Mikl-Leitner: "Die Politik zeigt derzeit ein abstoßendes Bild"

Die niederösterreichische Landeshauptfrau, Johanna Mikl-Leitner, über die schlechten Umfragewerte für die ÖVP, die Anti-Asyl-Kampagne des Innenministers, die Russland-Sanktionen, die Maßnahmen gegen die Teuerung und die Performance der Bundesregierung.

von Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner © Bild: News/Ricardo Herrgott

Der ÖVP NÖ droht laut einer aktuellen Umfrage ein herber Verlust -statt auf 49,6 Prozent wie bei der letzten Landtagswahl kämen Sie nur noch auf 32 Prozent. Ist das nicht dramatisch?
Mit Umfragen ist das so eine Sache. Nehmen Sie die zur Bundespräsidentenwahl oder eben zu Wahlen in einzelnen Bundesländern. Wenn man sieht, dass von einer Woche zur anderen die Zustimmung zum Herrn Bundespräsidenten plötzlich um 13 Prozent sinken soll, frage ich mich schon, wie aussagekräftig solche Zahlen sind. Daher beschäftige ich mich in so herausfordernden Zeiten nicht mit kurzfristigen Umfragen, sondern mit langfristigen Strategien und konsequenter Arbeit für Niederösterreich. Mutig handeln und rasch helfen. Darum geht es jetzt.

Die Werte sind auch für die Bundes-ÖVP abgestürzt. Jetzt droht ihr sogar, von der FPÖ überholt zu werden. Wie erklären Sie sich das?
Sehen wir uns die Zahlen, Daten und Fakten an, dann zeigt sich, dass es generell einen Vertrauensverlust in der Politik gibt -egal bei welcher Partei. Das finde ich viel dramatischer. Warum ist das so? Weil offensichtlich heute Politik mehr durch anonyme Anzeigen und Schlammschlachten gemacht wird als mit konsequenter Arbeit. Derzeit zeigt die Politik ein abstoßendes Bild, eines der Vernaderung und der Skandalisierung. Verantwortungslos in Zeiten wie diesen.

Vielmehr wäre es wichtig, dass alle Parteien, egal ob in der Regierung oder Opposition, alles dafür tun, dass Österreich und die Menschen gut durch die Krise kommen. So wie wir das in Niederösterreich leben -ein Miteinander und nicht ein Gegeneinander, bei dem alle an einem Strang ziehen. Sieht man sich den derzeitigen Stil im Parlament an, dann wird dort Woche für Woche die Demokratie beschädigt. Das ist nicht das, was sich die Menschen erwarten.

Wer ist verantwortlich für diese Schlammschlacht; die Opposition?
Wenn Politik durch gegenseitige Angriffe und beabsichtigte Skandalisierung geprägt ist, dann ist es für die Menschen einfach abstoßend. Da nehme ich keinen aus.

»Es gibt keine Obmanndebatte in der ÖVP. Karl Nehammer ist genau der Richtige«

In der ÖVP hat man auch nicht den Eindruck, dass es dort besonders harmonisch zugeht. Zuletzt gab es sogar Gerüchte über einen Wechsel an der Spitze. Karl Nehammer kommt ja quasi aus Ihrem Umfeld. Hat er als Parteichef und Bundeskanzler ein Ablaufdatum?
Das hätten manche in der Opposition sicher gern. Klar ist, dass der Bundeskanzler eine besondere Verantwortung trägt, in einer Zeit größter Herausforderungen. Es sind mehrere Krisen auf einmal zu bewältigen - und dafür braucht es die Zusammenarbeit aller in der Politik. Karl Nehammer ist dazu genau der Richtige - als Bundesparteiobmann und als Bundeskanzler. Es gibt keine Obmanndebatte in der ÖVP.

Dennoch: Immer wenn es politisch eng wird, dann kommt auch der Ruf nach Ihnen - sozusagen als Retterin. Würden Sie sich das überhaupt antun?
(Lacht) Mein Platz ist in Niederösterreich. Und zu vereinzelten Neuwahl-Gelüsten - da halte ich es mit dem Herrn Bundespräsidenten, der sagt: Jetzt ist nicht die Zeit für Neuwahlen. Sondern die Zeit der Arbeit für die Republik.

Uneinigkeit herrscht in der ÖVP offenbar auch, was die Sanktionen gegen Russland betrifft. Einige Landeshauptlaute sagen, man sollte diese überdenken, andere sind für ihre Beibehaltung. Gibt es eine generelle Linie?
Ich glaube, dass es hier keine unterschiedliche Meinung gibt, sondern das gilt, was auch die Bundesregierung sagt. Dass Sanktionen natürlich laufend auf ihre Wirkung überprüft werden müssen. Auch auf europäischer Ebene wird dieser EU-Ratsbeschluss laufend überprüft. Und das war auch das, was die jeweiligen Landeshauptleute zum Ausdruck gebracht haben. Bei den Sanktionen sollte man auch auf die Wirtschaftsforscher hören: Sie erklären, dass die Sanktionen das Wachstum in Russland um sechs bis zehn Prozent verringern - wir aber trotzdem für nächstes Jahr eine Prognose von 2,7 Prozent Wirtschaftswachstum haben.

Da Sie die Bundespräsidentenwahl erwähnt haben: War es ein Fehler, dass ÖVP oder SPÖ - als staatstragende Parteien - keinen eigenen Kandidaten aufgestellt und damit anderen eventuell nicht ganz ernst zu nehmenden Kandidaten eine Bühne überlassen haben?
Wir leben Gott sei Dank in einer Demokratie, in der in diesem Fall eben 6.000 Unterstützungsunterschriften notwendig sind, um zu dieser Wahl antreten zu können. Diejenigen, die das geschafft haben, kandidieren. ÖVP und SPÖ haben sich anders entschieden - und ich muss schon eines sagen: Ich bin viel im Land unterwegs und erlebe, dass viele in der Bevölkerung froh über die Kandidatur von Alexander Van der Bellen sind. Und ich kann das verstehen. Die Entscheidung ist auch ein Zeichen der Wertschätzung, dass er das Amt in einer schwierigen Situation gut ausgeübt hat.

Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner
© News/Ricardo Herrgott Johanna Mikl-Leitner
Johanna Mikl-Leitner
Die Niederösterreicherin (*9. Februar 1964) studierte Wirtschaftspädagogik, unterrichtete an der HAK Laa an der Thaya und war als Unternehmensberaterin tätig. Ihre politische Karriere begann sie 1995 als Marketingleiterin der ÖVP NÖ, wo sie 1998 Landesgeschäftsführerin wurde. Ein Jahr später wurde sie Nationalratsabgeordnete, 2003 niederösterreichische Soziallandesrätin und 2011 bis 2016 Innenministerin. Danach kehrte sie in die Landespolitik zurück. Seit 2017 ist sie Landeshauptfrau von Niederösterreich.
»Es braucht ganz klare Signale: Bei Migration aus rein wirtschaftlichen Gründen gibt es kein Asyl«

Zuletzt hat die ÖVP verstärkt wieder Migration und Asyl thematisiert. Man hat den Eindruck, immer wenn es opportun erscheint, rückt der Innenminister aus und bringt das Thema aufs Tapet - siehe etwa dessen Anti-Asyl-Kampagne ...
Es geht nicht darum, ob es opportun ist, sondern um Zahlen, Daten und Fakten sowie Notwendigkeit. Österreich hat bereits jetzt so viele Asylanträge wie im ganzen letzten Jahr. Das heißt, wir kommen hier an die Grenze der Belastbarkeit, und deswegen ist es auch verständlich, dass der Innenminister ganz klar davor warnt. Wir sind mit Asylanträgen von Menschen aus Ländern konfrontiert, in die viele von uns in den Urlaub fahren, wie Tunesien, Indien oder Marokko. Und es geht darum, die Menschen, die sich auf die Flucht machen, zu schützen, damit sie nicht gefährliche Wege auf sich nehmen und ihr Leben riskieren. Und sie vor den Schleppern zu schützen, für die ein Menschenleben gar nichts zählt. Es braucht daher klare Signale an diese Menschen: Bei Migration aus rein wirtschaftlichen Gründen gibt es kein Asyl -nicht in Europa und nicht in Österreich. Deshalb gibt es ein Bündel an Maßnahmen - Grenzkontrollen an der ungarischen Grenze, an der EU-Außengrenze und Allianzen auf europäischer Ebene.

Die ÖVP führt seit Jahrzehnten mit einer Unterbrechung das Innenministerium, das Thema Abschiebungen wurde aber nie gelöst. Man hat oft den Eindruck, gut integrierte Leute werden abgeschoben; kriminelle nicht. Was läuft da falsch?
Also ganz klar ist, dass unabhängige Behörden darüber entscheiden, wer im Land bleiben darf und wer nicht - und nicht die Politik. Und ich halte es auch für wichtig, dass man bei den Abschiebungen konsequent ist, damit das Asylsystem auch weiterhin glaubwürdig bleibt. Im Vergleich zum Vorjahr gibt es heuer bereits zehn Prozent mehr Abschiebungen.

Das Thema, das die Menschen derzeit am meisten beschäftigt, ist die Teuerung. Auch da gibt es Umfragen, die sagen, die Lösungskompetenz der ÖVP ist diesbezüglich gering. Am meisten wird da der SPÖ zugetraut und auch der FPÖ. Fehlt der ÖVP das richtige Konzept insbesondere, was die soziale Treffsicherheit der Maßnahmen angeht?
Natürlich wünschen sich die Menschen, dass bei jeder Maßnahme volle Treffsicherheit gegeben ist - was im Übrigen auch ein Thema des Datenschutzes ist. Ich kann es von meiner Warte aus Niederösterreich beurteilen. Wir haben einstimmig fünf konkrete Hilfen beschlossen -beim Strom, beim Heizen, beim Wohnen, beim Pendeln und beim Schulstart. Wir haben dabei sehr auf die soziale Treffsicherheit geachtet. Und wir nutzen vorhandene Strukturen, um die Förderungen von der öffentlichen Hand hin zu den Bürgerinnen und Bürgern zu bringen. Damit vermeiden wir, dass neue, kostspielige Strukturen aufgebaut werden müssen.

Wie gewährleisten Sie die soziale Treffsicherheit?
Nehmen wir den blau-gelben Strompreisrabatt. Wir haben gemeinsam mit Expertinnen und Experten ein Modell entwickelt, das sich nach der Anzahl der Menschen im Haushalt richtet und nicht nach der Größe des Wohnraums. Egal wie groß oder klein die Wohnung ist, jeder bekommt je nach Anzahl der Personen im Haushalt genau dasselbe. Damit profitieren unsere einkommensschwächeren Landsleute mit kleinerem Wohnraum und geringerem Stromverbrauch deutlich mehr als andere. Um einen zusätzlichen Anreiz zum Energiesparen zu schaffen, werden nur 80 Prozent des durchschnittlichen Haushaltsverbrauchs laut E-Control gefördert. Unterm Strich ergibt dieses Berechnungsmodell für jede Haushaltsgröße einen fixen Betrag, den jede und jeder ganz einfach unter Meinlandhilft.at einsehen und beantragen kann - egal bei welchem Energieversorger jemand seinen Vertrag hat.

Funktioniert diese Förderung auch bei weiter steigenden Preisen, oder ist sie begrenzt?
Derzeit beträgt sie 0,11 Euro pro Kilowattstunde. Das wurde mittels Verordnung festgelegt; die Förderung kann aber jederzeit erhöht werden, sollte es notwendig sein.

Die Regierung hat jetzt ihren Strompreisdeckel präsentiert. Wird er den niederösterreichischen Stromrabatt ersetzen?
Der blau-gelbe Strompreisrabatt als Entlastung der niederösterreichischen Haushalte bleibt selbstverständlich aufrecht. Das haben wir von Anfang an so versprochen -und darauf können sich unsere Landsleute auch verlassen. Ich bin sehr froh, wenn jetzt auch von Bundesseite Entlastungen beim Strompreis kommen, denn jede weitere Maßnahme durch den Bund ist eine zusätzliche Entlastung für unsere Landsleute - auch für andere Lebensbereiche. Und das ist in diesen herausfordernden Zeiten auch wichtig.

Sollte nicht besser das Merit-Order-System abgeschafft werden, um die massiven Strompreiserhöhungen in Europa in den Griff zu bekommen?
Ja. Wichtig erscheint mir, dass der Strompreis vom Gaspreis abgekoppelt und das Merit-Order-System, nach dem der Strompreis berechnet wird, abgeschafft wird. Wenn das nicht rasch gelingt, dann braucht es zumindest Übergangslösungen. Klar ist auf jeden Fall, dass dieses System vor der Krise seine Berechtigung gehabt haben mag. In der jetzigen Phase ist es aber für eine krisenfeste Energiepolitik ungeeignet. Ändert sich nichts, kann das den Wirtschaftsstandort Europa nachhaltig gefährden.

Um aus der Gaskrise herauszukommen, wird auch intensiv über die Produktion von niederösterreichischem Schiefergas nachgedacht. Ist das für Sie eine interessante Alternative?
Es soll nun neue, ökologisch unbedenkliche Verfahren geben. Dazu muss es erst einmal eine deutliche Meinungsbildung unter den Expertinnen und Experten geben und klare Aussagen aus dem Umweltressort.

Die Wien Energie ist aufgrund ihrer Aktivitäten auf dem Strommarkt in schwere Turbulenzen geraten. Kann das auch der EVN passieren?
Laut unseren Experten derzeit nicht. Die EVN handelt, anders als die Wien Energie, nicht an der Strombörse.

Die Menschen sind völlig verunsichert, was bei der Teuerung noch auf sie zukommt. Was unternimmt Niederösterreich noch dagegen?
Die Menschen sind natürlich verunsichert, denn wir leben wirklich in den herausforderndsten Zeiten unserer Generation. Und alle bekommen diese globalen Krisen und die damit verbundene Inflation und Teuerung zu spüren. Wir haben analysiert, welche Maßnahmen der Bund setzt und was es zusätzlich noch seitens des Landes braucht. Und in der Folge ein Bündel an Maßnahmen beschlossen, um der Teuerung zu begegnen und die Menschen gut durch die Krise zu bringen.

Angesetzt wurde dort, wo die Menschen am meisten betroffen sind. Das heißt vor allem unterstützen beim Pendeln, beim Heizen, beim Wohnen, beim Schulstart und natürlich auch bei den Stromkosten. Gerade beim Schulstart wissen alle, dass der sehr teuer ist und in die Geldbörse geht. Deswegen gibt es bei uns zusätzlich pro Schüler und Lehrling bis 18 Jahre 100 Euro, um nur ein Beispiel zu nennen.

»Bei den Energiepreisen braucht es eine Lösung. Sonst sehen wir einer Schließungswelle entgegen«

Was halten Sie von einem Benzinpreisdeckel, einer Mehrwertsteuersenkung auf Lebensmittel oder einer Übergewinn-Besteuerung?
Grundsätzlich darf es in so einer Situation keine Denkverbote geben, um den Menschen zu helfen. Die Bundesregierung hilft jedenfalls schon einmal mit Sofortmaßnahmen in Höhe von fünf Milliarden Euro sowie einer Milliarde zusätzlich für die Wirtschaft. Sie zu unterstützen ist jedenfalls ganz, ganz wichtig, denn Wirtschaft und Arbeitsplätze sind massiv von den Energiepreisen betroffen. Da braucht es eine Lösung, sonst sehen wir einer Schließungswelle entgegen.

Wie sind Sie mit der Performance der Regierung bisher insgesamt zufrieden?
Ich meine, dass die Bundesregierung bereits viele Schritte zur Bewältigung der Krise gesetzt hat. Und dabei oft unter Wert geschlagen wird. Dazu tragen natürlich die ständigen Beschimpfungen und Vernaderungen im Parlament bei. Und das schadet gerade in einer Phase der Krisenbewältigung letztlich dem generellen Vertrauen in die Politik -nicht nur der Bundesregierung.

Und die Zusammenarbeit mit den Grünen?
Ich messe die Bundesregierung an der Krisenbewältigung. Auch hier gilt es, ein Miteinander zu leben zwischen Bund und Ländern, aber natürlich auch in der Bundesregierung.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 36/2022 erschienen.