Die Zeit der großen Epen scheint vorbei, heutiges Erzählen begnügt sich mit Zweihundertseitern. Nicht nur deshalb ist Dimitré Dinevs 1.450-Seiter „Zeit der Mutigen" ein monumentales, zu Recht für den Österreichischen Buchpreis nominiertes Unikum. Der Blick über das europäische 20. Jahrhundert ist so überwältigend wie erhellend. Das Gespräch geht dem Literaturereignis auf den Grund.
Dreizehn Jahre an einem Buch arbeiten, das pure Zeitgeschichte ist, während sich Zeit und Geschichte erst sachte und zuletzt rasend schnell in ihr Gegenteil wenden: Das Risiko, dass die so generierten 1.450 Seiten spurlos im Fundus der Literaturgeschichte versinken, ist groß.
Oder aber das Ergebnis ist groß, so wie im gegenständlichen Fall. Dann hat sich alles gelohnt. Die Frau habe viel Finanzbedarf abgefedert, sagt der österreichische Schriftsteller Dimitré Dinev, er selbst habe Drehbücher und Stückbearbeitungen für das Sommertheater geschrieben, wenn die Stipendien ausgelaufen seien. Stipendien, zuletzt bedrohlich in Spardiskussionen geraten, seien „Lebensentscheid“. Sein oder Nichtsein für die große Form, die ohnehin schon purer Luxus sei in Zeiten der Zweihundertseiter. Aber was könne man im handlichen Format denn tatsächlich erzählen? Die Produzenten der endlosen Streaming-Serien hätten das begriffen: dass eineinhalb Stunden nicht reichen. So wie auch nicht 200 Seiten für „Krieg und Frieden“.
Also setzte er sich 2012 ans nächste Riesenprojekt, neun Jahre, nachdem der vergleichsweise schmächtige 608-Seiter „Engelszungen“ überregionales Aufsehen erregt hatte. Damals kreisten die Ereignisse noch um bulgarische Emigranten, wie Dinev selbst einer war. Jetzt legt er nichts Geringeres als ein Epos des europäischen Jahrhunderts vor, vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis in die frühen Neunzigerjahre.
Zu Beginn will, als wäre es von Horváth, ein Dienstmädchen in die Donau. Sie erwacht in den Armen eines Offiziers. Und wie sich das dann in Musil-Dimensionen durch die Donauländer schwingt, vom Ersten Weltkrieg zum Wüten der Nazis, zum Terror des bulgarischen Schiwkow-Regimes und stromaufwärts in betörender Fülle der Personen und Wendungen: Das hat das Zeug zu sehr, sehr langem Fortleben.
Menschen im Widerstand
2012 waren die Ereignisse vor dem Ersten Weltkrieg noch endlos vergangen. Hätte er den Roman im Wissen um die heutige Brisanz dieser Zeit nicht anders, dringlicher begonnen? „Du hast als Schriftsteller keinen Einfluss auf die Veränderung der Welt.“ Die klugen, melancholischen Augen blitzen ironisch auf. „Das musst du schon in Kauf nehmen. Aber vielleicht lehrt dich diese Veränderbarkeit auch, worauf du dich zu konzentrieren hast: auf den Menschen selbst, auf das, was ihn ausmacht. Was uns rettet, sind die Menschen, die diese Systeme aushalten und trotzdem ihren moralischen Kompass bewahren. Wie schafft es das Gute, innerhalb autoritärer Systeme zu überleben? Während das gesamte Rechtssystem alle Hebel in Gang setzt, um das Böse zu schützen?“
Heldenmut einzufordern, wäre anmaßend, kommt er auf Nawalny. „Aber man kann Gerechtigkeit für den verlangen, der ihn auf sich nimmt.“
„Zeit der Mutigen“, trotzdem
Der Roman heißt „Zeit der Mutigen“ und ist ein einziger Appell zur Zuversicht, antizyklisch zum heutigen Debakel. Er konfrontiere sich im Roman mit dem früheren Ich, erklärt Dinev. Mit der Jugend in Bulgarien, bis er sich als 22-Jähriger auf den Weg nach Österreich machte. Im Punk-Kostüm habe er gegen Schiwkoffs graue Idylle rebelliert, als die Musik für eine ganze Generation das einzige Ausbruchsinstrument war.
Auf offener Straße habe ihm die Polizei die Bürste gekappt. „Ich haben also den Vorteil, dass ich eine der gewalttätigsten Gesellschaften erlebt habe, mit einer Armee von Denunzianten, einer Struktur des Verleumdens. Ich habe alle Initiationsrunden mitgemacht, vom Pionier bis zu zwei Jahren Heer. Ich habe aber auch gesehen, dass es möglich ist, diese Leute zu Fall zu bringen. Daher die Hoffnung.“ Die auch mit Emphase die EU einschließt. „Man muss total einfach gestrickt und ungebildet sein, um nicht zu wissen, wie wichtig Europa jetzt ist. Nur so ein starkes Bündnis kann sich den wahnsinnigen Kräften, die sich gerade bilden, entgegenstellen. Ein einziges Land geht vollkommen unter.“


Das Buch
Das europäische Epos „Zeit der Mutigen“ entwirft auf 1.450 Seiten ein europäisches Monumentalgemälde vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis in die Neunzigerjahre. Das alles umschlingende Band ist die Donau. Das Werk ist für den Österreichischen Buchpreis nominiert. Kein & Aber, € 38,50
Fremdsprache Deutsch
Das Gespräch kehrt zum Roman zurück. Die Sprache, rhythmisch, dicht und voller Bilder, auf 1.450 Seiten durchzuhalten, Distanz zu Figuren zu wahren, die sich 13 Jahre im Kopf eingemietet hätten: Das sei die wahre Prüfung gewesen. Und das auch noch in einer Sprache, die 22 Jahre nicht die seine war?
Dafür könne er nur dankbar sein, antwortet er. „In Amerika sind die meisten Bewohner Einwanderer. Für sie ist es etwas Alltägliches, Sprache als reines Instrument zu nutzen, wie man eine Geige in die Hand nimmt. Du stellst dann jedes Wort, das du verwendest, infrage, behandelst aber auch alle Wörter gleichberechtigt. Auch solche, die den anderen aufgrund ihrer Erziehung verboten wurden.“
Ein Schlusswort? Eher eine Definition: „Sprache ist das, was zum Schmerz vordringt. Was einen Namen für den Schmerz sucht.“ Sprache heilt.

Steckbrief
Dimitré Dinev
Dimitré Dinev wurde 1968 in Plowdiw, Bulgarien, geboren, die Großmutter war Wunderheilerin im Dorf. Als 22-Jähriger kam er nach Österreich, seit 1991 schreibt er Romane, Theaterstücke und Drehbücher in deutscher Spreche, seit 2003 ist er österreichischer Staatsbürger. Sein Epos „Engelszungen“ erschien 2003, sein Werk wurde in 15 Sprachen übersetzt. Er lebt verheiratet in Wien und hat zwei Töchter.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 40/2025 erschienen.