Warum geht man als junger Mensch in die Politik? Welchen Anspruch hat man als Politiker an sich selbst? Was soll bleiben, wenn man die Politik verlässt? Ein Gespräch mit Yannick Shetty. Der 30-Jährige ist einer der jüngsten Abgeordneten im Nationalrat und als Klubobmann von NEOS an einer der Schlüsselpositionen der schwarz-rot-pinken Koalition.
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Sie haben sich als Treffpunkt für das Interview das Gasthaus Blauensteiner in der Wiener Josefstädter Straße ausgesucht. Warum?
Ich bin Tiroler, nach der Matura nach Wien gezogen, und hier in der Nähe war meine erste WG. Ich bin oft hier: ein gutes Wirtshaus mit preiswerter Küche. Die Gäste sind so vielfältig wie die Stadt – von linken Studenten bis zu Burschenschaftern. Das macht Politik für mich aus: dass man im Diskurs bleibt, auch wenn Meinungen unterschiedlich sind.
Geht es in der Politik um die Lufthoheit über den Stammtischen?
Ich bin hier nicht am Stammtisch, sondern regelmäßig zum Mittagessen. Man kommt ins Diskutieren, geht raus aus der eigenen Politikblase. Ich werde von ganz unterschiedlichen Leuten angeredet und man bekommt durchaus den Spiegel vorgehalten.
Was haben Sie dabei gelernt?
Ich habe durch Gespräche über die Jahre auch Meinungen geändert. Wir waren als Politik lange am falschen Dampfer bei der Frage: Wie funktioniert gelingende Integration? Ich bin felsenfest überzeugt, dass die FPÖ nicht die richtigen Lösungen hat, dass es aber auch nicht richtig ist, wie manche zu sagen, alles, was die FPÖ sagt, ist rassistisch und quasi Wiederbetätigung.
Was erwarten Sie von Politikern? Was von sich selbst?
NEOS-Gründer Matthias Strolz hat gesagt: „Politik ist der Ort, an dem wir uns ausmachen, wie wir miteinander leben.“ Das halte ich für eine treffende Beschreibung. Ob Klassensprecher, Abgeordneter oder Bundeskanzler – man schafft Regeln für das Zusammenleben. Leider hat sich dieser Ort Politik nicht besonders gut entwickelt. Politik ist toxisch geworden, es herrscht ein Freund-Feind-Denken. Ich versuche, aus dem auszubrechen: Diskutieren wir hart in der Sache, aber vergessen wir nicht, alle 183 Abgeordneten sind gewählt und jeder vertritt gleich viele Österreicherinnen und Österreicher. Stellen wir das Gemeinsame in den Vordergrund. Und ja, es gibt Gemeinsamkeiten zwischen einem Liberalen und einem Freiheitlichen. Zwar nicht viele, aber suchen wir doch diese Gemeinsamkeiten. Gerade in Zeiten, wo Polarisierung zum bestimmenden Element geworden ist.
Haben Sie welche gefunden? Als Person sind Sie in vielem das Gegenteil freiheitlicher Weltsicht.
Es gibt eine Überschneidung: Ich unterstelle den meisten FPÖ-Abgeordneten, dass sie aus einem im positiven Sinn patriotischen Zugang handeln, nämlich Gutes für das Land zu bewirken. Das will ich auch. Es gibt auch inhaltliche Überschneidungen: FPÖ und NEOS sind für die Abschaffung der Zwangsmitgliedschaft in Kammern, für Entbürokratisierung, einen schlanken Staat. Bei jenen, die den extremen Kurs Herbert Kickls verfolgen, gibt es sicher auch viele, die allein schon mit dem, wie ich bin – jung, migrantische Wurzeln, homosexuell – ein Problem haben. Mit solchen extremen Typen ist es schwierig, Gemeinsamkeiten zu finden.
Mir fallen eine Handvoll FPÖ-Abgeordnete ein, mit denen ich auf einen Kaffee gehen und Dinge ausmachen kann, die halten. Aber die Kickl-Fraktion will solche Gepflogenheiten bewusst zerstören
Politik als Ort, wo die Regeln ausgemacht werden: Allerdings haben Politiker das Vertrauen der Menschen verloren und für viele das Recht, ihr Leben zu beeinflussen.
Ich habe das Gefühl, dass in Österreich jede Gelegenheit gesucht wird, um uns als Politik an sich schlecht zu machen. Es werden Spesen oder Dienstwägen groß thematisiert. Darüber kann man im Einzelfall diskutieren, aber das sind doch Oberflächlichkeiten. Im direkten Zusammentreffen mit Menschen, etwa bei Veranstaltungen, gibt es hingegen oft eine große Wertschätzung für das, was wir tun. Im digitalen Raum allerdings ist der Diskurs häufig total verroht. In der Anonymität ist es viel leichter zu sagen: „Das sind alles Volltrotteln.“ Die Ablehnung, die ich und viele Kolleginnen und Kollegen hier in riesigem Ausmaß bekommen, spüre ich nicht ansatzweise im „echten“ Leben.
Wie gehen Sie mit Beschimpfung und Drohungen in sozialen Medien um?
Sehr harte, verrohte Sprache macht mir nichts. Kommentare, die strafrechtlich relevant sind, zeigen wir an. Morddrohungen kommen Gott sei Dank selten vor, da gibt es exzellente Mitarbeiter im Verfassungsschutz, die das dann verfolgen.
Wenn Politiker anzeigen, heißt es, sie würden die Meinungsfreiheit untergraben. Bei Robert Habeck etwa.
Ich finde es tatsächlich eigenartig, dass man als Vizekanzler eines 80-Millionen-Einwohner-Landes jemanden anzeigt, weil er einen als „Schwachkopf“ bezeichnet. Das würden wir nie machen. Das muss man als Politiker aushalten können. Aber wenn jemand schreibt: „1943 hätten wir dich in die Gaskammer geschickt“, dann zeigen wir das an.
Politik als toxischer Ort: Gibt es noch die Fähigkeit zum Kompromiss?
Die gibt es. Mir fallen eine Handvoll FPÖ-Abgeordnete ein, mit denen ich auf einen Kaffee gehen und Dinge ausmachen kann, die halten. Aber die Kickl-Fraktion will solche Gepflogenheiten bewusst zerstören. Meine Unterstellung ist, er macht das mit dem Ziel, demokratische Institutionen kaputt zu schießen.
Politikerinnen und Politiker scheuen sich oft, dezidierte Meinungen zu vertreten, weil sie Gegenwind fürchten. Ertappen Sie sich bei der Schere im Kopf?
Man ertappt sich ständig dabei. In Zeiten, wo jedes Wort viral gehen kann, wäre es gelogen zu sagen, man denkt nicht darüber nach. Aber meine Authentizität ist die letzte Eigenschaft, an der ich herumschnipseln möchte. Dass ich Dinge nicht sage, von denen ich überzeugt bin, kann ich mich nicht erinnern. Dass ich das Gegenteil von meinen Grundüberzeugungen sagen muss, oder eine Aussage umschiffen muss, kommt selten vor. Aber, ja, es kommt vor, und ich versuche dann zu erklären, warum ich gerade etwas sage, das als Politikersprech wahrgenommen wird.
Kommt das öfter vor, seit Sie Klubobmann einer Regierungspartei sind?
Sicher. Aber im Vergleich zu den Grünen, wo ich den Eindruck hatte, dass viele Abgeordnete sich die Frage stellen mussten, ob sie ihre Grundüberzeugungen* an der Garderobe im Vorzimmer der Macht abgegeben haben, gab es bisher keinen einzigen Beschluss im Parlament, nach dem ich mich nicht in den Spiegel schauen konnte. Waren schwierige Entscheidungen dabei? Keine Frage! Aber das Regierungsprogramm trägt, gemessen am Wahlergebnis, eine sehr starke pinke Handschrift.
*Erklärung
Das Interview wurde geführt, bevor NEOS-Abgeordnete Stephanie Krisper ihren Rückzug aus dem Nationalrat bekannt gab. Ihre Begründung: „Mir ist natürlich klar: Kompromisse braucht es. Aber bei meinen Herzensthemen sind nicht nur die Abstriche sehr groß. Es kam auch zu Veränderungen in der Haltung bei NEOS als Regierungspartei. Am eindrücklichsten war dies bisher beim Stopp der Familienzusammenführung und der Messengerüberwachung.“
Und weiter: „Machen wir klar, dass gewisse Grundprinzipien nicht verhandelbar sind, und vermitteln ihren Wert? Oder geben wir populistischem Druck nach und senden dadurch die falschen Signale? Da hat sich viel verschoben.“


Yannick Shetty im Gespräch mit News-Politik-Redakteurin Renate Kromp.
© Bild: Matt ObserveZwischen Grünen und NEOS gab es oft Wähleraustausch: Das ist mit dem Streichen der Klimaförderungen und dem Ja zum Lobautunnel vorbei?
Eine endgültige Entscheidung zum Lobautunnel wird erst in einigen Jahren gefällt. Derzeit ist nur der Lückenschluss der S1-Spange Thema. Natürlich gibt es Passagen im Regierungsprogramm, die ich nicht so toll finde. Alles andere wäre sehr eigenartig. Befremdlich finde ich, dass uns die Grünen vorhalten, dass wir klimaschädliche Subventionen nicht angegriffen haben. Das ist in fünf Jahren grüner Regierungsbeteiligung auch nicht passiert.
Zu wie viel Prozent geht es Politikern um die Macht, zu wie viel um Inhalt?
Würde man das die Bevölkerung befragen, wäre die Antwort „90 Prozent geht es nur um Macht, Geld und Dienstwägen“. Mir fallen in jeder Partei Leute ein, denen es um die Sache geht. Aber man trifft viele Menschen in der Politik, wo man sieht, da war einmal eine Flamme, die ist aber schon lange erloschen. Das finde ich traurig. Leute, die Überzeugungstäterinnen und -täter waren, aber zu Zynikern geworden sind. Es gibt sicher auch jene, die Politik aus rein egoistischem Antrieb machen. Aber es muss eh jeder für sich selbst wissen, wie er das mit seinem Gewissen vereinbart.
Auch bei NEOS?
Sicher gibt es auch bei uns Zyniker. Aber wir sind die Partei, die am wenigsten verbraucht ist. Das hat den banalen Grund, dass es uns erst seit 2012 gibt und wir das erste Mal in einer Bundesregierung sind. Wir sind frischer, energiegeladener, haben nicht den Marsch durch die Institutionen gemacht. Es mag ein Nachteil sein, keine große Kammer im Hintergrund zu haben, aber es befreit im Denken, wenn man nicht 37 Jahre Regierung durchgehend am Rücken hat, wie einer unserer Koalitionspartner.
Die Vorstellung, als Politiker in Pension zu gehen, finde ich abstoßend, nicht zuletzt, weil ich nicht als frustrierter Zyniker enden will
Was soll von Ihnen bleiben, wenn Sie die Politik verlassen?
NEOS bin ich wegen dem Gründungsthema Bildung beigetreten. In den letzten Jahren habe ich mich in das Thema Integration eingearbeitet. Das ist neben dem Klimawandel und dem Umgang mit Künstlicher Intelligenz die größte Herausforderung für eine Zuwanderungsgesellschaft wie Österreich. Wenn wir das nicht produktiv lösen – derzeit ist es ja eine destruktive Debatte –, werden wir den Wohlfahrts- und Sozialstaat, und das, was wir an Österreich schätzen, nicht erhalten können. Wir brauchen Migration. Doch so wie sie stattgefunden hat, nämlich ohne aktiver Integrationspolitik, ist das ein toxischer Cocktail. Viele unserer Vorschläge haben es ins Regierungsprogramm geschafft, etwa das verpflichtende Integrationsprogramm. Wenn wir das schaffen umzusetzen – daran würde ich für mich Erfolg messen.
Wie lange wollen Sie Politik machen?
Die Vorstellung, als Politiker in Pension zu gehen, finde ich abstoßend, nicht zuletzt, weil ich nicht als frustrierter Zyniker enden will. Es gibt Beispiele, die eher Mahnmal sind statt Vorbild. Ich mache wahnsinnig gerne Politik, aber die Aussicht, im Leben noch etwas ganz anderes zu machen, ist sehr befriedigend.
Politiker reden von der Zukunft, die sie für Kinder sichern wollen. Wie ehrlich ist das? Es gibt Klimawandel, die KI wird viele Jobs auffressen, und die Politik spricht von Wohlstand nach heutigem Maßstab.
Ich habe das Gefühl, Österreich ist ein Stück weit wohlstandsverwahrlost. Wir ruhen uns auf dem Wohlstand der Vergangenheit aus. Weil wir eines der reichsten, schönsten und sichersten Länder der Welt sind, muss es immer so bleiben, und es reicht, da und dort ein Schräubchen zu drehen – das denken viele. Ich glaube, wenn man Dinge nicht grundsätzlich ändert, wird nicht immer alles gut bleiben. Politik ist zu gegenwartsbezogen und auf den nächsten Wahltag fokussiert. Das wird man in einer Demokratie nie ganz auflösen können. Man kann Politikerinnen und Politikern nicht vorwerfen, dass sie wiedergewählt werden wollen. Ich fände es spannend, Anreize für Parteien zu schaffen, über den nächsten Wahltag hinauszudenken.
Wenn es um die Zukunft von Kindern geht, dann oft in dem Sinn, dass sie funktionieren sollen – Schule, Ausbildung –, um unseren Wohlstand abzusichern.
Da haben wir einen anderen Zugang: Wir glauben an mündige Menschen, die selbstbestimmt ihr Leben leben können. Es braucht ein Bildungssystem, das sie dazu ermächtigt. Bildung ist für uns mehr als die Vorbereitung auf einen Beruf. Das Bildungssystem wurde seit Maria Theresia nicht grundlegend reformiert und entspricht diesen Anforderungen nicht. NEOS ist im Regierungsprogramm Großes gelungen, um im Bildungssystem keinen Stein auf dem anderen zu lassen und heilige Kühe zu schlachten. Man kann beispielsweise auch hinterfragen, ob es zeitgemäß ist, dass wir mehr Lateinunterricht haben als digitale Grundbildung. – Und ich habe in Latein maturiert.
Ist Politik ein intellektueller Auftrag oder nur Verwaltung und Macht?
Politik hat einen Auftrag, der über die nächste Schlagzeile hinausgeht. Ich teile die Analyse, dass das immer weniger Platz findet. Man muss in der Politik die großen Fragen ansprechen. Das ist die DNA von NEOS. Einer unserer Grundwerte ist, evidenzbasierte Politik zu machen. Das große Bild, wo wollen wir als Gesellschaft hin und welche Entscheidungen braucht es dafür, muss in den Vordergrund rücken. Aber ich will mich da gar nicht ausnehmen: Als junger Abgeordneter mit großen Social-Media-Kanälen ist man verleitet, eher daran zu denken, welches Thema funktioniert kurzfristig gut. Und nicht jedes ist eine intellektuelle Kraftanstrengung.

Steckbrief
Yannick Shetty
Yannick Shetty ist in Innsbruck aufgewachsen. Nach der Matura kam er für Zivildienst und Jusstudium nach Wien. In dieser Zeit begann auch sein Engagement für die neu gegründeten NEOS. Shetty war von 2016 bis 2018 Vorsitzender der JUNOS-Studierenden. 2019 kandidierte er erstmals bei der Nationalratswahl und war danach damals jüngster Abgeordneter im Parlament. Nach dem Einstieg der NEOS in die Bundesregierung wurde Shetty Klubobmann.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 42/2025 erschienen.