Vom mutmaßlichen Straftäter zum Strippenzieher der Weltpolitik: Mohammed bin Salmans Ruf war ramponiert, westliche Politiker haben ihn gemieden. Jetzt sitzen sie mit Saudi-Arabiens mächtigstem Mann an einem Tisch – obwohl dieser sein Land repressiver führt denn je.
von Anne Allmeling, zuerst erschienen in der „Neue Zürcher Zeitung“ am 18.3.2025
Mehr internationale Anerkennung hätte sich Mohammed bin Salman kaum wünschen können: Als Gastgeber für Verhandlungen über den Ukraine-Krieg stand der saudische Kronprinz in den vergangenen Wochen gleich zweimal im Rampenlicht. Mitte Mai beherbergte er ein Treffen zwischen hochrangigen Vertretern der Ukraine und der USA in der Hafenstadt Jidda. Mitte Februar hatte er bereits bilaterale Konsultationen zwischen Russland und den USA in der Hauptstadt Riad ermöglicht. Der größte Golfstaat als Gastgeber für internationale Friedensgespräche: ein Prestigeerfolg für den faktischen Herrscher Saudi-Arabiens.
Vor wenigen Jahren schien das noch undenkbar. Nach dem Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul im Oktober 2018 hielten sich viele westliche Politiker von Mohammed bin Salman fern. Die CIA sieht es als erwiesen an, dass der Lieblingssohn des alten und kranken Königs Salman den Mord an Khashoggi in Auftrag gegeben hat. Die öffentliche Empörung war gewaltig; die Zusammenarbeit mit einem Prinzen, der einen missliebigen Kritiker beseitigen lässt und ungestraft weiterregiert, wurde vielen Staats- und Regierungschefs zu heikel. Stattdessen zelebrierten sie ihre moralische Überlegenheit.
Im Wahlkampf um das Präsidentenamt versprach Joe Biden 2019 sogar, Saudi-Aarabien zum Außenseiter zu machen. Doch er hielt sich nicht daran: Gerade einmal drei Jahre später reiste er – inzwischen als Staatsoberhaupt – nach Riad, um Mohammed bin Salman zu einer Steigerung der Erdölproduktion zu bewegen. Biden stand innenpolitisch wegen hoher Benzinpreise unter Druck. Das wog für ihn auf einmal schwerer als die Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien. Der Ukraine-Krieg hatte dem amerikanischen Präsidenten einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Ukraine-Krieg stärkt Position
Dass Russland im Februar 2022 die Ukraine angriff, begünstigte die Rückkehr von Mohammed bin Salman aufs internationale Parkett. Aber schon vor dem Krieg dürften die Kritiker des Kronprinzen geahnt haben, dass sich der mächtigste Mann Saudi-Arabiens nicht so leicht isolieren lässt: Als größter Erdölexporteur der Welt kann das Königreich die eigene Fördermenge und damit auch indirekt den Ölpreis beeinflussen. Mit den zweitgrößten Erdöl-
vorkommen der Welt ist Saudi-Arabien zu wichtig für die Weltwirtschaft, als dass man es ignorieren könnte. Allerdings hatte kein amerikanischer oder europäischer Politiker den Schneid zuzugeben, dass moralische Bedenken kaum noch eine Rolle spielen, wenn die Wirtschaft schwächelt.
Weil russisches Öl nach Kriegsbeginn von zahlreichen Staaten mit Sanktionen belegt worden war, hatten westliche Staats- und Regierungschefs gehofft, dass nun Riad einspringen und die entstandene Lücke füllen würde. Spitzenpolitiker wie seinerzeit der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz folgten Bidens Beispiel und besuchten den Kronprinzen in Saudi-Arabien. Der erteilte dem Wunsch nach höheren Fördermengen zwar eine Absage. Aber er nutzte jede Gelegenheit, sich mit seinen Gästen öffentlich zu inszenieren. Ausgerechnet diejenigen, die den saudischen Kronprinzen ächten wollten, stärkten sein internationales Ansehen.
Eine wichtige Rolle für das Comeback des Kronprinzen spielte aber auch Wladimir Putin: Der russische Präsident scheute sich zu keiner Zeit, sein gutes Verhältnis zu Mohammed bin Salman zur Schau zu stellen. Gerade einmal zwei Monate nach dem Mord an Khashoggi begrüßte er den saudischen Kronprinzen auf dem G20-Gipfel in Buenos Aires vor den Kameras internationaler Fernsehteams mit einem herzlichen Handschlag. Keiner der beiden Staatsführer hat Skrupel, Kritiker und Gegner mit brutalen Mitteln aus dem Weg zu räumen. Mohammed bin Salman und Putin pflegen seit Langem ein kumpelhaftes Verhältnis. Keiner von beiden macht dem anderen moralische Vorhaltungen.


Der Fall Khashoggi. Nach dem Mord an Jamal Khashoggi galt Kronprinz Mohammed bin Salman im Westen als Persona non grata – die politische Distanz war groß, der Skandal global.
© Foto: NICHOLAS KAMM / AFP / picturedesk.comKontaktpflege in alle Richtungen
Im Ukraine-Krieg ergriff Mohammed bin Salman – anders als viele westliche Staats- und Regierungschefs – weder für die eine noch für die andere Seite Partei. Das Königreich hält den Kontakt zu Russland, obwohl es seit Jahrzehnten ein strategischer Partner der USA ist. Für die zuverlässige Versorgung der Weltgemeinschaft mit Öl erhält Saudi-Arabien Sicherheitsgarantien von den USA.
Die Vorstellungen der beiden Staaten darüber, was damit gemeint ist, gingen jüngst allerdings auseinander: Nach Irans Drohnenanschlag auf saudische Ölanlagen 2019 fühlten sich die Saudis düpiert, weil Washington auf einen Gegenangriff verzichtete. Um weitere iranische Anschläge zu vermeiden, näherte sich Saudi-Arabien in den vergangenen Jahren unter Chinas Vermittlung Iran an. Damit ist Mohammed bin Salmans Spielraum noch weiter gewachsen: So hat sich Saudi-Arabien als möglicher Vermittler zwischen Iran und den USA ins Gespräch gebracht.
Milliarden für US-Wirtschaft
Dass in den USA seit Ende Januar wieder Donald Trump regiert, ist für den saudischen Kronprinzen ein Geschenk. Schon während Trumps erster Amtszeit hatten die beiden ein gutes Verhältnis, das durch den Mord an Khashoggi kaum getrübt wurde. Mohammed bin Salman bedankt sich nun mit gigantischen Summen von Geld: In den kommenden Jahren will er 600 Milliarden Dollar in die amerikanische Wirtschaft investieren. Dafür hofft der Kronprinz auf weitere Waffenlieferungen und amerikanische Investitionen im Königreich. Ruhe in der Region und wirtschaftliches Wachstum sind die Prioritäten von Mohammed bin Salman – und diese Interessen teilt er mit Trump.
Für die „Vision 2030“ – eine Strategie, die Saudi-Arabien langfristig unabhängiger vom Öl machen soll – braucht der künftige König Stabilität in seinem eigenen Land und in der Nachbarschaft. Nur so kann es gelingen, ausländische Investoren anzulocken, Gigaprojekte zu realisieren und Jobs für die junge Bevölkerung zu schaffen, die immer weiter wächst. In den vergangenen Jahren hat der Kronprinz seinen Untertanen ermöglicht, ins Kino zu gehen und Konzerte zu besuchen. Frauen müssen nicht länger die schwarze Abaya tragen und dürfen Auto fahren. Trotz dieser Öffnung von Wirtschaft und Gesellschaft ist das Königreich unter seiner Herrschaft aber noch autoritärer und repressiver geworden. Die Macht, die einst zwischen Dutzenden Prinzen aufgeteilt war, ist mittlerweile auf Mohammed bin Salman konzentriert.
Anders als sein Vater, der sich als Hüter der heiligen Stätten von Mekka und Medina immer wieder für die Belange der Palästinenser starkgemacht hatte, würde Mohammed bin Salman gerne ein Normalisierungsabkommen mit Israel schließen – so wie es die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain und Marokko unter Trumps Vermittlung bereits 2020 getan haben. Der Kronprinz kann sich eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem jüdischen Staat vorstellen. Auch an einer Kooperation in Sicherheitsfragen hätte er Interesse. Doch der Krieg im Gazastreifen ist ein Hindernis auf dem Weg dorthin.
Denn wenn Mohammed bin Salman seinem Vater auf dem Thron nachfolgt, wird er dessen Titel als Hüter der heiligen Stätten von Mekka und Medina erben. Für die religiöse Legitimation als sunnitische Hegemonialmacht ist dieser Titel von herausragender Bedeutung. Deshalb muss der Kronprinz auch die Interessen der Palästinenser berücksichtigen –, obwohl sie ihm persönlich eher gleichgültig sind.
Rücksicht aus Kalkül
Laut einem Artikel in der amerikanischen Zeitschrift „The Atlantic soll der Kronprinz zum damaligen amerikanischen Außenminister Antony Blinken im Januar 2024 gesagt haben: „Ist mir die Palästina-Frage persönlich wichtig? Nein, aber meinem Volk ist sie wichtig, also muss ich dafür sorgen, dass sie von Bedeutung ist.“
Ein saudischer Beamter bezeichnete diese Darstellung des Gesprächs später als „falsch“. Fakt ist: Die Mehrheit der saudischen Bevölkerung solidarisiert sich mit den Palästinensern. Darauf muss sogar der saudische Kronprinz Rücksicht nehmen – sonst würde er seine Herrschaft gefährden.


Vision 2030. König Salman und Kronprinz Mohammed bin Salman auf einem Werbeplakat für „Vision 2030“ – dem ambitionierten Modernisierungsprogramm Saudi-Arabiens.
© Fabian von Poser / imageBROKER / picturedesk.com

Prunk und Profit. Donald Trump und Kronprinz Mohammed bin Salman beim herzlichen Empfang im Königspalast in Riad in der Vorwoche. Der US-Präsident startet seine erste große Auslandsreise seit seinem erneuten Amtsantritt mit royalen Ehren und wirtschaftlichem Kalkül: „Ich glaube wirklich, wir mögen uns sehr.“
© Brendan Smialowski / AFP/APA

Diplomatie à la bin Salman. Handshake mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij in Jidda – Saudi-Arabien positioniert sich zunehmend als Vermittler auf internationalem Parkett.
© SPA/Handout via Xinhua News Agency / eyevine/Picturedesk.comRiad statt Genf
Zwar duldet Mohammed bin Salman keinen Widerspruch. Doch der 39-Jährige hat dazugelernt. Er gilt inzwischen als Modernisierer, kaum noch als hitzköpfiger Jungspund. Seine außenpolitische Strategie, Kontakte in alle Richtungen zu knüpfen, zahlt sich jetzt für ihn aus: Saudi-Arabien ist zu einem gefragten Gastgeber für Vermittlungsgespräche geworden. Andere Länder wie die Schweiz haben das Nachsehen –, weil sie sich klar auf der Seite der Europäer positioniert haben. Auch sein Reichtum macht Mohammed bin Salman zum begehrten Gesprächspartner – etwa mit Blick auf die Finanzierung des Wiederaufbaus in der Ukraine und im Gazastreifen.
Dabei hält der Kronprinz seinen Kritikern im Westen gerne den Spiegel vor. So warnte er die USA 2022 in einem Interview mit The Atlantic davor, sich in die inneren Angelegenheiten des Königreichs einzumischen: „Wir haben nicht das Recht, euch in Amerika zu belehren. Das gilt auch umgekehrt.“ Und als einziger arabischer Staatschef erteilte er dem vielkritisierten Gaza-Plan von Donald Trump schon früh eine Absage. Der künftige König kann es sich mittlerweile leisten, seinen wichtigsten Partner moralisch in die Schranken zu weisen. Der Westen macht es ihm leicht.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 21/25 erschienen.
von Anne Allmeling, zuerst erschienen in der Neue Zürcher Zeitung am 18.3.2025