte Mieterhöhung haben und wenn die Energiepreise nicht mehr zu stemmen sind, denen zu sagen: "Ihr wollt nur den Nanny-Staat", wenn sie Hilfe brauchen, dann empfinde ich das als zynisch. Wir haben auch als Sozialpartner der Regierung im März 22 gesagt: "Ihr müsst Maßnahmen setzen, die die Inflation senken." Was haben sie gemacht? Einmalzahlungen. Ich bin nicht gegen Einmalzahlungen, aber du bekommst eben nur einmal was, es wird aber nichts insgesamt billiger. Dass die Leute angefressen sind, wenn die Preise hoch bleiben, ist klar. Jetzt wird suggeriert: Regt euch nicht auf, weil die Inflation sinkt ja. Sie liegt nur mehr bei 8,8 Prozent. Es wird jetzt alles nicht um 9,5 Prozent, sondern um 8,8 Prozent teurer. Aber teurer wird es trotzdem.

Die Einzigen, die geschaut haben, dass die Leute Geld im Börserl haben, waren wir. Wir haben Abschlüsse gemacht, die zwischen acht und zwölf Prozent in den letzten zwölf Monaten gelegen sind, und haben damit wirklich gut auf die Kaufkraft der Menschen geschaut. Es ist trotzdem immer noch zu wenig. Die nächsten Lohnrunden stehen bevor. Jetzt haben wir im Gegensatz zur Lohnrunde im letzten Jahr eine umgekehrte Situation. Im Herbst des vergangenen Jahres sind wir mit einer rollierenden Inflation von 7,5 Prozent in die Verhandlungen gegangen. Jetzt haben wir die Situation, dass die aktuelle Inflationsrate 8,8 Prozent ist; die rollierende Inflation liegt bei zehn Prozent. Da kriegen natürlich jetzt alle Fracksausen.

»Ich erachte Zurufe nach Lohnzurückhaltung eher als Scherz und nicht ernst gemeint«

Das heißt, für Herbst braucht sich niemand etwas in Sachen Lohnzurückhaltung erwarten?
Wir können nicht unsere Linie ändern, nur weil es lustig ist. Daher erachte ich Zurufe nach Lohnzurückhaltung eher als Scherz und nicht ernst gemeint. Von uns wird ja niemand erwarten, wenn die Inflation weiter hoch ist, weil sich an den Rahmenbedingungen nichts ändert, dass wir unseren Gewerkschaftsmitgliedern sagen: "Wir machen jetzt Lohnzurückhaltung." Noch dazu, wenn keine Anstalten gemacht werden, irgendwo anders irgendwelche Dinge auch nur zu diskutieren. Es gibt in Österreich keine Lohn-Preis-Spirale, weil die Löhne immer den Preisen folgen, und an dem werden wir festhalten. Es gibt eine Gewinn-Preis-Spirale.

Die Gewerkschaften fordern schon die ganze Zeit Preisbremsen. Aus ideologischen Gründen oder haben Sie irgendetwas früher verstanden als die Wirtschaftsforscher?
Wir haben es nicht besser gewusst, auch wenn wir tolle Ökonominnen und Ökonomen haben. Der Unterschied ist, dass wir gesagt haben, wir müssen in den Markt eingreifen, um die Inflation zu senken. Das war der Gottseibeiuns für viele Wirtschaftsforscher, die gesagt haben, der Eingriff in den Markt geht überhaupt nicht. Über die Rolle des Marktes könnte man auch diskutieren. Ich erinnere mich an die Finanzkrise 2008/2009. Da war der Markt "too big to fail". Wir alle mussten einspringen. Der Markt hat nach dem Staat gerufen. Dann kam Corona. Der Erste, der sich geschlichen hat, war der Markt. Der Sozialstaat hat uns richtig gut durch die Coronazeit gebracht. Jetzt bei der Teuerung dürfen wir nicht eingreifen, weil das ist der Markt? Aber wenn irgendwas nicht rennt, kommt der Markt - Stichwort Energiekostenzuschüsse. Ich bin nicht gegen Energiekostenzuschüsse. Aber ich würde mir wünschen, wenn der Staat Zuschüsse gibt, dass wir die an Bedingungen knüpfen. Förderungen kassieren, wie es bei Corona passiert ist, und dann haut man die Leute raus, das geht nicht.

Was für Kriterien könnten das sein?
Arbeitsplatzgarantie, Einkommensgarantie, Standortgarantie. Ich will da gar nichts vorwegnehmen. Das ist Verhandlungssache. Ideen gibt es genug.

Welche Preisbremsen wären jetzt noch sinnvoll?

Bei der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel könnten wir noch etwas machen. Kein Mensch von uns hat übrigens eine Deckelung der Lebensmittelpreise wie in Ungarn gefordert. Wir haben gesagt: Aussetzen der Mehrwertsteuer, eine Antiteuerungskommission und eine Preisdatenbank. Die Handelsunternehmen haben täglich die Kassendaten. Die kann man auf Knopfdruck weitergeben, in einer Datenbank verarbeiten und beispielsweise prüfen, ob die Mehrwertsteuer weitergegeben wird oder nicht. Wie man dies kontrolliert, muss man festlegen. Nach dem Lebensmittelgipfel ist es aber wieder sehr still geworden. Was übrig geblieben ist, ist eine App, wo man Preise vergleichen kann. Halleluja. Auch die Strompreise müssen runter. Der Herr Bundeskanzler hat ja gesagt, er lässt sich nicht papierln. Also werden wir schauen, ob sich da tatsächlich etwas tut. Wenn sich was tut, wird das eine Auswirkung auf die Inflationsrate haben. Ich glaube, dass es zu wenig sein wird. Am wichtigsten wäre freilich ein Mietenstopp.

Wie zuversichtlich sind Sie bei der Mietpreisbremse?
Ich fürchte, da wird nichts kommen. Wenn es so läuft, wie es beim ersten Mal gelaufen ist, dann wird sich die Immobilienwirtschaft durchsetzen.

Wie lange darf es dauern, bis etwa die gesunkenen Energiepreise beim Endverbraucher ankommen?
Im September muss Klarheit herrschen. Sonst müssen wir über andere Dinge reden, unter anderem auch über ein mögliches Wärmepaket für den nächsten Winter. Das Ganze geht ja immer Hand in Hand mit der Frage, wie wir aus den fossilen Systemen aussteigen können. Die Wärmepumpe etwa läuft mit einem höheren Stromgrundverbrauch. Ich muss also nach Heizungssystemen differenzieren. Der mit einer Wärmepumpe hat 8.000, 9.000,10.000 Kilowattstunden und nicht die 2.900 bis 3.500, die in einer Wohnung anfallen. Dafür handelt er klimafreundlich und will nicht draufzahlen. Wärmepaket bedeutet für uns, dass es einen bestimmten Deckel für die Grundversorgung gibt und eigene Regelungen für die Wärmepumpen und andere Heizsysteme. Nochmals: Wir werden natürlich nicht nur bei Kollektivvertragsverhandlungen nicht nachgeben, sondern auch bei den Dingen, die aus unserer Sicht notwendig sind. Und wir werden Mittel und Wege finden, politisch Druck zu machen, auch in der Öffentlichkeit.

In Österreich wird sehr viel ideologisch gestritten. Der deutsche Ex-Minister Altmaier hat gemeint, bei großen Themen wie etwa Klima sollten sich die seriösen Parteien auf einen Kurs einigen, der über Legislaturperioden hinaus hält. Geht das? Bei welchen Themen würde das Ihrer Meinung nach gehen und wäre die Gewerkschaft dabei?
Prinzipiell sind wir bei so was natürlich mit dabei. Was wir nicht sind, ist ein Escortservice. Ich finde es nett, wenn ich zehn Minuten vor einer Pressekonferenz angerufen werde und mir vorab gesagt wird, was dort gesagt wird. Aber wenn sich Minister dann dort hinstellen und sagen: "Selbstverständlich haben wir die Gewerkschaften eingebunden", dann ist das für mich keine Einbindung. Wenn Einbindung meint Augenhöhe, oder wir legen die verschiedenen Vorschläge auf den Tisch und dann gibt es einen Aushandlungsprozess, dann ja. Die Sozialpartner haben auch in Krisenzeiten immer wieder bewiesen, dass sie in der Lage sind, solche Vereinbarungen zustande zu bringen. Ob in der heutigen schnelllebigen Zeit Parteien dabei sind, die sagen: "Wir sehen das große Ganze, angelegt auf die nächsten 15 Jahre", da bin ich skeptisch. Dringend notwendig wäre es. Meine Enkelin wird im September drei, und ich würde mir wünschen, dass sie eine Zukunft hat, in der es bessere ökologische Bedingungen gibt. Ich hätte gerne, dass sie ein Bildungssystem hat, das ihr alle Chancen eröffnet. Ich würde mir wünschen, dass wir in einem digitalisierten Land leben, wo die Menschen mitgenommen werden. Ich würde mir wünschen, dass die Transformation im Klimabereich so stattfindet, dass sie nicht am Rücken der Leute stattfindet. Dies alles und auch die Weiterentwicklung der Europäischen Union würde eine konzertierte Aktion aller Kräfte brauchen.

Die SPÖ hat ihr Personalproblem geklärt und könnte wieder eine gewichtigere Rolle auch im Hinblick auf die nächste Nationalratswahl spielen. Ist Andreas Babler der richtige Mann für die SPÖ, für das Land?
Er ist der gewählte Parteivorsitzende. Er hat meine persönliche Unterstützung. Ich glaube, er wird das gut machen. Und wenn sich der erste Nebel gelegt hat, dann wird es auch zu klaren Programmen kommen.

Ist die Babler-SPÖ mit der Sozialpartnerschaft kompatibel?
Ich kenne keine Babler-SPÖ. Ich kenne nur die Sozialdemokratie, die jetzt einen neuen, engagierten Vorsitzenden Andreas Babler hat, und die ist mit der Sozialpartnerschaft kompatibel.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 24/2023 erschienen.