Martin Polaschek: "Solche Reformen dauern viele, viele Jahre"

Bildungsminister Martin Polaschek will keine Grundsatzdiskussionen beginnen, sondern sieht seine Verantwortung "vor allem für die Kinder, die jetzt in der Schule sind". Seine Herzensanliegen im Bildungsbereich: Digitalisierung, Lehrerbildung, Demokratieskepsis.

von Martin Polaschek: "Solche Reformen dauern viele, viele Jahre" © Bild: Ricardo Herrgott
Geboren 1965 in Bruck an der Mur, studierte Polaschek Rechtswissenschaften an der Universität Graz, wo er sich 2000 habilitierte. Ab 2003 war Polaschek Studienrektor sowie Vizerektor für Studium und Lehre der Universität Graz, Anfang 2019 wurde er zum Rektor der Universität Graz. Seine Bestellung zum Bildungsminister Ende 2020 geschah auf Wunsch des steirischen Landeshauptmanns. Polaschek wurde seit seinem Amtsantritt kritisiert, er sei visionslos und für Stakeholder im Bildungsbereich zu wenig ansprechbar.

Sie betonen oft, dass Sie nicht so viel Zeit in Wien verbringen, sondern durch die Bundesländer fahren und mit den Menschen sprechen. Was erzählen Ihnen die Leute da, in welchem Zustand ist Österreichs Bildungssystem zwei Jahre nach Pandemiebeginn?
Es ist eine herausfordernde Zeit für die Lehrerinnen und Lehrer genauso wie für die Eltern und die Kinder. Aber ich erlebe, wenn ich mit den Menschen vor Ort rede, eher Optimismus. Dass man sagt, es war nicht immer einfach, aber es geht bergauf, wir sind auf dem Weg zur Normalität.

Die Pandemie hat in vielen verschiedenen Bereichen der Gesellschaft bestehende Schwächen aufgezeigt. Was ist das größte Problem, das Corona im Bildungsbereich sichtbar gemacht hat?
Das kann man nicht so einheitlich sagen. Wir haben gesehen, dass wir gerade im Digitalisierungsbereich Aufholbedarf hatten. Diese Lücken schließen wir jetzt. Wir schauen, dass wir die Schulen entsprechend mit Breitbandanschluss und WLAN ausstatten, dass wir die digitalen Endgeräte zur Verfügung stellen und auch immer mehr Schulungen für digitales Lernen anbieten. Ich glaube, wir haben gesehen, dass es wichtig war, zu Beginn der Pandemie auf Distance Learning umzustellen, aber dass man jetzt auf jeden Fall für offene Schulen sorgen muss, weil der persönliche Austausch extrem wichtig ist.

Oft wird die Befürchtung geäußert, dass sich das Niveau zwischen den Schülerinnen und Schülern in diesen Jahren sehr auseinanderentwickelt hat - Kinder, die zu Hause gut unterstützt werden, sind gut mitgekommen, Kinder, die diese Unterstützung nicht erfahren, weniger gut. Bereitet Ihnen diese Entwicklung Sorge?
Ja. Es gibt durchaus Indizien dafür, wir versuchen das noch näher festzustellen. Lehrerinnen und Lehrer erzählen, dass manche Kinder viel Rückstand haben und andere weniger. Aber gerade aus dem Grund hat ja die Bundesregierung ein umfangreiches Förderpaket zur Unterstützung der Schülerinnen und Schüler beschlossen. Wir nehmen da einiges an Geld in die Hand, damit die Kinder entsprechende Förderstunden bekommen. Wir haben die schulpsychologische Beratung ausgebaut und es wird zusätzliches Geld in Onlineplattformen fließen.

Reichen diese Maßnahmen aus? Lehrerinnen schreiben uns, diese Förderstunden sind eine Augenauswischerei.
Es gibt ein riesiges Angebot an Förderstunden. Diese müssen aber auch abgerufen werden, derzeit ist das allerdings nicht der Fall, wir stellen wesentlich mehr Stunden bereit, als abgerufen werden. Man darf auch nicht vergessen, dass wir heuer wieder die Sommerschule anbieten. Was wir auch gesehen haben, ist, dass den Kindern in der Zeit die Bewegung gefehlt hat. Wir werden den Juni zum Monat des Schulsports erklären. Damit die Kinder wieder Freude an Bewegung entwickeln, aber auch um ihnen zu zeigen, dass Sport wichtig ist im Sinne von Resilienz. Dass man sich, wenn es einem nicht so gut geht, durch den gemeinsamen Sport und Leistung im Sport besser fühlt.

Österreich ist ein Land, in dem Bildung stark weitervererbt wird, die Pandemie verstärkt hier nur ein bestehendes Problem. Ist das eine Ungerechtigkeit, die Sie beseitigen möchten?
Dass es hier eine große Herausforderung für das Bildungssystem gibt, ist keine Neuigkeit, da hat aber schon Heinz Faßmann als mein Vorgänger sehr aktive Maßnahmen in die Wege geleitet. Ich darf nur auf das Projekt "100 Schulen" verweisen. Mittelfristig muss es natürlich unser Ziel sein, dass alle Kinder, die in die Schule gehen, bestmöglich betreut werden und mit dem bestmöglichen Ergebnis aus der Schule rausgehen, egal von wo sie starten.

»Lehrerinnen und Lehrer erzählen, dass manche Kinder viel Rückstand haben, andere weniger«

Viele Experten sind der Meinung, es würde sehr helfen, wenn alle Kinder in Österreich sechs oder acht Jahre zusammen in die Schule gehen, nicht nur vier. Ist das eine Idee, der Sie etwas abgewinnen können?
Diese Diskussionen gibt es, seitdem ich mich mit Bildungsfragen beschäftige. Ich glaube nicht, dass das wirklich das Thema ist. Es gibt Länder, da hat man verschiedene Modelle probiert und ist teilweise auch wieder davon weggekommen. Wir sollten keine großen Grundsatzdiskussionen beginnen, sondern die besten Maßnahmen entwickeln, die wir jetzt gleich einsetzen können, um den Kindern sofort zu helfen. Solche Reformen dauern viele, viele Jahre. Wir haben ein gut aufgestelltes, differenziertes Schulsystem. Für mich ist weniger die Frage, wie schauen Schulstrukturen aus, für mich steht und fällt das ganze System mit möglichst qualifizierten Lehrerinnen und Lehrern. Da sollten wir ansetzen.

Eine längere gemeinsame Schule hätte auch den Vorteil, dass die große Entscheidung über die weitere Schullaufbahn nicht schon im Alter von neun Jahren getroffen werden muss. Die Beteiligten leiden sehr unter diesem Druck.
Ich glaube, es geht nicht um den Zeitpunkt. Es geht darum, die Kinder bestmöglich darauf vorzubereiten. Es geht auch darum, die Eltern gut zu informieren und gut mitzunehmen. Mit den pädagogischen Maßnahmen, die in den letzten Jahren in die Wege geleitet worden sind, wird das gut funktionieren. Ich sehe eigentlich keinen Sinn darin, jetzt solche Grundsatzdiskussionen zu führen.

© Ricardo Herrgott

Aber irgendwann muss man anfangen.
Ich sehe meine Verantwortung vor allem für die Kinder, die jetzt in der Schule sind, und ich glaube, wir müssen für alle zukünftigen Generationen alles daransetzen, dass wir jetzt die besten Lehrer in die Schulen kriegen. Ich glaube, unser System ist in der bestehenden Form gut aufgestellt.

Sie haben sich schon festgelegt, was die Matura betrifft, die wird heuer ganz normal stattfinden. Wäre es nicht eine gute Gelegenheit gewesen, das Konzept Matura zu überdenken? Ich glaube, dass die Matura, wie wir sie haben, sich bewährt hat. Auch da kann man überlegen: Wie sollen Schule und Schulabschlüsse generell zukünftig aussehen?
Ihre Funktion als Studienberechtigungsprüfung hat sie nur mehr eingeschränkt, für viele Studien muss man noch eine Aufnahmeprüfung machen. Eine Matura ist mehr als nur die Bescheinigung, dass man nachher studieren darf. Ich halte die Matura für einen besonderen Höhepunkt eines Schülerinnen-und Schülerlebens. Es ist auch beim Studium ein Unterschied, ob Sie einfach zahlreiche Einzelprüfungen machen und sich irgendwann Ihr Zeugnis in der Studien-und Prüfungsabteilung holen, oder ob Sie am Schluss im Rahmen eines Rigorosums noch einmal vor einer Kommission antreten.

Es geht um das Ritual?
Ich halte viel davon. Deswegen halte ich die Matura auch für so wichtig. Es ist ein Signal. Es ist ein wirklich festlicher Abschluss. Und es ist auch eine gute Möglichkeit für die jungen Menschen, sich auf ein Stoffgebiet zu konzentrieren und in einer mündlichen Prüfung zu bestehen. Das braucht man im späteren Leben auch. Es gibt eine sehr lange Tradition in Österreich, was die Matura angeht.

Wenn man dem öffentlichen Diskurs folgt, hat man manchmal das Gefühl, es gibt in Österreich nur diese eine Art, eine Schullaufbahn zu beenden. Sollten wir nicht mehr über z. B. die Lehrabschlussprüfung reden, gerade vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels?
Ja. Ich darf das an einer Kleinigkeit aufziehen: An und für sich spreche ich auch sehr oft über abschließende Prüfungen, über AHS und BHS, und im Endeffekt kommt dann immer nur das Wort Matura rüber und auch die Journalistinnen und Journalisten schreiben oft nur Matura (AHS). Natürlich gibt es AHS und BHS. Es ist aber auch eine Lehrabschlussprüfung wichtig. Gerade zur Aufwertung der beruflichen Bildung - was etwa die Einordnung in den nationalen Qualifikationsrahmen angeht -ist im letzten Jahr sehr viel passiert. Wir haben da sehr klar Signale gesetzt. Ich glaube, dass gerade diese Regierung sehr viel in dieser Hinsicht getan hat.

Trotzdem reden alle immer nur über die Matura.
Bei uns im Ministerium ist das ja nicht so. Aber da sind wir wieder bei dieser Sichtbarkeit, deswegen halte ich die Matura ja auch für so wichtig: Die Zeitungen schreiben darüber, dass die Schülerinnen und Schüler Matura haben, dass die weiße Fahne hängt, junge Menschen gehen am Nachmittag schön gekleidet in ein Kaffeehaus und feiern. Man merkt, dass da etwas Besonderes passiert. Deswegen bleibt es auch mehr hängen in den Köpfen der Menschen. Wir müssen die Leistungen der Lehre auch mehr vor den Vorhang holen. Dass es ganz toll ist und eine besondere Leistung, einen Lehrabschluss zu machen. Man sollte es nicht höher oder niedriger bewerten.

»Eine Matura ist mehr als eine Bescheinigung, dass man nachher studieren darf«

Ein großes Problem, das in den letzten beiden Jahren sichtbar geworden ist, ist die Wissenschaftsfeindlichkeit, die nicht zuletzt zu der gesellschaftlichen Spaltung führt, die wir gerade erleben. Die Impfgegner-Partei MFG hat sogar bei der Ärztekammerwahl verblüffend viele Stimmen erreicht. Wie wollen Sie als Bildungsminister diesem Problem begegnen?
Ich sehe das als wirklich große Herausforderung. Ich habe die Eurobarometer-Studie noch als Rektor auf meinen Schreibtisch bekommen, habe sie überblättert und bin aus allen Wolken gefallen. Ich habe mir damals schon gedacht, dagegen muss etwas getan werden. Jetzt bin ich in der glücklichen Lage, als Bildungsminister auch einiges an Maßnahmen setzen zu können. Wir werden jetzt als Erstes ganz konkret eine Ursachenstudie machen. Wir wollen uns anschauen: Gibt es bestimmt Gruppen, wo die Wissenschaftsfeindlichkeit besonders groß ist, und was sind Gründe dafür? Dann werden wir uns ganz konkret auf Zielgruppen hin maßgeschneidert Maßnahmen überlegen. Mit einigen Dingen beginnen wir gleich: Wir wollen zum Beispiel Wissenschaftsbotschafterinnen und -botschafter in die Schulen schicken und sind gerade dabei, uns mit den Science Busters verschiedene Formate zu überlegen.

Sie sind erst seit ein paar Monaten Bildungsminister, haben aber davor als Rektor und Mann der Wissenschaft die Situation in Österreich beobachtet. Haben Sie eine Erklärung, warum das Problem der Wissenschaftsfeindlichkeit in Österreich größer als in anderen Ländern ist?
Nein, habe ich nicht. Ich komme zwar aus der Wissenschaft, aber ich bin kein Wissenschaftstheoretiker. Mir ist das Problem nicht so bewusst gewesen. Wir wissen zwar aus Studien, dass es das vorher gegeben hat, aber es ist eigentlich nicht so wirklich aufgefallen. Die Pandemie hat das jetzt sehr stark in den Fokus gerückt.

Muss man auch bei den Lehrplänen ansetzen, um diesem Problem zu begegnen?
Auch da werden wir tätig. Es hat einen mehrjährigen Prozess gegeben, in dem die Lehrpläne überarbeitet worden sind und der noch heuer abgeschlossen wird. Wir gehen davon aus, dass wir im Laufe der nächsten Wochen in einen öffentlichen Stellungnahmeprozess gehen können. In diesen Lehrplänen werden wir auch darauf achten, dass fächerübergreifende Themen stärker in den Mittelpunkt gerückt werden. Es geht um Interdisziplinarität, aber auch um Schwerpunktbildungen im Bereich Medienbildung und demokratiepolitische Bildung. Denn Wissenschaftsfeindlichkeit hängt für mich auch sehr stark mit Demokratiefeindlichkeit zusammen. Wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wegen ihrer Aussagen bedroht werden, haben wir auch ein Problem als Gemeinwesen. Meinungsfreiheit ist ein ganz wichtiges Grundrecht.

Sie haben als Bildungsminister jetzt die Chance, zu gestalten. Gibt es ein Herzensprojekt, für das Sie besonders brennen, ein Anliegen, das Sie in dieser Zeit unbedingt angehen wollen?
Um diese Frage zu beantworten, bräuchte ich noch mindestens eine halbe Stunde Zeit, weil ich mehrere Dinge habe, die mir wichtig sind. Das eine ist die Digitalisierung. Ich halte es für ganz wichtig, dass sie in den Köpfen ankommt und Teil der Schule wird. Dabei geht es mir nicht primär darum, dass Menschen lernen, zu programmieren, sondern um Digitalisierung als gesellschaftlichen Prozess. Medienbildung, Fake News, Cybermobbing. All das sind Dinge, die man angehen muss. Ein zweites Thema, das mir wichtig ist, ist die Frage der Lehrerbildung. Das war mir schon an der Universität ein besonderes Anliegen. Wir müssen versuchen, dem Lehrermangel zu begegnen und die besten Lehrerinnen und Lehrer hervorzubringen. Und schließlich die ganze Frage der Demokratieskepsis. Eine gesellschaftspolitisch enorm wichtige Aufgabe, für die ein Bildungsressort als Gesamtes brennen muss.

Dieses Interview erschien ursprünglich im News 14/2022.