In Österreich wird gerne über mangelnden Reformwillen geraunzt, obwohl eigentlich allen klar ist, dass Reformen systemisch nicht vorgesehen sind. Vielleicht wäre es besser, tatkräftig auf kleine, konkrete Veränderungen zu setzen, anstatt von Unerreichbarem zu träumen.
Stellen Sie sich vor, ein Wirbelsturm hat Ihr Haus zerstört. Im Dach ein riesiges Loch, die Veranda ein Trümmerhaufen. Ein großer, alter Baum liegt quer im Garten, mit der Krone in dem Schrotthaufen, der von Ihrem schönen Auto übrig ist. Und Sie stehen in der noch einigermaßen intakten Küche und sortieren die Kaff eetassen nach Farben.
Ein Szenario, das gewisse Ähnlichkeiten mit heutiger Politik aufweist. Die Probleme sind riesig, die wirksamen Handlungsoptionen gering. Also ziehen sich viele Politikerinnen und Politiker auf Bereiche zurück, in denen noch was geht: die Vermarktung kleiner Veränderungen. Oder große Ankündigungen, von denen schon im Augenblick ihrer Äußerung klar ist, dass sie genau das bleiben werden – Ankündigungen, an die sich hoffentlich bald niemand mehr so genau erinnert. Während die großen Themen ungelöst bleiben.
Oft kommt die Klage, das heute tätige politische Personal sei besonders schwach und ideenlos, während die Verklärung früherer Akteure manchmal groteske Züge annimmt. Aber natürlich war es vor 50 Jahren leichter, Ideen umzusetzen als heute, in Zeiten, in denen nicht nur die realen Gestaltungsmöglichkeiten – Stichwort Globalisierung – und der Überblick über das Budget, sondern auch die allgemeine Orientierung verloren gegangen sind. Wohin? Warum? Und wie? Wer weiß das schon noch so genau.
Das Ziel besteht darin, das Österreich der 70er-, 80er,- 90er Jahre zu erhalten
Land der Lobbys
An allen Ecken und Enden lauern unliebsame Überraschungen und unvorhergesehene Probleme, die das Hauptziel österreichischer Politik gefährden: Alles soll so bleiben, wie es ist. Das Ziel besteht darin, das Österreich der 70er-, 80er-, 90er-Jahre im Sinne derer, die damals schon profitiert haben, zu erhalten. Daran arbeiten zahlreiche Lobbys und Interessenvertreter in diesem Land hauptberuflich.
Wer damals seinen Fuß in der Tür hatte – Jackpot. Es fließt enorme Energie hinein, diesen Zustand beizubehalten. Wer damals nicht gehört wurde – oder noch gar nicht da war –, Pech gehabt. Österreich wurde in den Nachkriegsjahrzehnten erfunden, aufgeteilt – und was liegt, pickt. Darum ist es für österreichische Politiker auch so schwierig, den Eindruck von zukunftsgerichteter Politik zu erwecken und darum wirken entsprechende Slogans so phrasenhaft. Es ist nicht vorgesehen.
Illusion
Das Originelle an der conditio austriaca ist dabei, dass man das nicht gerne zugibt. Österreich lebt in der Illusion, an Weiterentwicklung ernsthaft interessiert zu sein. Ständig wird so getan, als würde an Reformen gearbeitet, obwohl allen Beteiligten von vornherein klar ist, dass es diese Reformen nie geben wird. Experten und Expertinnen für dieses und jenes leben gut davon, jahrzehntelang über Reformbedarfe zu sprechen, die nie auch nur ansatzweise in die Nähe der Realisierung kommen; in mehr oder wenigen klugen Artikeln werden dringend notwendige Veränderungsideen beschrieben, von den zahllosen Arbeitsgruppen, die irgendwo in diesem Land damit befasst sind, ganz zu schweigen.
Ein großes, unterhaltsames Gesellschaftsspiel, zu dessen Fun-Factor auch gehört, abends mit Freunden und Familie über den mangelnden Reformwillen der gerade aktuellen Regierung zu schimpfen. Und zugleich zu wissen, dass es auch ohne Reformen irgendwie gehen wird. War ja immer so.
Neue Rahmenbedingungen
Bis jetzt. Denn die Rahmenbedingungen haben sich geändert. Der Zustand des Staatshaushalts ist schlecht. Zeit, das Spiel endlich zu beenden und einen Doppelschritt zu setzen: einerseits, gewisse Reformen einfach umzusetzen. Andererseits zu akzeptieren, dass Österreich ein strukturkonservatives Land ist, in dem die An- und Vorrechte gewisser Gruppen und Institutionen Vorrang über Effizienz und Zukunftsfähigkeit haben. Und dafür die Spielräume beherzt zu nutzen, die das bestehende System trotzdem gewährt.
Kleine, praktische Schritte
Am Beispiel Bildungssystem. Es ist ja gut zu wissen, wie sensationell die Schulen in Estland oder Finnland sind, oder wie positiv sich der gemeinsame Unterricht aller 10- bis 14-Jährigen auf die Bildungsgerechtigkeit auswirken würde. Aber beides verändert das Leben eines 12-jährigen Mittelschülers in einer Wiener Brennpunktschule – und das seiner Burn-out-gefährdeten Lehrerinnen – genau gar nicht, weil jeder gelernte Österreicher weiß, dass es diese Modelle in Österreich nie geben wird.
Reden wir doch lieber ehrlich darüber, wie man ganz konkret, innerhalb des bestehenden Systems, Veränderungen herbeiführen kann, die den Beteiligten wirklich helfen. Anstatt immer von einer besseren Welt zu träumen, als wäre sie wirklich in Reichweite, und dabei auf die echte zu vergessen. Das repariert zwar – um auf das eingangs skizzierte Bild zurückzukommen – auch nicht das Loch im Dach, aber vielleicht zumindest eine Fensterscheibe. Und das ist ja schon mal ein Anfang.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 37/2025 erschienen.