Das neue Leben der Geschichtenerzählerin

Vor vier Wochen zog Bestsellerautorin Cornelia Funke aus den USA in die Toskana. Auf der Terrasse ihres neuen Heims erzählt die Schöpferin von "Tintenwelt" und "Drachenreiter" vom Mut, den das brauchte. Vom Glück als Trüffelschwein. Und von der Liebe, die den Herzschmerz wert ist.

von Das neue Leben der Geschichtenerzählerin © Bild: Michael Orth
Die preisgekrönte Autorin von Jugendliteratur aus Dorsten, Nordrhein-Westfalen, war Sozialpädagogin und studierte Buchillustration, bevor sie zu schreiben begann. 2002 schaffte Cornelia Funke mit "Herr der Diebe" den internationalen Durchbruch. Ihre Bücher erscheinen in 50 Sprachen, erreichten eine Gesamtauflage von 31 Millionen und wurden erfolgreich verfilmt (u. a. "Die Wilden Hühner","Tintenherz"). Die 62-jährige Mutter zweier Kinder lebt in Volterra, Italien.

Sie hat in ihren E-Mails davor gewarnt. Die Schotterstraße, die zum Haus von Cornelia Funke in der Toskana nahe Volterra führt, ist von abenteuerlicher Beschaffenheit. Sie führt durch eine Landschaft von ungetrimmter Schönheit, ähnlich jenen aus den Büchern der Bestsellerautorin. Zwar sind es vom Regen ausgewaschene Fahrrinnen statt finsterer Fabelwesen, die einen auf die Probe stellen, doch machen sie ebenso deutlich, dass die Frau, die am Ende der Schotterprüfung ihr neues Leben baut, die krummen Wege nicht scheut.

© Michael Orth Unprätentiös mag Funke es auch beim Fotografieren. Ihr Schwager, der Fotograf Michael Orth, hat sie für News über mehrere Tage hinweg in ihrem neuen Heim begleitet

Vor vier Wochen hat die mit 31 Millionen verkauften Büchern erfolgreichste deutschsprachige Kinder-und Jugendbuchautorin ihren Wohnsitz von den USA in die Toskana verlegt. Die Schöpferin von Buch-und Filmerfolgen wie "Herr der Diebe","Die Wilden Hühner", der "Tintenwelt"-Trilogie und der "Reckless"-Serie hat eben den dritten Band ihrer "Drachenreiter"-Erzählung, "Der Fluch der Aurelia", veröffentlicht und noch viel vor.

Ihr "Stamm" begleitet sie

In ihrem neuen Lebensabenteuer ist die 62-Jährige noch nicht wirklich heimisch, wie sie später auf der Terrasse ihres neuen Hauses erzählen wird. Doch das ist gut so, denn es gehört zum Plan der Schöpferin von Orten mit magischen Namen wie "der Saum des Himmels". Der Blick, mit dem sie aus dem Fenster schaut, als der Besuch aus Österreich im Innenhof hält, verrät Neugierde. Er zeugt vom Gespanntsein auf das neue Leben in Italien, umgeben von ihrem Stamm. So nennt sie die Menschen, die sie schätzt, unterstützt und mit sich auf die Reise nimmt. Minuten nach dem Ankommen im typisch toskanischen Haus stellt die Geschichtenerzählerin, wie sie sich gerne nennt, alle vor. Die Frau, die das "Time"-Magazin 2005 in der Liste der 100 weltweit einflussreichsten Menschen führte, trägt dabei ein luftiges Sommerkleid und ist barfuß. Da sind Funkes Assistentin Angie und deren Mann Dave, Gitarrist und Musikproduzent, Funkes Tochter Anna und ihr Mann Mike, ihre Schwester Insa, die die Webseite verantwortet, und deren Mann Michael, der sie für diese News-Geschichte als Fotograf durch ihr neues Zuhause begleitet hat. Isabel Abedi, die deutsche Jugendbuchautorin, ist zu Besuch mit ihrem Freund Sarah, dessen Saxophon Cornelia Funke Zauberkräfte zuschreibt - und die britische Bildhauerin Helena Park.

© Michael Orth Nahe Volterra in der Toskana bewohnt Funke nun dieses Haus. Der Blick in die Landschaft ist atemberaubend schön

Vor allem junge Künstler wie sie sollen unter dem Dach der unprätentiösen Autorin einen Ort finden, an dem sie mit Begleitung der Hausherrin dem eigenen Werk näherkommen. Das ist Cornelia Funkes Herzensprojekt, das letztlich auch den Ausschlag für die Toskana als neuen Lebensmittelpunkt gab.

Italien war schicksalhaft

England wäre das erste Ziel gewesen, erzählt sie am warmen Septembernachmittag im Schatten eines Baums und nascht geschnittene Nektarinen und Weintrauben. Brexit und der Vorschlag ihrer Freundin Caroline Goodall, doch auch Volterra in Erwägung zu ziehen, kamen dazwischen. Die Schauspielerin der Ida aus der Verfilmung von "Herr der Diebe" lebt nur fünf Minuten von hier entfernt. Letzten Endes war es "Serendipity", sich für diesen Ort zu entscheiden, sagt Funke, die die Toskana ursprünglich als allzu idyllisch nicht in Betracht gezogen hatte. Aber um Volterra herum sieht die Gegend doch etwas anders aus, und dort wartete das Haus, das sie suchte: mit vier Apartments für die Künstler aus aller Welt, die sie zu sich einlädt, Platz für eine Werkstatt für Illustratoren, ein Soundstudio für Musiker, ein kleines Stop-Motion-Studio und eine Gemeinschaftsküche und eine Taverna, in der man sich am Ende eines Tages in großer Runde austauschen kann. "Serendipity -wenn die Dinge sich wie zufällig aufs Wunderbarste fügen", übersetzt Funke das englische Wort, das ihre Entscheidung für die Toskana umschreibt. Sie führte ins Haus nahe Volterra, in dem sich Künstlerherzen weiten können, während sich dessen Besitzerin Zeit für ein Gespräch mit News nimmt.

Frau Funke, Sie haben nach 16 Jahren in Kalifornien Ihre Farm verkauft und sind vor drei Wochen nach Italien gezogen. Wie zu Hause fühlen Sie sich schon in Italien?
Ein großer Teil von mir ist noch in Los Angeles und Malibu zu Hause, weil ich dort so intensiv gelebt habe wie noch nirgends zuvor. Als wir hinzogen, sagten wir, es ist für ein Jahr. Genauso sehe ich das jetzt auch: mal gucken, was in einem Jahr ist. Ich weiß nicht, wer ich in einem Jahr bin. Und ob das dann der richtige Ort für mich ist. Als die Idee entstand, nach Europa zurückzukehren, wollte ich ursprünglich ein Haus in England kaufen und eines in Italien und zwischen beiden wechseln, damit die Nord-und die Südseite meiner Seele gefüttert werden. Dann kam der Brexit. Ich habe den Plan noch nicht ganz aufgegeben, weil ich mich in England so zu Hause fühle.

Sie wären demnach gerne an mehreren Orten zu Hause?
Ja. Inzwischen ist das so. Hätten Sie mir das vor 20 Jahren gesagt, hätte ich Ihnen nicht geglaubt. Damals dachte ich, mein Leben würde für immer in Hamburg stattfinden.

»Ich habe genauso viel Angst wie alle. Nur ist meine Neugier noch stärker als die Angst«

Was hat sich seit damals verändert?
Begonnen hat es mit meiner ersten Reise nach Amerika auf Einladung meiner Verleger. Ich habe die Menschen und Orte dort lieb gewonnen. Ich habe gemerkt, wie unglaublich weit es im Kopf macht, an verschiedenen Orten zu leben. Diese Erfahrung hinterfragt dich tiefer als alles andere, weil dich jeder Ort anders definiert. Ich glaube, man kann fast süchtig danach werden, was ein Ort im Inneren auslöst, wie er einen schält und verändert.

© Michael Orth Momentaufnahme am Arbeitsplatz der Autorin. Zwischen Stiften und Pflanzen erstehen ihre fantastischen Welten
© Michael Orth Vier Wochen nach dem Ankommen zieren bereits viele persönliche Erinnerungen das typisch toskanische Haus

Die Protagonisten Ihrer Bücher wandern seit jeher auch durch Italien. Können Sie beschreiben, was dieses Land in Ihnen zum Klingen bringt?
Es ist seltsam, weil ich immer durch Zufall hier gelandet bin. Beim ersten Mal habe ich mit meinem Mann und meiner Tochter drei Monate in einem kleinen Dorf in Ligurien verbracht. Meine Tochter hat dort laufen gelernt. Damals wollten wir ursprünglich in die Bretagne, fanden aber kein Haus, das wir mieten konnten. Also verbrachten wir die Zeit stattdessen in Italien. Sie wurde substanziell und hat "Tintenherz"* inspiriert. Ich habe Italienisch gelernt und konnte es fließend sprechen. Das kommt jetzt langsam zurück. Und - Cornelia ist ein italienischer Vorname. Ich höre viel klassische italienische Musik. Ich mag die Mentalität der Italiener, das Verspielte und Poetische. Ich mag, wie sie das Leben philosophisch angehen. Ich spüre viel Vertrautheit. Aber es fühlt sich auch fremd an. Wie es sich auf Dauer entwickeln wird? Ich habe nicht die geringste Ahnung. Es ist ein großes Experiment.

Warum haben Sie nicht erwogen, zurück in die Heimat zu gehen, was haben Sie gegen Deutschland?
Diese Frage stellt mir bei jeder Lesung in Deutschland mindestens ein Kind. "Ist das hier schlechter als woanders, Cornelia?" Ich habe eine Antwort, die Kinder verstehen: "Ich habe 45 Jahre meines Lebens in Deutschland gelebt. Ist die Welt nicht so groß, dass man noch eine paar andere Orte ausprobieren sollte?" Ich bin zu Hause in der deutschen Kultur. Ich bin verliebt in die deutsche Sprache. Aber Amerika hat mich gelehrt, wie sehr sich mein Kopf und mein Herz weiten, wenn ich mich zwinge, mich mit anderen Kulturen auseinanderzusetzen. Das Ausland kann mir auf eine wunderbare Art erklären, wer ich als Deutsche bin.

Können Sie das erklären?
Ein Londoner Journalist hat mich einmal nach meinen literarischen Wurzeln gefragt. Als ich Rudyard Kipling und Charles Dickens nannte, ist er vor Lachen fast vom Stuhl gefallen. "Du bist so Deutsch!", hat er gerufen. "Verzaubert vom Mond und den Wäldern!" Das ist so ein Beispiel, wie man im Ausland seine nationale Identität ganz anders begreifen und verstehen lernt. Seit ich in Amerika gelebt habe, empfinde ich mich als unendlich viel deutscher. Ich bin gespannt, was Italien mit mir macht.

Dieser Umzug und der Abschied sind Ihnen nicht leicht gefallen. Wie viel Mut hat das gebraucht?
Viel Mut. Wer denkt, ich habe keine Angst, liegt falsch. Als ich meine Farm in Malibu verkauft habe, hatte ich eine Heidenangst! Gott, habe ich viele schlaflose Nächte gehabt! Ich schaffe das nur mit Freunden. Mit vielen Menschen um mich herum. Ich habe genauso viel Angst wie alle. Nur ist meine Neugier noch stärker als die Angst. Die Neugier zu erfahren, was das hier mit mir macht, wiegt schwerer als die Angst.

© Michael Orth Funke beim Ankommen im neuen Heim. Sie ist gespannt darauf, wie dieser Ort sie in einem Jahr verändert haben wird

Haben Sie ein Rezept, mit dem Sie der Angst begegnen?
Das einzige Rezept, das ich habe, ist, sie zu akzeptieren, zuzulassen und durch sie durchzuschwimmen. Früher war ich ein Couch-Potato! Mich machte es schon nervös, einen Koffer zu packen und nach Frankfurt zu fahren. Ich glaube, je enger und je regelmäßiger unsere Routine ist, desto ängstlicher werden wir. Je öfter wir diesen Behaglichkeitsraum verändern, desto flexibler werden wir, weil sich dann mehrere Situationen wie zu Hause anfühlen. Es ist, wie wenn man immer nur VW-Käfer gefahren ist, und plötzlich soll man einen Mercedes fahren. Wenn man schon zehn andere Automarken gefahren hat, macht einem das keine Angst mehr. Im Moment fühlt es sich in mir drin abwechselnd wie Ebbe oder wie Flut an. Dem setze ich mich inzwischen bewusst aus, weil es dich stärker macht, wenn du ein paar Mal durch dieses Chaos und diese dunklen Nächte gegangen bist. Wenn du die Angst und den Schmerz in Kauf nimmst, ist der Lohn, dass du furchtloser wirst. Das hat das Leben mir beigebracht. Ich habe mich nicht entschieden, plötzlich Witwe zu werden. Damals konnte ich mich auch nicht verkriechen, ich hatte zwei kleine Kinder. Aber man sollte immer dafür sorgen, dass man Menschen um sich hat, an denen einem viel liegt. Das hat mich das Leben auch gelehrt.

So haben Sie auch den Umzug hierher angelegt, mit Freunden. Für jemanden, der 31 Millionen Bücher verkauft hat, leben Sie sehr bodenständig und nahbar.
Das kommt daher, dass ich nicht jung berühmt geworden bin. Ich bin wie ein Handwerker langsam erfolgreich geworden. Ich habe viele Tische gebaut, bis ich den richtig guten Tisch bauen konnte. Ich glaube, das beschützt dich davor, dich zu verlieren. Es beschützt dich auch, für Kinder zu arbeiten. Kindern ist scheißegal, ob du auf der "New York Times"- Bestsellerliste warst. Die Geschichte muss gut sein.

In "Drachenreiter - Der Fluch der Aurelia"* haben Sie den Stamm der Protagonisten um einige spannende Figuren erweitert. Sie beschreiben diese wie alte Freunde. Welche Beziehung haben Sie zu Ihren Figuren?
Im Fall von "Drachenreiter" handelt es sich erstmals tatsächlich um Freunde, die vorkommen. Mary Bright ist meiner Freundin Mary Wright nachempfunden. Sie ist 94 Jahre alt, und keiner würde sich wundern, hätte sie Nymphen in ihrem Teich wie die Mary im Buch. Und Alfonso Fuentes ist der Mann, der meine Farm in Amerika vor dem Feuer gerettet hat. Eigentlich bin ich sehr vorsichtig damit, Freunde oder Familie vorkommen zu lassen, denn ich will die ja behalten. Und manchmal muss man die Schwächen zeigen, um eine Figur lebendig zu halten. Mein Sohn Ben kommt ab und zu vor. In den "Reckless"-Büchern steckt er in den Figuren der beiden Brüder. Ben mag das gerne. Meine Tochter ist lieber meine Erstleserin. Annas Anmerkungen sind noch gnadenloser als die meiner fantastischen Lektorin.

Ihre Protagonisten sind zum Teil vielschichtige Fabelwesen wie Trolle, Nymphen und Elfen. Wie esoterisch sind Sie eigentlich?
Ich bin sehr esoterisch, weil mir schon so viele verrückte Dinge passiert sind im Leben. Ich habe das Gefühl, dass ich ab und zu das Gewebe der Welt sehe und nur versuchen kann, meinen schönsten Faden in das Muster zu weben. Die Magie, die diese Welt und so viele Menschen haben, mich zu verzaubern -bei allem, was sie sonst so anstellen -, macht mich immer noch atemlos.

Im aktuellen Roman taucht das Fabelwesen Aurelia in Zeiten größter Not auf, um die Erde zu retten. Wie wichtig war Ihnen diese brandaktuelle Botschaft?
Erst habe ich gedacht, das kann ich nicht machen, das ist zu offensichtlich. Wir alle wissen, dass wir die Klimakatastrophe schon zu unseren Lebzeiten sehen werden. Ich habe die letzten Jahre in den USA mit Dürre und Feuern im Schaufenster der Klimakatastrophe gelebt. Wir können uns nur bei den Kindern und Jugendlichen entschuldigen, denen wir diese Welt überlassen. Ich werde die Zeit, die mir bleibt, weiterhin als sehr aktive Umweltschützerin nutzen.

In "Drachenreiter" lassen Sie den Protagonisten Ben sagen: "Man muss sich ihnen stellen, den Schlägern und Tyrannen dieser Welt!" Und sein Vater Barnabas warnt: "Dürfen wir den Schmerz und die Verzweiflung anderer Geschöpfe in Kauf nehmen, damit wir uns bereichern können oder ein bequemes Leben haben? Nein, nicht einmal für mehr Wissen." Wie groß ist Ihr Sendungsbewusstsein?
Damit muss man ganz vorsichtig sein. Ich hab zu großen Respekt vor meinen Lesern, um sie zu belehren. Ich begreife mich als Wortfinderin für etwas, das sie selber sowieso schon so empfinden. Gleichzeitig ist jede Geschichte, die man erzählt, ein Spiegel dessen, was man als Geschichtenerzähler über die Welt denkt. Wenn Sie einen Schriftsteller lieben, dann lieben Sie die Brille, die er Ihnen aufsetzt. Ich sehe die Welt auf eine Weise, in der sie mir immer wieder Anlass zu großer Bestürzung, aber auch zu großer Verzauberung gibt. Ich glaube, viele Leser schätzen, dass ich nicht versuche, diesen Widerspruch aufzulösen. Da bin ich wie ein Kind bestürzt und verzaubert, auf der Suche nach Antworten, die Harmonie herstellen.

»Ich sehe die Welt, wie sie Anlass zu großer Bestürzung, aber auch zu großer Verzauberung gibt«

Was kann und soll Literatur in Ihren Augen leisten?
Das hat Bob Dylan am schönsten umschrieben mit "a shelter from the storm". Kunst kann Schutz vor dem Sturm des Lebens bieten. Das sage ich auch den jungen Künstlern, die so viel darüber erzählt bekommen, wie sie reich und berühmt werden. Aber das ist nicht die Aufgabe des Künstlers. Kunst ist etwas Heiliges. Man findet für andere Worte oder Musik oder Bilder, die ihnen helfen, die Welt zu begreifen oder zu ertragen. Kunst kann Schutzräume bauen, aber sie darf das nicht tun, ohne dass man den Sturm hört. Denn ich glaube nicht an Kunst, die ein idyllisches Niemandsland erschafft, in dem man sich versteckt. Davon würde man nur schwächer.

Sind Sie deshalb Science-Fiction-Fan? Sie haben für Ihren Bruder vorm Einschlafen Star-Trek-Geschichten erfunden.
Stimmt. Es ärgert mich sehr, wenn Leute denken, Fantasy ist eine Art des Fluchtschreibens. Das ist vollkommener Blödsinn. Es gibt Statistiken, die belegen, dass Fantasy-Leser politisch aktiver sind als andere, weil sie die Wirklichkeit hinterfragen und sich eine andere vorstellen können. Wie Tolkien mal gesagt hat: Wer hat denn etwas gegen die Flucht außer dem Kerkermeister? Man muss erst fliehen aus einer Realität, die unentrinnbar scheint, um sie von außen zu betrachten und zu sagen: Das geht auch anders! Das ist die Macht fantastischen Denkens, die Science-Fiction so revolutionär macht. Deswegen gab es Mythen und Märchen, weil sie uns Muster erkennen lassen. Man kann der Realität oft nur ins Auge sehen, wenn man sich von ihr erholen kann. Wie einen Drachen zu reiten - wonach man hoffentlich stärker ist als zuvor.

Sie erzählen immer weg von einer Basis des Optimismus. Woher kommt der?
Die Autorin Katherine Paterson sagte, es ist der Glaube an die Hoffnung, die Kinderbuchautoren von Autoren für Erwachsene unterscheidet. Wir können nicht anders. Neben meinen liebevollen Eltern und dem Haus voller Freunde, in dem ich aufgewachsen bin, hat mich meine Schule, das Ursulinen-Gymnasium, die roten Nonnen von Westfalen, dahingehend geprägt. Uns wurde beigebracht, dass es an uns liegt, ob sich etwas ändert. Aus dieser Verantwortung heraus wurde ich Sozialarbeiterin, obwohl meine Familie der Meinung war, ich müsste Kunst studieren mit meinem Talent. Dann habe ich mit den Kindern ständig gemalt und Geschichten erzählt und gemerkt, dass man nicht gegen sein Talent leben kann.

© Michael Orth Funke beim Spaziergang mit den Pyrenäenberghund-Mischlingen Jake (li.) und Tabby. Die beiden sind Geschwister. Funkes Gärtner in den USA, Alfonso, brachte sie ihr vor vier Jahren als Welpen

Ist das einer der krummen Wege, von denen Sie sagen, dass sie ans Ziel führen?
Ja, es sind die einzigen Wege, auf denen man sich selbst entdeckt und was man kann und nutzen sollte. Vieles begreift man erst im Nachhinein, weil es erst im Rückblick Sinn macht.

Was hilft denn dabei, diesen Sinn zu begreifen und seine Aufgabe zu finden?
Die Aufgabe ist, das zu tun, womit man am meisten Geduld hat. Wenn man etwas mit großer Leidenschaft sehr lange tun kann, ist das ein Talent, dem man nachgehen muss. Es ist ein Fehler, zu glauben, dass Beruf oder Erfolg mit Opfern oder Schmerz verbunden sein müssen. Nein, zuerst sind sie mit Glück verbunden. Dann kommt Disziplin und Arbeiten. Das verneinen leider viele Menschen. Das Glück ist das Trüffelschwein. Du kannst dem nachgehen, was dich am glücklichsten macht.

Sie haben sich in einer Zeit, als traditionell der Mann die Familie ernährte, auf dieses Glück verlassen und wurden zur Alleinverdienerin. Wie haben Sie das erlebt?
Das war ja das Geheimnis des Erfolges, dass ich einen Mann hatte, der mir den Rücken freigehalten hat. Es gibt keinen größeren Segen für eine Frau, die eine Karriere anstrebt. Wir waren ein Team, auch weil mein Mann Buchdrucker war und wir alle Layouts zusammen gemacht haben. Das sage ich auch allen Frauen, die eine Karriere anstreben: Sucht euch einen Mann, der bereit ist, euch den Rücken freizuhalten und das von seinem Ego her schafft. Mein Weg wäre nicht möglich gewesen ohne meinen Mann, der die Kinder von der Schule holte und kochte, weil ich ein Kapitel zu Ende schreiben musste.

»Es ist ein Fehler zu glauben, dass Beruf und Erfolg mit Opfern verbunden sein müssen«

Sie haben den Erfolg mit Ihrem Mann als Team erlebt, dann den Abschiedsschmerz. Danach zwei Lieben, die im Liebeskummer endeten. Was hat Sie das Leben über die Liebe gelehrt?
Darüber steht das meiste im dritten Buch der "Reckless"-Serie* "Das goldene Garn"*. Da geht es nur um die Liebe. Ich habe gelernt, dass man sich oft in die Falschen verliebt. Dass man es trotzdem tun sollte, weil die Liebe immer den Herzschmerz wert ist. Dass die Liebe ein köstlicher Wahnsinn ist, den man ab und zu haben möchte. Dass wir sehr unpräzise mit Worten umgehen, wenn es um Liebe geht. Wussten Sie, dass es im Arabischen elf verschiedene Worte für jedes Stadium der Liebe gibt? Ich bin sicher, Sie kennen jedes einzelne davon.

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Bestimmt. Erlauben Sie noch eine Frage, weil Sie vorhin von der Zeit sprachen, die Ihnen noch bleibt. Ist es mit 62 Jahren nicht ein bisschen früh, an die eigene Endlichkeit zu denken?
Dafür ist es nie zu früh! Ich war mir meiner Endlichkeit immer sehr bewusst. Aber mit 62 Jahren sieht man das andere Ufer schon deutlicher. Umso mehr Grund, jeden Tag zu nutzen und so zu leben, als wäre es der letzte.

Dieses Interview erschien ursprünglich im News 40/2021.