Die Lehren aus dem Strickpullover

Die Aufregung über das manipulierte Foto der britischen Königsfamilie wirft wichtige Grundsatzfragen auf

von Anna Gasteiger © Bild: News/Ricardo Herrgott

Seit Wochen ist das Internet voll von "Katespiracy", also grotesken, ab einem bestimmten Punkt komplett von der Realität entkoppelten Theorien darüber, warum sich die Frau des britischen Thronfolgers seit über zwei Monaten nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt hat. Ein Familienfoto, veröffentlicht am britischen Muttertag, hätte die Gerüchte zerstreuen sollen, bewirkte aber genau das Gegenteil. Es war so stark bearbeitet worden, dass mehrere Nachrichtenagenturen es zurückzogen. Seitdem spekuliert die Welt nicht nur über den Verbleib von Kate – möge es ihr gutgehen, wo und in welchem Zustand auch immer sie sich befindet –, sondern diskutiert auch über die Grenzen und Möglichkeiten von Bildmanipulation.

Eine absurde Adels-Posse mit einem emanzipatorischen Moment: Endlich begeben sich viele Menschen weltweit in einen wichtigen Diskurs, der nur vordergründig von gephotoshoppten Strickpullovern, Haarsträhnen und Handgelenken handelt, im Grunde aber die Frage aufgreift, wie wir künftig mit der Wirklichkeit umgehen wollen.

»Endlich begeben sich viele Menschen weltweit in einen wichtigen Diskurs«

Es ist also nicht angemessen, haben wir in den letzten Tagen gelernt, wenn das britische Königshaus mutmaßlich zu Desinformationszwecken ein stark nachbearbeitetes Foto veröffentlicht. Aber was wäre zum Beispiel, wenn so ein Foto eine schönheitsoperierte Person zeigt? Echt oder nicht echt? Und wollen wir Menschen, deren hauptsächliche Lebensaufgabe darin besteht, einen offensichtlich unrealistischen Traum vorzuleben, wirklich mit Augenringen und schlechter Laune sehen? Was ist mit Aufnahmen, die insofern authentisch sind, als sie technisch nicht nachbearbeitet wurden, die aber völlig aus dem Zusammenhang gerissen – zum Beispiel Jahre später, an einem anderen Ort – veröffentlicht werden? Echt oder nicht echt?

Es ist kompliziert, und wird noch viel komplizierter, wenn man Themenfeld und Medium wechselt. Wie verhält es sich mit verbaler Manipulation, mit Lüge, altmodisch ausgedrückt? Langsam spricht sich herum, dass Russland einen hybriden Krieg gegen Europa führt. Mit Propaganda- und Desinformationkampagnen, um europäische Werte auszuhöhlen und Einfluss auf demokratische Wahlen zu nehmen, unter anderem die österreichische Nationalratswahl im kommenden Herbst.

Die Frage nach Absicht und Authentizität einer Information dient dann nicht mehr nur der Unterhaltung, abends auf dem Sofa mit einem Glas Wein, sondern entscheidet über die Zukunft unserer westlichen Demokratien. Ganz schön viel Verantwortung für unser einfaches Steinzeithirn, das immer noch glaubt, dass ein Apfel ist, was wie ein Apfel aussieht, obwohl es sich dabei nach neuestem Erkenntnisstand auch um eine Birne handeln könnte, oder um ein Zwetschke, oder um eine Erdbeere, die sich als Stachelbeere ausgibt.

Das wird sich nicht so schnell ändern lassen. Aber die kleine Geschichte von dem manipulierten Muttertagsfoto enthält eine tröstliche Botschaft. Abertausende Internet-User auf der ganzen Welt beschäftigten sich mit diesem Bild, markierten hingebungsvoll verdächtige Stellen und entwickelten kreative Ideen, wie es entstanden sein könnte. Diese Energie macht Hoffnung. Die Manipulationsmöglichkeiten mögen vielfältig sein, aber die Widerständigkeit ist es auch.

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