"Viele Leute schaffen einen Vollzeitjob einfach nicht mehr"

Das System, wie wir es kennen, funktioniert nicht mehr, argumentiert die Politikwissenschaftlerin Barbara Prainsack. Sie plädiert für ein Umdenken: wie Arbeit menschenfreundlicher, gerechter und nachhaltiger werden kann.

von Barbara Prainsack © Bild: Gregor Hofbauer

Das Thema Arbeit steht seit einiger Zeit im Mittelpunkt der Debatten, wenn auch mit sehr widersprüchlichen Aspekten. Einerseits gibt es Arbeitskräftemangel, zugleich Furcht vor Arbeitsplatzverlust durch Automatisierung. Es gibt Rufe nach der Vier-Tage-Woche, die Teilzeitquote steigt stetig, aber immer mehr Menschen können von ihrem Einkommen gar nicht leben. Wie passt das alles zusammen?
Diese Phänomene haben unterschiedliche Ursachen, aber sie gehen alle auf die eine Wurzel zurück, nämlich dass das System, so wie man es sich vor über 100 Jahren ausgedacht hatte, nicht mehr funktioniert. Warum gehen zum Beispiel immer mehr Menschen in Teilzeit? Es ist eine komplexe Frage, aber ganz generell können wir sagen, dass es in Österreich eine Million Arbeitskräfte gibt, die es sich nicht vorstellen können, unter den derzeitigen Bedingungen bis zur Pensionierung zu arbeiten. Neben den fehlenden Kinderbetreuungsplätzen wählen viele auch aufgrund der Intensivierung der Arbeit die Teilzeit.

»Man muss in Österreich davon wegkommen, dass "kürzer" immer "weniger" bedeutet. «

Es geht also nicht um Bequemlichkeit und Lust am schönen Leben, wie oft suggeriert wird?
Viele Leute schaffen einen Vollzeitjob einfach nicht mehr. Die Länder, die häufig als positives Beispiel genannt werden, haben nicht nur bessere Kinderbetreuungsangebote, sondern auch eine menschenfreundlichere Gestaltung der Arbeitsnormalität. In Dänemark oder Norwegen gibt es selbst in kleinen Orten am Nachmittag einen Verkehrsstau, weil alle die Kinder abholen und nach Hause fahren. Man muss in Österreich davon wegkommen, dass "kürzer" immer "weniger" bedeutet. In vielen Branchen ist das nicht so. An einer Senkung der Normalarbeitszeit - kein Teilzeitmodell also, die Leute würden auch nicht weniger ins System einzahlen -könnte man schrauben. Das würde einige Menschen aus der Teilzeit in Vollzeit bringen, weil sie dann ja auch mehr verdienen. Und man muss bei den Arbeitsbedingungen etwas tun. Gerade in Österreich beklagen sich viele Leute zu Recht über Hierarchien, die es nur gibt, weil sie schon immer da waren. Gerade die Jungen wollen sich das nicht bieten lassen.

Der Begriff von Erwerbsarbeit, wie wir ihn heute kennen, stammt aus der Zeit der industriellen Revolution. Man geht in der Früh aus dem Haus, arbeitet irgendwo anders acht Stunden oder mehr für Lohn und begibt sich wieder nach Hause. Warum halten Sie dieses Bild für überholt?
Diese klare Trennung zwischen Heim und Arbeitsplatz, die sich damals etabliert hat, gibt es nicht mehr. Nicht nur weil es in manchen Berufen Homeoffice gibt und viele Leute weiterarbeiten, wenn sie nach Hause kommen. Das größte Problem der Gleichsetzung von Arbeit mit Erwerbsarbeit außer Haus ist, dass sie viele Formen von unbezahlter Arbeit unsichtbar macht. Die muss man zum Teil in bezahlte Arbeit überführen, zum Teil aber auch dafür sorgen, dass alle gut abgesichert sind. Der Großteil unserer sozialen Sicherungssysteme ist direkt oder indirekt von Erwerbsarbeit abhängig. Das ist aber problematisch, wenn die Erwerbsarbeit sich so stark verändert und immer mehr von ihrer Erwerbsarbeit nicht mehr leben können.

Sie schlagen also vor, Tätigkeiten wie Haushalts- oder Pflegearbeit als Arbeit anzuerkennen.
Es geht nicht darum, dass die Oma bezahlt wird, wenn sie auf ihr Enkelkind aufpasst. Aber wir müssen die Wertschöpfung dieser unbezahlten Arbeit sichtbar machen. Und auch alle, die unbezahlt arbeiten, müssen genug zum Leben haben -unabhängig davon, wie viel Erwerbsarbeit sie in ihrem Leben geleistet haben. Außerdem muss die Intensivierung der Arbeit wieder entschärft werden. Und wir müssen die Produktivitätsgewinne der letzten Jahrzehnte, die auf Technologie, aber auch auf dieser Intensivierung der Arbeit basieren, gerechter aufteilen. Das ist ja eigentlich keine so radikale Forderung. Und was passiert, wenn man das nicht tut, sieht man ja jetzt.

Weil immer mehr Menschen zu wenig verdienen?
Auch die Arbeitgeber profitieren ja nicht unbedingt davon, dass es so ungerecht aufgeteilt ist. Wenn Leute sagen: "Es lohnt sich gar nicht mehr für mich, mehr zu arbeiten, weil ich mir dann trotzdem keine eigene Wohnung leisten kann", dann arbeiten sie lieber noch weniger Stunden, weil es eh egal ist. Und das trägt alles zum Arbeitskräftemangel bei, der für die Arbeitgeber natürlich schlecht ist. Die Situation, wie sie jetzt ist, ist weder für die Arbeitnehmerinnen noch für die Arbeitgeberinnen positiv.

Das Versprechen, dass Arbeit sich lohnt, hält nicht mehr. Früher konnte ein berufstätiger Mann eine ganze Familie ernähren und nebenbei noch ein Eigenheim schaffen. Das gibt es heute kaum mehr. Wann hat das begonnen, sich zu verschieben? Und warum?
Auf jeden Fall in den letzten 30 Jahren, teils früher. Ab da haben die Reallöhne mit den Produktivitätsgewinnen nicht mehr mitgehalten. Außer bei den ganz hohen Einkommen. Mit dem Gros der arbeitenden Menschen wurden die Produktivitätsgewinne nicht gerecht geteilt. Dazu kommen steigende Kosten. Die Grundstückspreise sind gestiegen, zum Teil auch durch politische Entscheidungen. Die Mieten sind höher geworden. Und da rede ich noch gar nicht von den rezenten Kostenexplosionen und der Inflation. Das alles hat schrittweise zu einer Frustration geführt, die jetzt eskaliert.

Eine schleichende Entwicklung, die niemandem so richtig aufgefallen ist?
Den Leuten, die darauf geschaut haben, ist es schon aufgefallen. Einige haben davon profitiert. Andere haben gedacht, dass es schon richtig so ist, wie es ist, weil es eine Hegemonie bestimmter Ideen gegeben hat. Zum Beispiel, dass höhere Löhne die Ursache für die Inflation sind. Die Inflation heute hat hauptsächlich andere Ursachen. Aber man erzählt das den Leuten, damit sie Angst haben. Man hat den Leuten auch erzählt, dass Firmen abwandern und sie ihren Arbeitsplatz verlieren, wenn sie zu hohe Forderungen stellen, und die Firmen sind trotzdem abgewandert. Diese Gedankenhegemonie geht tief in die Bevölkerung hinein. Es sind oft auch geringverdienende Menschen, die sich den Kopf der Mächtigen zerbrechen, wie es eine Studentin von mir einmal treffend ausgedrückt hat.

Muss sich Leistung wieder mehr lohnen?
Ich bin einerseits dafür, dass der Leistungsbegriff ausgeweitet wird, aber ja, natürlich muss sich Leistung auch lohnen. Den Anreiz zum Arbeiten haben die meisten Menschen angeboren. Wenn man sich anschaut, wie es erwerbsarbeitslosen Menschen geht: Die sitzen nicht glücklich auf der Hollywoodschaukel, sondern haben oft mit Depressionen und gesundheitlichen Probleme zu kämpfen. Der Anreiz zur Erwerbsarbeit sollte darin bestehen, dass sie fair bezahlt wird und dass sie das Gefühl vermittelt, etwas beizutragen.

Viele Menschen haben Angst vor Arbeitslosigkeit durch Automatisierung und Digitalisierung. Für wie groß halten Sie diese Gefahr?
Im Großen und Ganzen wird es zu keiner Massenarbeitslosigkeit kommen, das traue ich mich zu behaupten. Dort, wo es historisch viele Jobverluste aufgrund der Mechanisierung gegeben hat - vor über 100 Jahren in der Landwirtschaft zum Beispiel -, sind die Leute in andere Sektoren gegangen.

Eine Magd wurde zum Beispiel Dienstmädchen in der Stadt oder sie ist in die "Neue Welt" ausgewandert. Das geht heute natürlich nicht mehr. Und natürlich gibt es auch heute Bereiche, wo Menschen von Maschinen ersetzt wurden. Einige Jobs werden ganz verschwinden, einige Jobs werden ganz neu dazukommen - eine Online-Yoga-Lehrerin hat es früher nicht gegeben -, aber für die meisten wird es einfach bedeuten, dass die Tätigkeiten sich verändern. Die Automatisierung und Digitalisierung wird zu keiner Massenarbeitslosigkeit führen, sie wird uns aber auch keine Zeit sparen. Sie hat uns ja bisher auch keine Zeit gespart.

Das Buch
Wie wollen und werden wir zukünftig arbeiten? Wie kann Arbeit sinnstiftender und gerechter sein? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Barbara Prainsack in "Wofür wir arbeiten" (Brandstätter Verlag).

Das Buch ist hier erhältlich.*

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Es kommen neue Tätigkeiten dazu?
Ja. Es ist interessant, wenn man sich alte Werbungen für Haushaltsgeräte ansieht. Da sitzt eine Frau gemütlich im Wohnzimmer und liest ein Magazin, und nebenbei läuft die Waschmaschine. Wir wissen, wie das ausgegangen ist. Die Hausarbeit ist vielleicht weniger geworden, aber die hausarbeitende Person hat dadurch nicht mehr Zeit, weil sie andere Dinge tun muss.

Wird es künftig wegen der Digitalisierung dennoch mehr Arbeitslosigkeit geben, wenn auch nicht massenhaft?
Ich glaube das tatsächlich nicht.

Das Volumen der Arbeit bleibt gleich?
Das Volumen legen ja wir als Gesellschaft fest. Da kommen zum Beispiel grüne Jobs ins Spiel. Das sind Jobs, die die Gesellschaft im weitesten Sinne nachhaltiger machen. Jobs in der ökologischen Landwirtschaft zum Beispiel, aber auch im nachhaltigen Tourismus. Wenn hier investiert wird, steigt das Arbeitsvolumen. Im Moment könnte man sich denken: Es wäre besser, wenn das Arbeitsvolumen sinkt, wir haben eh zu wenig Arbeitskräfte. Aber so ist es genau nicht. Auch Initiativen der öffentlichen Hand, zum Beispiel in Pflege oder in Bildung zu investieren, lohnen sich und erweitern das Arbeitsvolumen auf sinnvolle Weise. Das Arbeitsvolumen setzen wir fest, nicht der Markt.

Wer ist "wir"? Die Politik, die Vorgaben macht, die dann von der Wirtschaft umzusetzen sind?
Einerseits ja, aber die Politik kann auch sagen: "Wir unterstützen Firmen, die grüne Jobs schaffen." Oder sie kann selbst welche schaffen. Gerade was die Bildung betrifft, könnte man neue Jobs schaffen. Klar, das dauert, wenn man an den derzeitigen Lehrermangel denkt. Aber wenn sich für die Lehrerinnen und Lehrer die Arbeitsbedingungen verbessern, wird es irgendwann genügend Lehrkräfte geben. Das sind alles keine Naturgewalten. Das können wir steuern.

Unsere sozialen Sicherungssysteme funktionieren für diese neue Realität nur mehr eingeschränkt, argumentieren Sie. Wie kann man sie verbessern?
Ideal wäre es, allen Menschen das Lebensnotwendige bedingungslos zur Verfügung zu stellen. So wie ja auch andere Leistungen schon bedingungslos zur Verfügung gestellt werden, zum Beispiel Schulbildung oder die öffentliche Infrastruktur. Und darüber hinaus sollte man natürlich sinnvolle Erwerbsarbeit fördern. Ich habe nicht den Wunsch, dass ein großer Teil der Menschen nicht in Erwerbsarbeit ist. Erwerbsarbeit ist als Grundidee ein Erfolgsmodell. Aber man muss sie fair bezahlen und so gestalten, dass nicht mehr so viele Menschen sagen, sie können es sich nicht vorstellen, bis zur Pension so weiterzuarbeiten.

Diskussionen über ein bedingungsloses Grundeinkommen finden kaum statt. Für wie realistisch halten Sie es, dass so etwas kommt?
Ich schließe nicht aus, dass das in irgendeiner Form in nicht allzu ferner Zukunft kommt. Nicht unter diesem Namen, der ist für viele Menschen verbrannt. Aber es ist das einfachste und effektivste System und könnte das neue Fundament eines starken Sozialstaats sein. Beginnen wird man wahrscheinlich bei den Kindern und dann wird man auf die Erwachsenen übergehen.

»Das Beste wäre, wenn man versucht, aus dieser Logik herauszukommen, dass das, was dem Arbeitnehmer nutzt, dem Arbeitgeber schadet und umgekehrt.«

Verschieben sich die Dinge in der Arbeitswelt von selbst, weil der Druck durch die Arbeitnehmer immer größer wird, oder braucht es klare Ansagen der Politik?
Ideal wäre, wenn es von der Politik Unterstützung gäbe. Im Moment sehe ich eher ziemlich patscherte Versuche bestimmter Lobbys, die Teilzeitdebatte mit der Verkürzung der Normalarbeitszeit -Stichwort Vier-Tage-Woche -zu vermischen. Die meisten Menschen verstehen aber, dass das nicht dasselbe ist, und es kommt bei ihnen extrem schlecht an. Arbeit ist kein Nullsummenspiel. Das Beste wäre, wenn man versucht, aus dieser Logik herauszukommen, dass das, was dem Arbeitnehmer nutzt, dem Arbeitgeber schadet und umgekehrt. Viele Lösungen nutzen am Ende beiden. Und das müsste die Politik fördern.

ZUR PERSON: Barbara Prainsack ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Sie ist Expertin für Gesundheits-, Wissenschaftsund Technologiepolitik. 2020 erschien ihr Buch "Vom Wert des Menschen", 2021 "The Pandemic Within". Ihr neues Buch "Wofür wir arbeiten" ist in der Reihe "Auf dem Punkt", herausgegeben von Hannes Androsch, erschienen.