Wiens Bürgermeister Michael Ludwig macht Vorschläge zur Reform der Mindestsicherung: Künftig sollen die Wohnkosten an die Mietbeihilfe angerechnet werden, Bedarfsgemeinschaften gleichgestellt und der Kindergartenzugang erleichtert werden. Er plädiert für eine „sinnvolle“ bundesweite Lösung noch im Herbst
Das Thema Mindestsicherung in Wien wird seit Jahren heftig und sehr emotional diskutiert. Wie sollte man diese Frage lösen?
Ich habe schon letztes Jahr im Sommer, als das ja auch ganz stark Thema war, vorgeschlagen, dass man alle arbeitsfähigen Menschen, die Mindestsicherung beziehen, über das AMS abwickeln sollte. Was den Vorteil hätte, dass man noch stärker auf die Einbeziehung von Mindestsicherungsbeziehern in den Arbeitsmarkt fokussiert. Das ist ja auch jetzt unser Ziel. Wir haben seit dem vergangenen Jahr aber auch insgesamt 20.000 Sanktionen in diesem Bereich gesetzt, wenn jemand sich geweigert hat, mit dem AMS zu kooperieren.
Das heißt, wenn Menschen kein Arbeitsangebot annehmen, dann wird beim ersten Mal 25 Prozent reduziert, beim zweiten Mal 50 Prozent, beim dritten Mal dann 100 Prozent. Aber durch eine stärkere Anbindung an das AMS würde ich mir da noch eine effizientere Möglichkeit vorstellen, die Menschen in den Arbeitsmarkt zu bringen. Ich habe mich sehr gefreut, dass die AMS-Vorstände das auch unterstützt haben. Aber das wird natürlich nur funktionieren, wenn das AMS auch mehr finanzielle und personelle Ressourcen bekommt.
Dazu kommt der SPÖ-Vorschlag der Kindergrundsicherung.
Es ist ein sozialdemokratisches Grundprinzip, dass wir Kinderarmut verhindern wollen, genau. Das ist der zweite Punkt. Und der dritte ist eine Residenzpflicht. Das bedeutet, dass die Personen, die Mindestsicherung beziehen, in dem Bundesland, wo sie die Mindestsicherung beziehen, auch aufhältig sind und dass man gemeinsam ein verpflichtendes Integrationsjahr umsetzt, das wir schon einmal hatten, und das dann unter Regierungsbeteiligung der FPÖ wieder abgeschafft worden ist. Wir müssen uns auch anschauen, wie man beispielsweise die Mindestsicherung mit der Familienbeihilfe in Einklang bringen kann.
Welche Möglichkeiten gibt es da?
Forderungen, man sollte bei den Kindern degressiv vorgehen, kommen ja merkwürdigerweise aus den Bundesländern, die das selbst nur zum Teil machen. Da stagniert der Beitrag bis zum vierten Kind und erst dann wird degressiv gearbeitet. Bei der Familienbeihilfe ist es genau konträr. Da steigt der Betrag pro Kind, umso mehr Kinder man hat. Da eine gemeinsame Linie zu finden, scheint mir sinnvoll. Das könnte so ein Schritt sein, um vielleicht in der Bevölkerung noch transparenter und verständlicher zu machen, warum es wichtig ist, gerade auch bei den Kindern finanzielle Schritte zu setzen. Wir werden aber auch in Wien unabhängig davon Schritte setzen.
Welche wären das?
Zum Beispiel, dass Bedarfsgemeinschaften künftig als Wohngemeinschaften gesehen werden. Wenn zum Beispiel in einer Wohnung fünf Personen gewohnt haben und keine Familie waren, konnten sie eine höhere Mindestsicherung für eine Einzelperson beziehen. Da werden wir eine Veränderung vornehmen. Das hätte ein großes Einsparungspotenzial, ohne dass man jetzt dramatisch die Lebenssituation der einzelnen Personen verschlechtert, weil sie ohnehin einen gemeinsamen Haushalt führen und nicht fünf.
Und wir werden künftig bei allen Familienmitgliedern einen bestimmten Anteil für Wohnkosten zweckwidmen und an die Mietbeihilfe anrechnen. Auch das würde die Gesamtkosten senken, ohne die Menschen in Armut stoßen. Denn das muss man immer bedenken, dass die Mindestsicherung das unterste soziale Netz ist. Es geht nicht um einen Wettbewerb nach unten. Sondern man muss sich überlegen, was ist notwendig, damit die Menschen über die Runden kommen.
Ich glaube, dass es Sinn macht, im Herbst auch bundesweit zu einer sinnvollen Lösung zu kommen

Sollte es auch noch mehr in Richtung Sachleistungen gehen?
Ja, ich glaube, man kann auch durchaus die Sachleistungen noch stärker einrechnen. Zum Beispiel den kostenfreien Kindergarten, der ja eigentlich ursprünglich für berufstätige Eltern, insbesondere Frauen, vorgesehen war. Es ist kein Zufall, dass in Wien die Frauenbeschäftigung am höchsten ist, weil die Frauen durch dieses Modell überhaupt erst in die Lage versetzt worden sind, selber zu entscheiden, ob sie Teilzeit arbeiten oder Vollzeit arbeiten, oder ob sie überhaupt arbeiten gehen. Wenn bei Mindestsicherungsbeziehern, bei Großfamilien, viele Frauen nicht arbeiten, darf man nicht vergessen, dass das bei uns in den 60er- und 70er-Jahren auch noch üblich war und in manchen Teilen Österreichs immer noch gang und gäbe ist. Von daher würde ich glauben, dass wir Möglichkeiten schaffen sollten, dass Mindestsicherungsbezieherinnen im Rahmen eines verpflichtenden Kindergartenbesuchs die Möglichkeit haben, ihre Kinder in den Kindergarten zu geben, um damit früher berufstätig werden zu können.
Und dieser Gratis-Kindergarten für Mindestsicherungsbezieherinnen wäre dann an geringere finanzielle Zuwendungen geknüpft?
Ja, das würden wir dann mit einrechnen. Wenn man das alles mitbedenkt, Sachleistungen, die Berücksichtigung der Familienbeihilfe in der Mindestsicherung, dann die Mietbeihilfe, da gibt es dadurch jetzt schon Einsparungspotenzial von deutlich über 100 Millionen Euro, aber trotzdem genug Geld für die einzelnen Personen, für die Familien – insbesondere für Kinder – gut über die Runden zu kommen.
Wie konkret wollen Sie diesen Vorschlag weiterentwickeln? Mit wem wollen Sie ihn diskutieren?
Naja, ich höre ja auch von anderen Bundesländern, dass sie da einen starken Gesprächsbedarf haben. Das braucht man sich nicht über die Medien ausrichten, wir tun das anderen Bundesländern gegenüber ja auch nicht. Das ist auch ein bisschen unüblich, muss ich sagen, das hat es in der Vergangenheit nicht so gegeben. In Wien haben wir jetzt gezeigt, dass wir unseren Beitrag leisten werden. Wir bringen unsere Vorschläge auch in die bundespolitische Debatte ein. Ich glaube, dass es Sinn macht, im Herbst auch bundesweit zu einer sinnvollen Lösung zu kommen.
Anrechnung der Wohnkosten an die Mietbeihilfe
Bisher sind 25 % des Bezugs der Erwachsenen zur Bestreitung der Wohnkosten zweckgewidmet. Dieser Beitrag wird von der Mietbeihilfe abgezogen. Künftig werden auch bei Kindern 25 % des Bezugs für die Bestreitung der Wohnkosten zweckgewidmet und an die Mietbeihilfe angerechnet. Gerechnet wird mit einem jährlichen Einsparungspotenzial von 20 Millionen Euro.
Gleichstellung von Bedarfsgemeinschaften und WGs
Eine Bedarfsgemeinschaft bedeutet, dass z. B. fünf Einzelpersonen (keine Familie) gemeinsam in einer Wohnung leben, aber trotzdem jede von ihnen den Mindestsicherungs-Höchstsatz einer Einzelperson bekommt. Wien will nun dazu übergehen, diese Bedarfsgemeinschaften als gemeinsame Haushalte zu sehen, in denen gewisse Kosten geteilt werden und die Höhe der Mindestsicherung daran anzupassen, also zu senken. Jährliche Einsparung: 75 Millionen Euro.
Städtischer Kindergartenplatz
Wien will Kindern von Mindestsicherungsbezieher:innen mittelfristig Anspruch auf einen Platz in einem Kindergarten ab dem 3. Geburtstag einräumen – unabhängig vom Berufsstatus der Eltern. Der Kindergartenbesuch soll für diese Kinder verpflichtend werden. Erwünschte Effekte: Frauen können leichter in den Arbeitsmarkt integriert werden, die Kinder lernen besser Deutsch. Weil die Kosten für die Eltern durch diese Betreuung sinken, wird diese Leistung als Sachleistung bei den Kindersätzen angerechnet.
Wechseln wir das Thema. Sie wollen sich in nächster Zeit intensiver mit Wirtschaftspolitik beschäftigen. Warum genau dieser Fokus?
Wir sehen, dass die Wirtschaft generell gefordert ist. Nicht nur in Wien, auch in Österreich und in Europa. Und dass es notwendig ist, Maßnahmen zu setzen, um auch im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Wien war in den letzten zwei Jahren das einzige Bundesland mit einem Wirtschaftswachstum. Auch in der Industrie ist die Wertschöpfung in Wien gestiegen, während sie in Österreich gesunken ist. Auch deshalb, weil wir eine sehr ausdifferenzierte Wirtschaft haben. Und das wollen wir auch entsprechend unterstützen.
Ein großer Vorteil in Wien ist mit Sicherheit die gute Zusammenarbeit zwischen der Stadt, privaten Unternehmen und wissenschaftlichen universitären Einrichtungen. Das ist der Grund, dass wir auch im Bereich Industrie in den Sparten Life Science und Pharmazie Schwerpunkte setzen. Und natürlich im gesamten Bereich der Tourismus und Gastronomie. Wir sind weltweit die Stadt mit den meisten Kongressen und Konferenzen. Und auf diese Stärken wollen wir bauen. Von daher ist es gut, dass wir den Eurovision Song Contest nächstes Jahr in Wien haben.
Die Wiener Wirtschaft befindet Sie sich ja nicht in einem luftleeren Raum, sondern hängt stark mit größeren Entwicklungen zusammen, die in ganz Österreich und Europa derzeit schwierig sind. Welchen Handlungsspielraum haben Sie da überhaupt?
Zum einen, finde ich, sollten wir unsere Stärke als Europa nicht unterschätzen. Es gibt große Herausforderungen, das ist richtig. Europa ist aber nach wie vor einer der größten Wirtschaftsräume, der viele Möglichkeiten und daher eine starke Zukunft hat. Und diese nutzen wir in Wien. Wie gesagt, wir waren in den letzten zwei Jahren das einzige Bundesland mit einem Wirtschaftswachstum. Wir sind Sitz nicht nur von 40 internationalen Organisationen, sondern auch Sitz vieler internationaler Konzerne, die deshalb Wien auch als Wirtschaftsstandort schätzen, weil es gute infrastrukturelle Rahmenbedingungen gibt, auch was die soziale Sicherheit und was die Lebensqualität betrifft.
Ist Europa oft zu selbstkritisch, vielleicht defätistisch?
Ich glaube, es gibt einen guten Grund, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Wir sind in Europa, wie ich meine, besser als manche das beschreiben. Und ich bin auch überzeugt, dass wir im internationalen Wettbewerb nur bestehen können, wenn wir das gemeinsame Europa weiterentwickeln. Es ist aber nicht nur eine Frage der Wirtschaft. Es ist auch die Frage, ob wir das Demokratiemodell, das wir über viele Jahrzehnte, ja Jahrhunderte entwickelt haben, an die folgenden Generationen weitergeben können. Das ist keine Selbstverständlichkeit, wenn man zum Beispiel in die USA blickt. Es gibt besorgniserregende Entwicklungen und umso wichtiger ist ein geschlossenes, gemeinsames Europa.
Sind Sie zufrieden mit den Impulsen, die von der Bundesregierung kommen?
Wenn man bedenkt, dass diese Bundesregierung erst wenige Monate im Amt ist und sie außerdem die erste Regierung ist, die aus drei Parteien besteht, ist es gelungen, einiges auf den Weg zu bringen, finde ich. Ich bin überzeugt, dass die kommende Regierungsklausur sich noch stärker mit der Frage der Inflation, auch mit der Belastung der Wirtschaft und der Haushalte durch eine hohe Inflation beschäftigen wird. Das ist ein aus meiner Sicht wichtiges Thema und ich habe starke Signale, dass die kommende Regierungsklausur hier weitere Schritte mit sich bringen wird.
Man hört oft die Kritik, dass das Erfolgserlebnis diese Regierung hauptsächlich sei, die FPÖ verhindert zu haben.
Ich glaube, man sollte nicht paralysiert auf die FPÖ blicken und ständig alle Aktivitäten unter dem Gesichtspunkt betrachten, ob das für oder gegen die FPÖ ist. Die FPÖ ist eine rechtsextreme Partei und lebt sehr stark vom Frust vieler Menschen über die Rahmenbedingungen, die es derzeit gibt. Und da gibt es auch international verursachte Gründe, warum die Rahmenbedingungen schwierig sind. Aber man sollte sich da nicht zu sehr mit den Wünschen der FPÖ beschäftigen, sondern lieber klar ankündigen, was man selbst vorhat, das dann auch umsetzen und auch die Bevölkerung auf diesem Weg mitnehmen. In Wien gelingt uns das ganz gut.
Ich glaube, es ist auch im Sinne der Handelskonzerne, dass die Preise für die Bevölkerung nicht weiter steigen
Viele Menschen leiden unter den hohen Lebensmittelpreisen. Der Eindruck entsteht, dass nicht wirklich gute Lösungen am Tisch liegen, sondern dass die Verantwortung zwischen Handel und Politik hin- und hergespielt wird. Wie könnte man dieses Problem lösen?
Man sollte nicht eine Gruppe gegen die andere ausspielen, sondern es wäre wichtig, dass sich die Politik mit den großen Handelskonzernen zusammensetzt und gemeinsam Lösungen erarbeitet. Ich glaube, es ist auch im Sinne dieser Unternehmen, dass die Preise für die Bevölkerung nicht weiter steigen. Man muss sich auch die Gründe für die hohen Preise anschauen. Das sind natürlich sehr oft die hohen Energiepreise, aber nicht nur.
Wir haben ein sehr starkes Filialnetz in Österreich im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, was auch den Komfort für die Konsumenten bedeutet. Es gibt in Österreich einen höheren Qualitätsanspruch an Nahrungsmittel als in anderen Ländern. Ich glaube, da braucht es jetzt eine intensive Kommunikation aller Akteure. Ich habe die Vertreter dieser Unternehmen immer als sehr gesprächsbereit erlebt. Ich bin zuversichtlich, dass man eine Lösung finden kann.
Wie zentral ist die Frage der Lebensmittelpreise für die Sozialdemokratie bzw. für die Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratie?
Für die Sozialdemokratie ist sie ganz wichtig, weil soziale Gerechtigkeit und ein leistbares Leben für sie natürlich zentral sind. Von daher ist es ja auch richtig, dass es vonseiten der SPÖ hier starke Signale gibt, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Braucht es eine Lösung für dieses Problem, damit man von einer erfolgreichen Regierungsbeteiligung sprechen kann?
Es ist wichtig, dass sich die Sozialdemokratie in der Bundesregierung nicht nur mit der Frage der Lebensmittelpreise beschäftigt, sondern auch mit den Mieten, mit den Wohnkosten, auch mit den Energiepreisen. Da sind sicher keine leichten Lösungen möglich, das muss man fairerweise auch sagen. Aber das nicht nur anzusprechen, sondern Lösungen zu finden, ist zentrale Aufgabe der Sozialdemokratie.
Michael Ludwig
Michael Ludwig (geb. 1961) ist seit 2018 Bürgermeister von Wien. Der SPÖ-Politiker war zuvor Stadtrat für Wohnen, Wohnbau und Stadterneuerung (2007–2018). Begonnen hat der promovierte Politikwissenschafter seine berufliche Laufbahn im Bereich der Erwachsenenbildung, Mitte der 90er-Jahren begann er seine politische Karriere als Bezirksrat vom Floridsdorf.
Seit 2020 regiert Ludwig gemeinsam mit den NEOS als kleinerem Koalitionspartner, die das Bildungsressort inne haben, davor gab es eine rot-grüne Koalition.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 36/2025 erschienen.