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Kopftuchverbot: „Einschränkungen sind religiösen Menschen zumutbar“

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©Symbolbild Getty Images

2020 kippte der Verfassungsgerichtshof ein im Jahr zuvor eingeführtes Kopftuchverbot für Mädchen an öffentlichen Volksschulen. Nun unternimmt die Regierung einen weiteren Anlauf, das Kopftuch zu verbannen: Der Entwurf sieht vor, dass Mädchen bis 14 Jahre an allen Schulen kein Kopftuch mehr tragen dürfen. News bat den Verfassungs- und Menschenrechtsexperten Michael Lysander Fremuth um eine rechtliche Einordnung.

Der vorliegende Entwurf für ein Kopftuchverbot für Mädchen an Schulen trägt den Namen „Bundesgesetz zur Stärkung der Selbstbestimmung von unmündigen Mädchen an Schulen mittels Einführung eines Kopftuchverbots“. Die zuständige Ministerin Claudia Plakolm stellte bei der Präsentation den Kinderschutz in den Mittelpunkt ihrer Argumentation für eine solche Regelung. Welche Rechte sind hier neben dem Kinderschutz noch betroffen?

Aus Sicht der Betroffenen geht es um die Religionsfreiheit, und zwar sowohl der Eltern als auch der Kinder. Was aber oft missverstanden wird: Wir sprechen zwar von Religionsmündigkeit ab 14 Jahren. Aber auch Kinder unter 14 Jahren genießen Religionsfreiheit. Diese wird nicht von den Eltern für ihre Kinder ausgeübt. Was jedoch eine Rolle spielt, ist das Recht der Eltern auf Erziehung der Kinder. Dieses inkludiert auch die religiöse Erziehung.

Relevant ist zudem der Gleichheitssatz, der in der österreichischen Rechtsordnung eine herausragende Rolle spielt. Religionen, aber auch Burschen und Mädchen, müssen grundsätzlich gleich behandelt werden. Auch die Meinungsfreiheit und der Schutz des Privatlebens garantieren mir, mich so kleiden zu dürfen, wie ich es mag. Sie spielen aber eine untergeordnete Rolle.

Zugleich hat der Staat die verfassungsrechtliche Aufgabe der Schulorganisation, wobei Bildung und Erziehung auch die Vermittlung von Werten umfassen. Dies ergibt sich ebenso aus dem Völkerrecht. So sagt auch die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen: Schule ist mehr als Wissensvermittlung, es geht auch um die Entwicklung von Kindern zu eigenverantwortlichen Menschen. Ziele sind etwa Toleranz, Gleichberechtigung, Wahrung der Menschenrechte. Allerdings nennt die Kinderrechtskonvention auch kulturelle Identitäten – im Fall von migrantischen Kindern sowohl die Identität und die Werte des Aufnahmelands als auch die des Herkunftslands und der Eltern. Da kann es durchaus zu Konflikten kommen, denn der Staat muss Kinder auch schützen, etwa vor Indoktrination durch Lehrkräfte in der Schule, aber auch vor Zwang durch Dritte.

Was wiegt schwerer?

Der Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates vollzieht sich im Rahmen der Verfassung. Die Grundrechte sind sozusagen die Leitmaximen. Daran muss sich der Gesetzgeber orientieren. Aber wir sehen natürlich auch miteinander in Konflikt geratende Grundrechtspositionen. Dem Recht auf Ausübung der Religion durch Tragen eines Kopftuchs kann das Recht auf Selbstbestimmung, auf Entfaltung und Entwicklung von insbesondere jungen Mädchen und somit deren Freiheit von Zwang entgegenstehen. Hier muss der Gesetzgeber prüfen, inwieweit er womöglich in die Religionsfreiheit und das Erziehungsrecht der Eltern eingreifen darf, um die Autonomie und den Schutz von jungen Mädchen vor kulturellen, ethischen, vielleicht auch sexuellen Zuschreibungen und Zwängen zu ermöglichen.

Religionsfreiheit und das religiöse Erziehungsrecht sind keine absoluten Grundrechte

Michael Lysander Fremuth

Es ist also möglich, zur Durchsetzung des einen Grundrechts in ein anderes einzugreifen?

Religionsfreiheit und das religiöse Erziehungsrecht sind keine absoluten Grundrechte. Der Staat darf und muss sogar eingreifen, wenn es zum Beispiel um weibliche Genitalverstümmelung geht. Die Beschneidung von Mädchen ist zwar eher kulturell konnotiert, aber auch wenn jemand religiöse Gründe anführen würde, müsste der Gesetzgeber eingreifen.

Wie sieht das bei einem Kopftuchverbot aus?

Das Tragen eines Kopftuchs als Ausdruck einer religiösen Überzeugung ist geschützt und ein Verbot daher ein Eingriff in die Religionsfreiheit. Aber der Europäische Menschengerichtshof sagt, Einschränkungen sind religiösen Menschen zumutbar, etwa zur Wahrung von Pluralismus und der Vermeidung von sozialem Druck in Schulen. Wichtig ist allerdings, dass das gleichheitskonform passiert.

Wo gibt es solche Verbote bereits?

In Frankreich und einigen Regionen Bel­giens, teilweise wird das aber auch auf der Ebene einzelner Schulen verhandelt. Es gibt in Europa eine Tendenz, die annimmt, dass etwas getan werden muss, nachdem man die Problematik erkannt hat. Das ist aber vor allem in Ländern mit einer laizistischen Tradition der Fall. Der Laizismus basiert auf der Idee, Religion ist Privatsache, wir trennen strikt zwischen der öffentlichen Sphäre und der Religion. In Österreich ist das insofern anders, als der Staat zwar religiös neutral sein muss, aber durchaus die religiöse Betätigung fördert. Grundsätzlich verboten sind allerdings selektive Maßnahmen, die nur bestimmte Religionen adressieren.

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Sie sprachen von einer Tendenz in Europa, die „die Problematik erkannt hat“. Welche Problematik meinen Sie?

Wir sehen, dass das Kopftuch über die individuelle Zurschaustellung von Religion hinausgeht, die gibt es, aber eben nicht nur. Es ist auch zu einer Anreicherung mit kulturellen und politischen Inhalten gekommen. Genau darauf stellt der Entwurf ab, indem er ausführt, dass Mädchen durchaus früh sexualisiert und etwa für die Ehre der Familie verantwortlich gemacht werden können. Wir sehen zudem, dass das Kopftuch für die Frage der Identitätsbildung eine große Rolle spielt. Dabei kann es dann auch um eine Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft gehen, indem der Islam gegen das Christentum oder gegen die säkulare oder laizistische westliche Welt gestellt wird.

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Michael Lysander Fremuth

 © Bild: Ricardo Herrgott

Es wären aus integrationspolitischen Erwägungen problematische Entwicklungen, sollte versucht werden, frühzeitig durch Kleidung im Hinblick auf die Mehrheitsgesellschaft eine Gegenidentität zu entwickeln. Es würde betroffenen Mädchen die Integration erschweren, wenn sie mit Kultur- und Identitätskonflikten überfrachtet würden. Wichtig ist aber zu betonen: Das gilt nicht für alle Mädchen. Es gibt junge Frauen, die das Kopftuch aus Überzeugung tragen. Im Entwurf werden allerdings Zweifel an der Autonomie dieser Willensbildung geäußert.

Wenn Sie sagen, dass das Kopftuch mehr als ein religiöses Symbol sein kann, könnte man das so interpretieren, dass es auch als Zeichen politischer Radikalisierung gelesen werden kann?

Da muss man sehr vorsichtig sein. Der Staat darf religiöse Symbole nicht deuten. Studien zeigen freilich, dass es durchaus entsprechende Aufladungen geben kann. Zudem wird durch radikale religiöse Strömungen, Influencer auf Social Media, aber auch durch Gruppendruck und teilweise Familien versucht, das Kopftuch zu einem Symbol der Abgrenzung zu machen. Es ist aber nicht zulässig, das Kopftuch pauschal im Sinn eines radikalen Islams zu lesen. Die aktuelle Herausforderung ist eher, dass auch nach der Auskunft von Lehrkräften der Druck auf als muslimisch wahrgenommene Mädchen steigt, ein Kopftuch zu tragen und das durchaus mit Tendenzen zusammenhängen kann, den Islam zu politisieren und gegen vermeintlich „westliche“ Werte in Stellung zu bringen.

Der letzte Versuch, in Österreich ein Kopftuchverbot – damals an Volksschulen – einzuführen, wurde vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig aufgehoben. Warum?

Der VfGH hat einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz in Verbindung mit der Religionsfreiheit erkannt. Ein Argument war etwa, dass das Verbot nur an öffentlichen, aber nicht an Privatschulen ohne Öffentlichkeitsrecht und im Haus­unterricht gegolten hat. Dadurch würden mehr Mädchen in Privatschulen gehen und hätten noch weniger Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft. Das sei ungeeignet, um Inklusion und Geschlechtergleichheit zu erzielen. Er betonte aber auch, der Gesetzgeber dürfe das Kopftuch nicht deuten und wegen der Neutralität nicht selektiv gegen ein religiöses Symbol vorgehen.

Es gab also eine Ungleichbehandlung zwischen verschiedenen Symbolen, aber auch zwischen Mädchen und Burschen, weil die Kippa oder der Pag, der hinduistische Turban, im damaligen Gesetz erlaubt blieben. Der VfGH war der Ansicht, dass es damit zu einer Diskriminierung von muslimischen Mädchen käme. Der Gesetzgeber müsse vielmehr Maßnahmen gegen jene ergreifen, die sozialen Druck auf sie ausüben.

Wenn es familiären Druck, aber auch Druck von Mitschülern gibt, ist die Möglichkeit, sich auf das Verbot berufen zu können, sicherlich eine starke Form des Empowerments betroffener Mädchen

Michael Lysander Fremuth

Auch im aktuellen Entwurf wird nur das Kopftuch adressiert, nun soll es aber auch an Privatschulen für Mädchen bis 14 Jahre verboten werden.

Ja, Privatschulen sind nun erfasst. Man hat also auf die Judikatur des VfGH reagiert. Das Ausweichen auf Hausunterricht bleibt aber weiter möglich. Faktisch gibt es aber keine Hinweise, dass es zu massenhaftem Hausunterricht kommen wird. Was der Entwurf nicht erwähnt, ist das mögliche Ausweichen auf andere Kopfbedeckungen wie Schildkappe, Turban oder Perücke. Hier ließe sich aber argumentieren, dass es zumindest nicht zu einer vergleichbaren religiösen und kulturellen Aufladung kommen würde. Zudem gibt es ja noch Hausordnungen und Gebote der Höflichkeit.

Zweifelhaft ist vor allem die Wahrung der Neutralität, hinsichtlich derer der VfGH in der Vergangenheit streng judiziert hat. Es wäre wahrscheinlicher, dass eine entsprechende Regelung vor dem Gerichtshof hält, wenn der Gesetzgeber anstreben würde, die Schule zu einem religiös neutralen Ort der Begegnung zu machen und allgemein die sichtbare Zurschaustellung religiöser Symbole adressiert hätte.

Wie wahrscheinlich ist es, dass der VfGH auch die neue Regelung in ihrer jetzigen Entwurfsform – es können ja nach Ende der Begutachtungsfrist noch Änderungen vorgenommen werden – wieder kippt?

Das Erkenntnis aus 2020 belässt dem Gesetzgeber kaum Spielräume. Ob das Kopftuchverbot in dieser Form hält, wird insbesondere davon abhängen, ob der VfGH doch akzeptiert, dass der Gesetzgeber das Kopftuch insoweit umdeutet, als es weniger als religiöses Symbol, sondern vielmehr als „ehrkulturelle“ Zuschreibung gelesen wird. Damit verbunden dürfte erheblich werden, ob er anerkennt, dass sich die Situation faktisch so verschärft hat, dass der Gesetzgeber einschreiten muss, damit die Autonomie von jungen Mädchen gewährleistet bleibt. Hier ließe sich womöglich argumentieren, dass das Kopftuch mit anderen religiösen Symbolen nicht vergleichbar sei, jedenfalls eine Ungleichbehandlung ausnahmsweise gerechtfertigt werden könnte. Einfach wird das aber nicht.

Und doch überzeugt die Absicht, die Schule als Ort auszugestalten, der das Ausprobieren alternativer Lebensentwürfe ermöglicht, und vielleicht als einzigen Ort anzubieten, wo Mädchen die Chance haben, zu erfahren, wie es sich anfühlt, kein Kopftuch zu tragen, um dann wirklich autonom zu entscheiden. Wenn es familiären Druck, aber auch Druck von Mitschülern gibt, ist die Möglichkeit, sich auf das Verbot berufen zu können, sicherlich eine starke Form des Empowerments betroffener Mädchen.

© Bild: Privat

Steckbrief

Michael Lysander Fremuth

Der Verfassungs- und Völkerrechtler ist seit April 2019 Professor für Grund- und Menschenrechte am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien. Er ist zudem wissenschaftlicher Direktor des Ludwig Boltzmann Instituts für Grund- und Menschenrechte.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 43/2025 erschienen.

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