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Viktor Orban: „Wir sind die Zukunft“

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Vktor Orban

©Marton Monus/dpa/picturedesk.com
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Viktor Orban ist Europas dienstältester Regierungschef – und er polarisiert wie kein anderer. Im Gespräch erzählt er, warum er Putin vertraut und dass nur Trump den Ukraine-Krieg beenden könne

Von Meret Baumann und Ivo Mijnssen (zuerst erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung am 4. 2. 2025)

Wenn Viktor Orban ein Interview gibt, überlässt sein Team kaum etwas dem Zufall. Das beginnt mit der Örtlichkeit: Es findet in der Bibliothek des Karmeliterklosters statt, hoch über Budapest, wo Ungarns Ministerpräsident seit 2019 seinen Amtssitz hat. Aus dem Fenster hat man einen spektaku­lären Blick auf die Donau und das Parlamentsgebäude. Auf zwei Stöcken, über eine schmiedeeiserne Wendeltreppe verbunden, stehen an allen Wänden ­Regale voller antiker Bücher.

Mitarbeiter stellen noch rasch eine große Nationalflagge neben dem Tisch auf, an dem das Gespräch stattfindet. Dann betritt der 61-Jährige den Raum, schüttelt Hände und posiert für ein Bild vor einem fast mannshohen hölzernen Globus. Er zeigt die Welt vor dem Ersten Weltkrieg und zuvorderst das imperiale Europa inklusive Ungarns in den Grenzen vor 1920. Doch bevor der Fotograf abdrücken kann, dreht Orban den Globus geistesgegenwärtig nach rechts, wo die USA auftauchen. „Wenn hinter mir das historische Ungarn zu sehen ist, ­regen sich wieder alle auf“, sagt er. „Amerika ist zukunftsgerichteter.“

Herr Orban, Donald Trump ist seit Kurzem wieder im Amt. Sie unterstützen ihn seit 2016 und haben auf seine Rückkehr gehofft. Was bedeutet diese nun für Sie?

Die Welt hat sich seither so stark verändert wie sonst in Jahren (schmunzelt). Das ist der Trump-Tornado. Für Ungarn ist es aber einfach: Wir standen aus Brüssel und Washington unter Druck. Wenn ein Land mit zehn Millionen Menschen zwei Stiefel auf seiner Brust hat, kann es fast nicht überleben. Wir waren das schwarze Schaf des Westens. Nun zeigt sich: Was Trump tut und was wir in den letzten 15 Jahren getan haben, ist die Zukunft. Wir sind glücklich, entspannt.

Wo erhoffen Sie sich eine Verbesserung der Beziehungen mit den USA?

Die Demokraten haben uns gehasst. Bei Themen wie Migration, Gender und dem Krieg in der Ukraine hatten wir entgegengesetzte Positionen. Sie unterstützten alle Organisationen und Medien in Ungarn, die gegen mich sind. Das hat Trump beendet. Wir hoffen auch, dass die Amerikaner wieder mehr bei uns ­investieren. Sie sind jüngst sogar hinter China zurückgefallen.

Sie sind Regierungschef eines Kleinstaats in einer geopolitisch instabilen Region. Trump will sich stärker auf Asien konzentrieren, auf Kosten des militärischen Engagements in Europa. Welche Konsequenzen hat das für Ungarns Sicherheit?

Wenn die Europäer den Amerikanern kein gutes Angebot für eine Zusammenarbeit machen, werden sie uns keine ­Sicherheit mehr bieten. Uns hinzusetzen und abzuwarten, ist keine Lösung. Wir müssen Ideen vorlegen. Europa ist zwar reich, aber auch schwach. Dies ist die ­gefährlichste Kombination. Wir konnten die Friedensdividende lange genießen. Unter Trump haben wir sie verloren.

Die geopolitische Lage polarisiert die Welt. Ungarn will gute Beziehungen mit dem Westen, mit China und Russland. Drohen Sie damit zwischen den Blöcken zerrieben zu werden?

Nein, im Gegenteil. Ich wuchs im Kalten Krieg auf. Meine Erfahrung war, dass die beiden Großen immer einen Deal schließen. Das Problem haben Nummer drei und vier. Die Amerikaner werden sich mit den Chinesen einigen. Deshalb wird es kein Problem für Ungarn sein, gute Beziehungen mit Peking und Washington beizubehalten. Mit Russland ist es schwieriger. Wir würden gerne alle Geschäfts­beziehungen offenhalten. Die EU stellt sich dem aber entgegen.

Das klingt, als ob Sie sich bereits damit abgefunden haben, dass sich Ungarn in einer Welt positionieren muss, in welcher der Westen seine Vormachtstellung verloren hat.

Ja, so denke ich, auch wenn es hart und provokativ ist. Wirtschaftlich leben wir in einer Welt ohne westliche Vormacht. Die EU verliert an Wettbewerbsfähigkeit. Sie hat keine Strategie und keine Führung. Was hier passiert, ist peinlich. Die Dynamik der Weltwirtschaft findet sich im Osten – und nun wieder in den USA. China entwickelt sich rasant, Indien auch. Wenn Ungarn nur Wirtschaftsbeziehungen zu Europa pflegt, ist es verrückt.

Und was bedeutet das für die Sicherheitspolitik?

Dass wir Europäer bescheiden sein müssen. Die EU redet davon, ein globaler Akteur zu sein. Aber sie kann nicht einmal die Entwicklungen in der eigenen Nachbarschaft kontrollieren. Wir konnten weder den Krieg zwischen Russland und der Ukraine verhindern noch den Westbalkan integrieren. So verhält sich kein Global Player. Eine gemeinsame Außenpolitik wäre nur realistisch, wenn Deutschland und Frankreich eine starke politische Führung hätten und der Rest mitmachen würde. Das ist nicht der Fall.

Es ist aber auch Ihr Land, das immer wieder Entscheidungen verzögert oder blockiert, wie zuletzt die Verlängerung der Sanktionen gegen Russland.

Wir sind gegen die Sanktionen. Wir haben in den letzten drei Jahren 19,5 Milliarden Euro verloren, weil wir den Handel einschränken mussten und die Energiepreise stiegen. Ungarn hat durch die Sanktionen mehr gelitten als Russland.

Warum stimmen Sie dann der Verlängerung immer wieder zu, wie zuletzt Ende Januar?

Weil wir uns mit der EU-Kommission über die Energiefrage geeinigt haben. Öl und Gas aus Russland sind überlebenswichtig für die ungarische Wirtschaft. Und wir haben die Zusicherung bekommen, dass sich Brüssel für die Wiederaufnahme des Gastransits durch die Ukraine einsetzt, den Öltransport durch die Druschba-Pipeline weiter erlaubt und Störaktionen Kiews verhindert. Diese Garantien sind jedoch ziemlich vage, zumal die EU-Kommission vieles davon gar nicht selbst in der Hand hat. Aber es geht darum, dass die EU-Kommission unsere Interessen gegenüber der Ukraine vertritt. Binnenländer wie Ungarn oder die Slowakei brauchen Russland für ihre Öl- und Gasversorgung.

Wieso hat sich Ungarn so abhängig gemacht von russischer Energie? Sie unterzeichneten 2021 einen Vertrag für Gaslieferungen, welcher die Hälfte des ungarischen Verbrauchs auf 15 Jahre abdeckte.

Wir haben in den letzten Jahren in Pipelines in fast alle Nachbarländer investiert. Zudem werden wir bald mehr Gas und Öl aus Rumänien, Aserbaidschan und der Türkei erhalten. Wir fördern auch erneuerbare Energien und die Elektrifizierung. Aber wir brauchen Russland als Lieferanten. Deshalb wollen wir zu einer normalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit zurückkehren.

Ist das seit dem 24. Februar 2022 nicht eine Illusion?

Wir haben Sanktionen nie als ein geeignetes Mittel gesehen, um den Krieg zu beenden. Aber Joe Biden sagte damals: „Putin muss scheitern.“ Der Westen will Russlands Aggression gegenüber der Ukraine dazu nutzen, das Land zu schwächen, es zurückzudrängen. Russland sollte in die Knie gezwungen werden und seine militärischen Ziele in der Ukraine aufgeben. Das hat schlicht nicht funktioniert.

Dennoch: Russland ist der Aggressor, wie Sie auch selbst sagten.

Das ist die offizielle Position der Europäischen Union. Ich verhalte mich da loyal.

Sehen Sie es persönlich anders?

Hm … (zögert). Überlassen wir die Bewertung den Historikern. Ich bin Politiker, und wir haben eine EU-Entscheidung. Sie verpflichtet mich dazu, von einer „russischen Aggression“ zu sprechen.

Wir haben eine EU-Entscheidung. Sie verpflichtet mich dazu, von einer ‚russischen Aggression‘ zu sprechen

Viktor Orban

Aber warum kritisieren Sie die EU ständig für ihre „Kriegspolitik“?

Weil wir im Februar 2022 einen großen Fehler gemacht haben. Wir hätten den Konflikt sofort isolieren, einen Waffenstillstand erzwingen und Verhandlungen beginnen müssen. Es war von Anfang an klar, dass ein ukrainischer Sieg unmöglich ist, solange wir keinen totalen Krieg anfangen. Das war keine Option. Der ­Ukraine können wir nur mit einem Waffenstillstand und einem Frieden helfen.

Darüber sollten aber die Ukrainer entscheiden.

Ja, wir sind nicht in der moralischen ­Position, eine Entscheidung für ein Land zu treffen, das angegriffen wird. Aber es war ein Fehler, es glauben zu lassen, dass wir bis zum Sieg an seiner Seite ­stehen. Das ist nicht so.

Wie würde ein Waffenstillstand aussehen? Müsste die Ukraine territoriale Zugeständnisse machen?

Das wäre am Anfang viel leichter gewesen. Inzwischen haben so viele Ukrainer ihr Leben verloren, weil sie ihr Land verteidigten. Wofür sind sie nun gestorben? Das ist ein ernsthaftes moralisches Dilemma – zum Glück nicht meines. Es ist das der Leute, die diese verrückte Kriegsstrategie unterstützt haben.

Ihre Kritik an der unentschlossenen Strategie des Westens mag berechtigt sein. Nur: Wieso gab er dann der Ukraine nicht alles, was sie gebraucht hätte, um zu gewinnen?

Keine Menge an Waffen wäre genug ­gewesen. Diesen Krieg kann der Westen nur gewinnen, wenn er eigene Soldaten schickt. Das haben wir ausgeschlossen. Die Ukrainer haben schlicht nicht genug Soldaten. Deshalb braucht es jetzt Trump.

Was kann er tun?

Wenn Sie vor einem gordischen Knoten stehen, müssen Sie ihn durchschlagen. Es braucht einen starken Mann mit einem Schwert. Es geht nicht mehr darum, welche Ideen wir haben. Trump muss sich mit Russland und der Ukraine hinsetzen und ihnen sagen: „Leute, machen wir ­einen Waffenstillstand. Es ist der einzige Weg.“ Schwache Anführer verursachen Kriege, starke schaffen Frieden.

Wieso glauben Sie, dass sich ­Russland bei einem Einfrieren des Konflikts mit seinen Eroberungen begnügen würde?

Niemand weiß, was in Putins Kopf vorgeht. Es hat keinen Sinn, darüber zu ­spekulieren. Aber wir brauchen jetzt ­Diplomatie. Die Europäer denken, es sei moralisch, nicht zu verhandeln. Das ist absurd! Das muss man doch in einem Krieg! Sonst geht er bis zur Vernichtung weiter, und die Ukraine wird zum ­Afghanistan der Europäischen Union.

Sie haben Putin oft getroffen, zuletzt im Juli 2024. Vertrauen Sie ihm?

Als ich 2009 vor der Rückkehr an die Macht stand, habe ich ihn getroffen und mit ihm vereinbart, dass wir uns auf die Zukunft konzentrieren. Mir war klar, dass gute Beziehungen zu Moskau und eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit in Ungarns geopolitischem Interesse liegen. Wir schlossen viele Vereinbarungen. Putin hat sein Wort immer gehalten. Die Erfahrung der letzten 15 Jahre ist, dass Ungarn Russland vertrauen kann.

Sie sagen, dass Putin ein Nato-Land nie angreifen würde. Aber wenn Sie seine Vorschläge von 2021 anschauen, vor dem Krieg, dann forderte er auch die Rückabwicklung der Nato-Osterweiterung. Das beträfe Ungarn.

Ich habe ihn direkt gefragt, ob er ein Problem mit Ungarns Nato-Mitgliedschaft habe. Er sagte Nein. Weil wir auf unserem Gebiet keine Waffen stationiert haben, die Russland als Gefahr sieht. Es geht ihm um taktische Langstreckenwaffen. Dass die Ungarn in Moskau einmarschieren, ist ja eher schwer vorstellbar (lacht).

Ihre Russland-Freundlichkeit erstaunt dennoch. 1989 lancierten Sie Ihre Karriere damit, dass Sie den Abzug von Moskaus Truppen aus Ungarn forderten.

Und der ist ja erfolgt (lacht). Aber ich bin nicht pro Russland, sondern pro Ungarn.

Aber Ungarn teilt mit Russland eine schwierige Geschichte, 1849 und 1956 schlugen dessen Truppen nationale Aufstände nieder.

Und vergessen Sie nicht den Ersten Weltkrieg! Der Zar sagte, er wolle Weihnachten in Budapest verbringen. Ungarn lebt historisch im Dreieck Moskau-Berlin-­Istanbul. Wir hatten mit allen unsere ­negativen Erfahrungen. Aber mit Putin habe ich vereinbart, die Geschichte unserer beiden Länder den Historikern zu überlassen. Ich will nicht, dass irgendein Land Ungarn besetzt. Keine Großmacht darf den Ungarn sagen, wie sie leben sollen. Russland bedroht heute weder unsere Freiheit noch unsere Souveränität.

In Ihren Reden klingen Sie oft so, als ob Sie Brüssel für eine größere Bedrohung halten als Moskau.

In einer anderen Dimension – aber ja, das ist so. Es ist einfach, mit Russland eine rationale Vereinbarung zu treffen. Mit den Leuten in Brüssel ist das fast unmöglich. Sie unterstützen innenpolitisch nur meine Gegner. Ich musste gegen Brüssel und die Nichtregierungsorganisationen gewinnen. Es ist schwierig, mit jenen ­zusammenzusitzen, die einen bei jeder Wahl vernichten wollen. Und schauen Sie sich die Migration an: Wir interpretieren die europäische Regel dahingehend, dass wir die Schengen-Außengrenze vor illegalen Grenzübertritten schützen müssen. Das haben wir gemacht. Dafür werden wir bestraft, weil es nicht mit EU-Gesetzen vereinbar sein soll. Die Polen taten kürzlich genau das Gleiche, sogar brutaler. Alle sagten: kein Problem.

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Wien: Die Fraktion Patrioten für Europa, zu der auch Orbans Fidesz gehört, vertritt eine nationalkonservative, EU-skeptische und rechtspopulistische Agenda

 © Pablo Blazquez Dominguez/Getty Images

Sie sprechen oft Probleme an, die viele umtreiben. Dennoch ist Ungarn in der EU isoliert. Warum schaffen Sie es nicht, Allianzen zu bilden? Das von Ihnen angestrebte Bündnis aller Rechtsparteien in einer gemeinsamen Fraktion scheiterte letztes Jahr.

Im Gegenteil! Die Patrioten für Europa und andere Populisten sind wieder der Mainstream. Für mich lautet die göttliche Botschaft: „Viktor, du bist auf der Seite der Sieger.“ Wir werden stärker und werden bald eine Mehrheit haben. Nach dem Krieg in der Ukraine ist auch das große Rechtsbündnis möglich. Dem steht nur die unterschiedliche Haltung gegenüber Russland im Wege. Europa wird in ein paar Jahren anders aussehen als heute.

Hat sich die politische Landschaft nach links bewegt, oder sind Sie nach rechts gerückt?

Der Fidesz bestand aus antikommunistischen Freiheitskämpfern, und das waren die Liberalen damals auch. Nach unserem ersten Wahlsieg 1998 lud mich ­Helmut Kohl ein, der EVP beizutreten. Das war damals tatsächlich ein Schritt von der Mitte nach rechts. Da blieben wir, auch wenn wir vor vier Jahren die Konservativen wieder verließen. Sie waren es, die sich nach links bewegt hatten.

Sie scheinen mit der AfD zu sympathisieren, die Patrioten wollen diese aber nicht in ihrer Fraktion. Warum?

Die AfD ist eher eine Bewegung als eine Partei. Da können verrückte Personen und Ideen auftauchen – ein Risiko, das das Rassemblement National nicht eingehen wollte. Wir haben keine Erfahrung mit der AfD und keine Beziehungen zu ihr. Ihr Programm klingt gut für Ungarn: Steuersenkungen, Redimensionierung des Green Deal, Rückkehr zur Nuklearenergie, strikte Migrationspolitik. Aber ich will mich nicht in deutsche Angelegenheiten einmischen.

Wie soll ein politisches System mit einer solchen Partei umgehen?

Wir kennen in Ungarn keine Brandmauer. Wenn eine Partei Wählerstimmen erhält, nehmen wir sie ernst. Das heißt nicht, dass wir mit ihr zusammenar­beiten. Aber wir setzen uns hin und diskutieren. Eine Brandmauer macht das politische Denken primitiv.

Sie selbst regieren seit 15 Jahren fast durchgehend mit Zweidrittelmehrheit. Jüngst ist aber aus dem Nichts ein ernsthafter politischer Konkurrent aufgetaucht, dessen Namen Sie öffentlich nie nennen: Peter Magyar. Beunruhigt Sie das?

In einer Demokratie muss man immer bereit sein für politische Gegner. Auch wenn man wie wir fast die Hälfte der Stimmen gewinnt, geht der Rest an andere. Das ist nichts Außergewöhnliches. Bei der letzten Wahl 2022 spannten alle Oppositionsparteien zusammen mit einer gemeinsamen Liste. Das war nicht erfolgreich, und sie starten nun einen neuen Versuch.

Zeigt der Aufstieg eines solchen Kandidaten nicht eine Unzufriedenheit mit Ihrer Regierung?

Die Antwort ist Ja, das bedeutet es auch. Der Krieg und die Sanktionen schufen in den letzten drei Jahren eine schwierige Situation mit hoher Teuerung, gestiegenen Energiepreisen und geringem Wachstum. Ich mag den Krieg aus vielen Gründen nicht, auch aus wirtschaftlichen.

Haben Sie Fehler gemacht, etwa mit den Preisobergrenzen auf gewissen Nahrungsmitteln?

Wir haben über die Preisobergrenzen intensiv diskutiert. Ich halte sie nach wie vor für gut, aber es gibt bedenkenswerte Argumente dagegen. Soeben hat Kroatien Preisobergrenzen für zahl­reiche Produkte beschlossen. Das würde nicht passieren, wenn es dumm wäre. Aber natürlich macht keine Regierung alles richtig. Das letzte Quartal verlief immerhin zufriedenstellend. Wir stecken nicht mehr in der Rezession, und das Wachstum dieses Jahr dürfte bis zu doppelt so hoch sein wie im europäischen Durchschnitt.

Die Opposition wirft Ihrer Regierung und Ihrem Umfeld Korruption vor, die EU hat wegen mangelnder Rechtsstaatlichkeit Milliarden an Kohäsionsgeldern blockiert. Was sagen Sie zu den Vorwürfen?

Korruption ist das Lieblingsthema der Opposition. Ich sage immer: Nennt mir die konkreten Verfehlungen. Wenn es Gesetzesverletzungen gibt, müssen diese gerichtlich aufgeklärt werden. Doch es gibt keine solchen Klagen. Ich kann nicht sagen, es gebe in Ungarn keine Korruption, und dagegen muss etwas getan werden. Aber wir stehen nicht schlechter da als andere EU-Länder. Schauen Sie sich einfach die Daten der Weltbank an.

Die Erfahrung der letzten 15 Jahre ist, dass Ungarn Russland vertrauen kann

Viktor Orban

Die Staatsanwaltschaft leitet in vielen Verdachtsfällen keine Ermittlungen ein. Warum verweigert Ungarn als einziges EU-Land den Beitritt zur Europäischen Staatsanwaltschaft?

Anders als in den meisten Ländern der Europäischen Union untersteht die Staatsanwaltschaft in Ungarn dem Parlament und nicht der Regierung. Das ist auch eine Frage der Souveränität. Ich werde niemals ein Rechtssystem akzeptieren, in dem nichtungarische Behörden Verfahren gegen ungarische Staats­bürger führen. Das ist unmöglich, auch gemäß der Verfassung. Wir haben unter Sowjetherrschaft gelebt und mussten die Hoheit über Strafverfahren abgeben. Für uns ist das eine Frage des Prinzips. Das von Brüssel eingefrorene Geld steht ­Ungarn zu. Eine Tranche in der Höhe von über zwölf Milliarden Euro wurde bereits freigegeben. Ich werde weiter verhandeln. Gerade in Budgetfragen braucht es einstimmige Entscheide. Aber ich werde dem neuen Finanzrahmen niemals zustimmen, wenn er nicht fair ist für ­Ungarn und unsere Verluste der gegenwärtigen Periode regelt. Wir werden ­jeden Cent erhalten, der uns zusteht.

Ihre lange Regierungszeit hat zu einer Konzentration von Macht und wirtschaftlichen Ressourcen in den Händen Ihres Umfelds geführt. Sehen Sie darin keine Gefahr für die Demokratie?

Wenn es um wirtschaftliche Ressourcen geht, ist das Gegenteil der Fall. Meine Regierung hat Steuern gesenkt, es wird also weniger Geld vom Staat zentralisiert. Ich habe aber tatsächlich einiges zentralisiert, in anderen Bereichen jedoch auch dezentralisiert. Die Universitäten haben wir privatisiert – es gibt keine staatliche Kontrolle mehr.

Sie unterstehen nun aber Stiftungen, die von Ihnen nahestehenden Personen kontrolliert werden.

Jeder steht mir nahe! Ich bin der Ministerpräsident dieses Landes (lacht). Wenn ich kritisiert werde, dass jemand mir nahesteht, sage ich: Natürlich, wie kann es anders sein! In der Wirtschaftswelt eines Staats mit zehn Millionen Menschen kenne ich alle größeren Unternehmer persönlich. Aber Sie haben recht: Lange an der Macht zu sein, birgt Risiken. Alle vier Jahre bilde ich die Regierung deshalb um und tausche Personen aus.

Sie sind der dienstälteste Regierungschef der EU. Gibt es keine Spur von Amtsmüdigkeit?

Die Frage ist, wie lange die Partei in mir die aussichtsreichste Person sieht, um Wahlen zu gewinnen. Derzeit ist meine Zustimmung in der Bevölkerung noch höher als die der Partei. Solange das so ist, werde ich den Kampf weiter anführen.

Wollen Sie die Politik denn nicht irgendwann aufgeben?

Ich stelle mir das schön vor, als alter, respektierter Mann auf den Hinterbänken zu sitzen und von den Jüngeren um Rat gefragt zu werden. Und die Folgen dessen zu sehen, was ich in meinem politischen Leben getan habe. Denn auch wenn ich dafür kritisiert werde: Ich habe etwas ­getan in einer historischen Zeit.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr.10/2025 erschienen.

Interview von Meret Baumann und Ivo Mijnssen (erstmalig erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung am 4. 2. 2025)

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