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Der Fernweh-Vermittler

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©Foto: Get Your Guide/STEPHEN LIOY

GetYourGuide aus Berlin vermittelt weltweit Erlebnistouren – insgesamt 60 Millionen seit der Gründung 2009. Das Unicorn ist inzwischen einer der wichtigsten Player der Tourismusbranche. Wie machte Gründer Johannes Reck aus einem Studentenprojekt das heißeste Reise-Start-up unserer Zeit?

von: Naila Baldwin, zuerst erschienen in "Forbes"

Das Umspannwerk Ampere im Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg ist ein wuchtiger Backsteinbau und eines der größten Elektrizitätswerke der Stadt. Zu Zeiten der DDR wurde von hier aus Ostberlin mit Strom versorgt. Heute macht das denkmalgeschützte Fabrikgebäude Lust auf die weite Welt – auf die Galapagosinseln etwa, auf einen Besuch im Museum of Modern Art in New York oder eine Wrestling-Tour durch Mexiko-Stadt. Das Start-up GetYourGuide, dessen Zentrale hier liegt, hat seine Konferenzräume nach seinen beliebten Produkten benannt. Denn das Geschäft des fast eine Milliarde Euro schweren Unternehmens ist das Fernweh – und die Lust, die Welt zu ent­decken. Etwa 700 Reiseexperten und IT-Spezialisten aus 81 Nationen arbeiten für die weltweit größte Online-Buchungsplattform für Touren und Freizeitaktivitäten. Sie wollen den Tourismus der Zukunft prägen, zusammen mit Johannes Reck, 37, dem Gründer und CEO von GetYourGuide.

Der lädt für das Gespräch in den „Amazon Jungle Tour“-Seminarraum. Man sitzt auf Rattanmöbeln, die Pflanzen und die gemütliche Bungalow-Einrichtung strahlen Ruhe aus. Reck trägt ein weißes Hemd und wirkt gelassen, fast optimistisch. Auf den historisch einmaligen Schock durch die Coronapandemie für die globale Reiseindustrie folgte der Aufschwung – zumindest für GetYourGuide. Von den eingebrochenen Umsatzzahlen konnte sich die Firma gut erholen. Man verzeichnet mittlerweile sogar doppelt so viel Umsatz und Buchungen wie vor Ausbruch der Pandemie, so Reck. „Der Aufschwung, den wir in unserem Segment sehen, ist strukturell sehr nachhaltig, da es eben nicht nur Nachfrage gibt, die in der Pandemie unterdrückt worden ist, sondern gleichzeitig hat auch ein riesiger Shift zu digitalen Medien stattgefunden“, sagt der CEO. Die Nachfrage sei höher denn je – auch, weil man seit der Pandemie anders reise: „Die Leute können sich gar nicht mehr vorstellen, stundenlang vor dem Eiffelturm zu warten oder eine Tour vor Ort zu buchen.“

Im zweiten Anlauf

Was heute als global führende Reiseplattform mit Büros in Paris, New York, Tokio und 14 weiteren Standorten agiert, begann 2008 als studentisches Projekt an der ETH Zürich: Sechs Studenten errichteten damals eine Internetplattform, mit der sie weltweit Studierende als Tourguides vermitteln wollten. „Leider ist die Idee fehlgeschlagen, weil sich zu wenige Studierende als Guides zur Verfügung stellten. Allerdings hatte die Plattform die Aufmerksamkeit von Tourenanbietern erregt, die darauf werben wollten“, erinnert sich Reck.

Man nahm also einen zweiten Anlauf: eine Plattform, die Einnahmen durch Vermittlungsprovisionen von Reiseveranstaltern und lokalen Reiseführern erzielt, indem sie deren Angebote online präsentiert. Im Jahr 2010 legten die Studenten zu fünft los. Mit an Bord: CEO Johannes Reck, COO Tao Tao, CTO Udi Nir, CMO Emil Martinsek und Nils Chrestin. „Anfangs hatte ich schwere Konversationen mit meinen Eltern, da sie jahrelang die Ausbildung finanziert haben, die ich dann nicht verfolgen würde“, sagt Reck, der ursprünglich Biochemie mit Schwerpunkt Hirnforschung studierte. „Ich habe ihnen versprochen, dass ich, wenn nach ein bis zwei Jahren aus dem Start-up nichts wird, zurück an die Uni gehe, für mein Doktorat.“

Über ein Jahrzehnt später hat Reck zwar keinen Doktortitel, dafür aber ein weltweit erfolgreiches Unternehmen. Der geborene Düsseldorfer ist Weltenbummler und einer seiner besten Kunden: Von Santiago de Chile über Andalu­sien bis zur toskanischen Provinz – mehr als 50 Länder hat er schon bereist und viele davon mit Touren von GetYourGuide erkundet. Zusammen mit seiner Familie will er demnächst den Bwindi-Nationalpark in Uganda erkunden und auf eine Gorilla-Trekkingtour gehen.

Ob Gorilla-Safari, eine Streetfood-Tour durch Dubai oder eine Ballonfahrt über die Mojave-Wüste bei Las Vegas – GetYourGuide bietet Reisenden aus aller Welt ein buntes Angebot. Urlauber können aus mehr als 60.000 Touren, Sehenswürdigkeiten und Aktivitäten auswählen, Adrenalinjunkies werden genauso fündig wie Kulturliebhaber. Vor allem außergewöhnliche und unvergessliche Erlebnisse sowie Nischenangebote kommen gut an: etwa eine private Führung des obersten Schlüsselwarts, des Clavigero, durch die heiligen Hallen der Vatikanischen Museen.

Anfangs hatte ich schwere Konversationen mit meinen Eltern, da sie jahrelang die Ausbildung finanziert haben, die ich dann nicht verfolgen würde

Johannes Reck
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 © Foto: Christoph Soeder / dpa / picturedesk.com

60 Millionen Erlebnisse

Seit 2012 investierten Kapitalgeber fast jedes Jahr neue Millionensummen in das junge Unternehmen, heute beträgt das Gesamtinvestment satte 886,2 Millionen US-$. Die größte Runde (Series E im Jahr 2019), angeführt vom japanischen Tech-Investor Softbank, betrug 484 Millionen US-$ und verlieh dem Unternehmen den Unicorn-Status. Heute präsentieren insgesamt 13.000 aktive Anbieter ihr Sortiment auf GetYourGuide. Die Produkte sind in 22 Sprachen und 40 Währungen verfügbar; bisher wurden über 60 Millionen Erlebnisse gebucht. Umsatz- und Gewinnzahlen will das Unternehmen nicht preisgeben, doch die Plattform gehört zu den wichtigsten Anbietern im millionenschweren Tourismusmarkt – einer Wachstumsbranche, deren weltweiter Umsatz bis Ende des Jahres etwa 531,90 Milliarden Euro betragen soll.

GetYourGuide hatte gehofft, die Coronakrise ohne Kündigungen zu meistern – doch die Pandemie traf das Unternehmen wie die meisten anderen Reise-Start-ups mit voller Wucht: Um die 20 Prozent der Belegschaft mussten Ende 2020 das Unternehmen verlassen. Eine Zeit lang bezahlte man Personal mit Aktien statt mit Geld. Durch die hohen Entschädigungskosten gegenüber Kunden und die bereits geleisteten Marketingausgaben für das erste Quartal 2020 sanken die Umsätze des Unternehmens schlagartig auf null.

Ende April 2020, als sich die hohen Schäden bereits abzeichneten, tat sich Johannes Reck mit anderen Reise-Start-up-Gründern – da­runter Dreamlines, Flixbus, Homelike und Trivago – zusammen, um einen offenen Brief an Google-Vorstand Philipp Schindler zu verfassen. Man bat um ein Entgegenkommen in der Coronakrise. Die Gründer erklärten, dass sie allein im ersten Quartal 2020 insgesamt

75 Millionen Euro für Werbeanzeigen an die Suchmaschine überwiesen hatten, doch wegen Corona mussten die Firmen wenig später Millionenbeträge an ihre Kunden rückerstatten. „Wir hatten hohe Rechnungen bei Google offen und genauso hohe Rückerstattungskosten an unsere Kunden. Doch Google wollte uns nicht entgegenkommen“, schildert Reck.

Der CEO machte seine Empörung über ­Google öffentlich. Er beklagte auch, dass die Amerikaner wie Wettbewerber agierten und versuchten, die Angebote von Reise-Start-ups wie GetYourGuide zu kopieren. Reck fragt: Wie kann Google Werbepartner und größter Konkurrent zugleich sein? Und müssten die Wettbewerbshüter in Europa etwa diese Marktmacht besser regulieren?

Wachstum vor Profit

Für das Unternehmen hat Wachstum eine höhere Priorität als Profit. In welchen Märkten GetYourGuide denn profitabel sei? Reck gibt sich schmallippig. „Darüber reden wir nicht öffentlich, aber einige unserer bekannten und starken Märkte, gerade in Europa, sind profitabel.“ Experten gehen davon aus, dass Städtereisen immer beliebter werden. Zudem organisieren immer mehr Menschen ihre Ausflüge mit dem Smartphone. Damit bewegt sich GetYourGuide mit seinem Angebot in einem Wachstumsmarkt, der eine große Zukunft verspricht.

GetYourGuide (aktuelle Umsatzzahlen werden seit der Corona-Krise nicht mehr offiziell veröffentlicht) teilt sich den sogenannten OTA-Markt (Online Travel Agencies) mit einigen namhaften Unternehmen, darunter Expedia (das Unternehmen setzte 2021 rund 8,6 Milliarden US-Dollar um) und dessen „Things to do“-­Bereich. Auch Tripadvisors Viator (dessen Umsatz im Jahr 2021 183 Millionen US-Dollar betrug) bietet Touren, den Besuch von Sehenswürdigkeiten und Aktivitäten an. Viator ist sogar die weltweit führende Erlebnisplattform und gab Anfang des Jahres die globale Einführung von Via­tor Accelerate bekannt. Das neue Produkt soll Veranstaltern mehr Präsenz und Umsatz durch datenbasierte Entscheidungen ermöglichen. Seit Oktober 2017 hat Viator ebenfalls eine Plattform für Travel Agents, über die 70.000 Trips in mehr als 2.400 Destinationen gebucht werden können. Dabei gehen acht Prozent Provision an den Vermittler. Das erinnert an die ursprüng­liche Idee von GetYourGuide.Im deutschsprachigen Raum gibt es allerdings kaum eine Plattform, die es mit GetYour­Guide aufnehmen könnte. Seit einigen Jahren spekuliert man daher über einen Börsengang; tatsächlich brachte Reck schon im Jahr 2018 in einem Interview mit der Handelszeitung diese Möglichkeit ins Spiel. Doch aktuell will er sich dazu nicht äußern.

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Sixtinische Kapelle

Exklusiv. GetYourGuide bietet Touren wie etwa Frühführungen durch die Sixtinische Kapelle an

 © Andrew Medichini / AP / picturedesk.com

Schlechte Rahmenbedingungen

Dass Johannes Reck zu politischen und gesellschaftlichen Themen gerne seine Meinung sagt, kommt nicht von ungefähr: „Mein Vater war jahrelang Geschäftsführer der CDU, ich selbst hatte aber nie Interesse, in die Politik zu gehen.“ Reck hat auch immer wieder die deutsche Regierung kritisiert: Sie schaffe keine Rahmenbedingungen für technologische und digitale Innovationen; sie würde die digitale Zukunft Deutschlands aufgeben, schrieb Reck Anfang 2020. Die damalige Kritik hält er weiter für berechtigt – doch jetzt sei „nicht der richtige Zeitpunkt, die verbale Keule rauszuholen“. Es gehe nun um die Frage: Was können wir tun, um der Regierung hinsichtlich der Ukraine-Krise zu helfen? Mit anderen Tech-Unternehmern und -Investoren aus Europa hat er die NGO One Ukraine gegründet, die mehr als 5.500 Menschen in Sicherheit bringen konnte und Hilfsgüter im Wert von mehr als vier Millionen Euro in das umkämpfte Land lieferte.

Reck sieht drei Trends, die den Tourismus der Zukunft prägen werden. Einer davor ist die Modularisierung: Bei Wohnungen, Hotels, Flügen, Bahnfahrten oder Erlebnistouren werde es jeweils führende Marken geben, die auf diese Bereiche spezialisiert sind. Zweitens werde Nachhaltigkeit immer wichtiger: „Für uns steht vor allem das Thema Nachhaltigkeit bei den Destinationen im Vordergrund – Ziel muss es sein, Overtourism und Massentourismus zu vermeiden“, sagt der CEO. Und drittens: Tierschutz. „Wir versuchen, mit Anbietern – gerade in Entwicklungsländern – neue Kriterien und Maßstäbe durchzusetzen, die Tiere in ihrem natürlichen Habitat entsprechend zu schützen. Unsere Touren sollen nicht auf Kosten der Natur gehen.“

Fünf Studenten, eine Vision

Seinen eigenen Urlaub plant Reck akribisch genau mittels Excel-Tabellen. „Wenn meine Frau, meine Kinder und ich in den Urlaub fahren, wird wochenlang vorher genau ausgetüftelt, was auf dem Plan steht, um wirklich auf halbstündiger Basis das Programm durchzutakten.“ Das macht auch seine Urlaube quasi zu Geschäftsreisen – doch die Grenzen sind da ohnehin fließend: „Touren mit GetYourGuide sind für Leute, die Durst haben, die Welt zu entdecken, und unter die Oberfläche tauchen wollen“, sagt Reck, „das verspricht unser Produkt – und das lebe ich.“

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Johannes Reck
 © Maurizio Gambarini/Imago

Johannes Reck schloss sein Masterstudium in Biochemie

an der ETH Zürich im Januar 2009 mit höchster Auszeichnung ab. Noch während seines Studiums gründete er zusammen mit fünf anderen Studenten GetYourGuide mit der Vision, Reisenden zu helfen, unglaub­liche Reiseerlebnisse zu finden und zu buchen. GetYourGuide hat sich seitdem zu einem der erfolgreichsten Unternehmen in der Online-Reisebranche entwickelt.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 26/25 erschienen.

von Naila Baldwin, zuerst erschienen in "Forbes", 2022

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