Politiker dürfen die "ZIB 2" nicht mögen

Bundeskanzler Karl Nehammer und Interviewer Martin Thür lieferten sich einen heftigen Schlagabtausch in der "ZIB 2". Das hat zu einer Diskussion über die Machart dieses Flaggschiffs des ORF geführt. Wer sie in Frage stellt, vertritt den Rückschritt

von Medien & Menschen - Politiker dürfen die "ZIB 2" nicht mögen © Bild: Gleissfoto

Die "ZIB 2" ist die wichtigste Informationssendung Österreichs, obwohl die "Zeit im Bild" zweieinhalb Stunden davor doppelt so viele Zuschauer hat. Aktuell, im Patschenkino fördernden Winter, sind das durchschnittlich 1,3 Millionen Menschen, mehr als die Hälfte aller österreichischen Fern-Seher um 19.30 Uhr. Zum Vergleich: In Deutschland erreicht die "Tagesschau" nur 40 Prozent Marktanteil. Trotzdem hat die "ZIB 2" mehr Gewicht. Schon sein Publikumsabstand zum Quoten-Flaggschiff ist geringer als jener von "Tagesthemen" und "heute-journal" zu den Hauptabendnachrichten von ARD und ZDF. Die "ZIB 2" erzielt allein deutlich mehr Quote als ihre beiden deutschen Pendants zusammen. Sie hat 30 Prozent Marktanteil. Jeder Dritte, der um ihre Sendezeit fernsieht, schaut sie.

Die Reichweite entsteht in hohem Maß durch Personalisierung des Formats. Armin Wolf, Martin Thür und - nach Lou Lorenz-Dittlbacher statt der karenzierten Margit Laufer - Marie-Claire Zimmermann sind, in dieser Reihenfolge, die wahren Zugnummern der Sendung. Die Hauptursache der auch für Anchor(wo)men übermäßigen Wirkung ist das zentrale Element dieser Newsshow: das große Interview. Wird es nicht mit Experten, sondern mit Politikern geführt, gerät es regelmäßig zum Duell.

Weder im "heute-journal" noch in den "Tagesthemen" gibt es eine derart starke Konzentration auf ein Gespräch. Das Erfolgsgeheimnis der "ZIB 2" ist aber auch Ziel massiver Kritik. Sie gilt der angeblich unstatthaften Macht der Interviewer. Oberflächlich betrachtet hat Bundeskanzler Karl Nehammer deshalb eine wilde Attacke gegen den darauf nicht gefassten Martin Thür geritten. In Wahrheit war das aber ein Einschüchterungsversuch gegen den ORF insgesamt. Insgeheim wurde er parteiübergreifend begrüßt.

Alle Politiker fürchten die "ZIB 2". Keiner mag die Gesprächsführung von Armin Wolf und Martin Thür. Das spricht klar für ihren Fragestil, der von akribischer Vorbereitung und konfrontativer Umsetzung geprägt ist. Aber Interviews sind nur eine Facette von Journalismus. Die Moderation ist ein ebenso stark im Vordergrund stehender Aspekt. Recherche und Gestaltung der Beiträge ernten weniger Beachtung. Höchstens die Wortmeldungen der Korrespondenten wirken als Kontrapersonalisierung.

Die Doppelfunktion als Moderator und Interviewer macht aus den "ZIB 2"-Galionsfiguren geradezu Super-Anchormen. Wer das nicht will, muss über Gesprächsverzicht oder Funktionsentflechtung nachdenken. Sowohl die Entkernung als auch eine Aufgabenteilung wären allerdings Rückschritte. Das zeigt ein weiterer Blick zu den Nachbarn, wo die zwischen den ARD-Anstalten verteilten, oft mühsam vom Teleprompter abgelesenen Kommentare an schlechte alte Fernsehzeiten erinnern.

Die selbstbewusste Eigenständigkeit der "ZIB 2" hingegen ist für den ORF heute das, was einst der "Club 2" für ihn war: ein europaweit vorbildhaft wirkendes Aushängeschild für die öffentlich-rechtliche Widerständigkeit gegenüber politischer Diskursverflachung. Während die altbacken noch von reinen Sprecher:innen vorgetragene "Tagesschau" kein Muster für die "Zeit im Bild" sein kann, sind die Besonderheiten der "ZIB 2" eine international anerkannte Avantgarde, die es zu erhalten gilt. Nicht von ungefähr schauen täglich 200.000 Menschen außerhalb von Österreich die Sendung via 3sat.

In Krisen orientiert sich die Bevölkerung noch stärker an diesem Format. Nach einer Steigerung ab der Ibiza-Affäre hatte es im Coronajahr 2020 inklusive Auslandssehern durchschnittlich eine Million Zuschauer. Es gehört zum Anforderungsprofil eines Topbundespolitikers, sich der "ZIB 2", ihren Machern und dem durch sie vertretenen Publikumspotenzial souverän zu stellen. Alle Zahlen, Daten und Fakten sprechen gegen eine Änderung von Machart und Anspruch dieser Sendung.