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Wo ist Thomas Glavinic? „Im Untergrund, abseits der Irrenanstalt“

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Thomas Glavinic

©Sebastian Reich

Sein Ruf als Schriftsteller ist nie wirklich verblasst, seine dritte Romanverfilmung soeben angelaufen. Aber Thomas Glavinic ist nach Abstürzen in Sucht und Depression selbst für Freunde unauffindbar. Interviewbegehren ignoriert er. Für News hat er eine Ausnahme gemacht und erzählt von einem grausamen Entzug samt zerstörerischem Privatkonkurs.

Solch einen Einstieg in eine Geschichte kann man sich nicht kaufen. Man kann ihn nur auf freundschaftsdiplomatischem Weg umkreisen, bis das Resultat langer Verhandlungen zur späten Abendstunde unerwartet im Posteingang steht. „Ich bin so klar wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Ich lasse seit acht Jahren die Finger von Alkohol und Drogen“, übermittelt der große, sehr große österreichische Schriftsteller Thomas Glavinic ein vergiftetes Happy End seiner biografischen Verwerfungen.

Die Fortsetzung führt allerdings in eine nah ­benachbarte Hölle: in die Realversion der österreichischen Bürokratie, die seit Kafka weltliterarischen Standard verkörpert. „Das habe ich ohne Klinik, ohne Therapeuten und ohne fremde Hilfe zuwege gebracht. Wobei ich dem österreichischen Staat dankbar sein muss. Indem er mir die Krankenversicherung entzog und meine Konten sperrte, hat er mir eine wunderbar asketische Do-it-yourself-Therapie verordnet. Wer sich keinen Entzug leisten kann, muss eben allein aufhören oder sterben. Das nenne ich effiziente Gesundheitspolitik.“

Sehnsucht nach Veränderung

Das muss man erst einmal können: in sechs Sätzen ein ganzes Lebensverhängnis zu skizzieren, von den bösen Substanzen bis zum harten Privatkonkurs anno 2023, und die wankende Zukunftsperspektive gleich mitzudenken. Denn Thomas Glavinic, bis weit in die Zehnerjahre als genialer Nonkonformist, ausnahmeformatiger Stilist und publikumsmagnetischer Geschichtenfabulierer bewundert, ist unauffindbar, selbst für Freunde verschollen.

Dabei sollte einem massenhaft gelesenen und mit Preisen behängten 53-Jährigen im besten Schriftstelleralter zumindest beruflich nichts mehr Nennenswertes zustoßen können. Doch der schon weit gediehene nächste Roman wird so bald nicht erscheinen.

Ruhm ist das Narkotikum, mit dem man Künstler ruhigstellt, damit sie nicht auf die Idee kommen, gefährlich zu werden

Thomas Glavinic

„Ruhm“, beantwortet Glavinic die zugehörige Frage, „ist das Narkotikum, mit dem man Künstler ruhigstellt, damit sie nicht auf die Idee kommen, gefährlich zu werden. Ich habe keine Sehnsucht nach Applaus, ich habe Sehnsucht nach Veränderung. Ich würde zu gern einen Roman veröffentlichen, aber der österreichische Staat hat eine faszinierende Methode entwickelt, Literatur zu verhindern. Nehmen wir an, ich bekomme 80.000 Euro Vorschuss für einen Roman“, leitet er ins Berechenbare über.

„Aufgrund meiner Pfändungssituation beschlagnahmt der Staat alles bis auf das Existenzminimum. Mir bleiben also ca. 13.200 Euro für ein Jahr. Die Sozialversicherung berechnet ihre Beiträge aber vom Bruttobetrag. Das wären deutlich mehr als 13.200 Euro. Ich kann es mir also leider nicht leisten, meinem Beruf nachzugehen … Das ist Zensur durch Mathematik. Aber ja, im Untergrund, abseits dieser Irrenanstalt, existiert ein Roman. Er wartet darauf, dass die Realität wieder logisch wird.“

Der anonymisierte Film

Die Situation nimmt sich umso surrealer aus, als in diesen Tagen seine bereits dritte Romanverfilmung angelaufen ist. „Das Leben der Wünsche“, vom deutschen Regisseur Erik Schmitt aus dem Entstehungsjahr 2009 geschmeidig in die Gegenwart transferiert, wird seitens der Kritik nicht unter den cineastischen Offenbarungen geführt. Die dunkel sarkastische Geschichte eines Mannes, dem ein dämonischer Wohltäter drei Wünsche freistellt und ihm damit das Tor in die Katastrophe aufschließt, wurde in ein Stück routinierten Unterhaltungskinos verwandelt. Damit hat es der 16 Jahre alte Roman dank der Protagonisten Matthias Schweighöfer und Verena Altenberger von der Bobo- über die Hipster- bis in die „Gen Z“-Klientel geschafft.

Aber hätten Verleih und Medienbetreuung eine Strategie entworfen, den Namen des Autors verschwinden zu lassen: Sie wäre großartig aufgegangen. Selbst beim Hanser-Verlag zeigt man sich überrascht vom Faktum der Verfilmung. Und die mit der Verbreitung beauftragte Medienagentur vermutet auf telefonische Anfrage, es eventuell mit einem unbekannten Nebendarsteller zu tun zu haben. Wurde denn der Autor in das Projekt gar nicht einbezogen? „Nein“, bestätigt Glavinic. „Ich habe es wohlwollend aus der Distanz beobachtet. Es ist eine Interpretation. Aber wenn Sie wissen wollen, was wirklich passiert, müssen Sie das Buch lesen. Der Film ist die Oberfläche, der Roman ist das, was darunter lauert.“

Panik, Sucht, Depression

Und noch tiefer darunter lauert eine Biografie, deren Tragik in etwas Positives zu verwandeln jetzt Anliegen jedes Kulturmenschen sein müsste. Panikattacken hätten ihn schon in der Grazer Kindheit mehrmals die Woche überfallen, gab Glavinic bekannt, als er der Öffentlichkeit noch Rede und Antwort stand. 2007, mit 35 Jahren, hätten ihn die ersten Depressionen heimgesucht, die Therapie habe nicht geholfen. „Ein Jahr später war ich Vollzeit-Alkoholiker, geschieden, kokainabhängig und wirklich depressiv.“

Dabei stand der Sohn einer österreichischen Mutter und eines bald abhanden gekommenen bosnischen Taxifahrers damals auf der Höhe seines Ruhms. Nach konfliktreicher Schulzeit und Berufsaktivitäten vom Taxifahrer bis zum Werbetexter war Glavinic 1998 mit dem Schach-Roman „Carl Haffners Liebe zum Unentschieden“ erstmals in Fachkreisen aufgefallen. Der für seine kalte, sach­liche Grausamkeit bewunderte Thriller „Der Kameramörder“ wurde 2001 schon mit dem Glauser-Preis für herausragende Kriminalliteratur ausgezeichnet und 2010 verfilmt. Gleichfalls 2010 erreichte auch der weitaus geglückteste Glavinic-Film die Öffentlichkeit: David Schalko setzte die Entwicklungsgroteske „Wie man leben soll“ mit einer kaum aufzählbaren Starbesetzung um.

Sepp Schellhorn half

Die Eskapaden des Verfassers wurden dabei mit Begeisterung zur Kenntnis genommen. Als er 2011 während einer Testfahrt einen 250.000 Euro teuren Lamborghini zu Schrott fuhr, erreichten die Akklamationen den Höhepunkt. Andererseits hatten zwei Nominierungen für den Deutschen Buchpreis das literarische Ausnahmeformat beglaubigt: Da hatte sich einer an die europäische Spitze geschrieben. Aber das Werk der Selbstzerstörung hatte schon begonnen.

„Der Thomas ist ein Suchtmensch“, charakterisiert der ihm eng verbundene NEOS-Staatssekretär Sepp Schellhorn. Die Abhängigkeiten beträfen Drogen und Alkohol ebenso wie das Spiel mit Kryptowährungen. Dem Strauchelnden waren schon 2014 mit dem Sepp-Schellhorn-Stipendium zwei Monate Geborgenheit im exklusiven Goldegger Hotel Seefels geschenkt worden. David ­Schalko machte Schellhorn schließlich auf Glavinics zusehends ausweglose wirtschaftliche Situation aufmerksam.

2016 war die Ehe endlos gescheitert, der minderjährige Sohn Gegenstand verzweifelter Sehnsucht und der in Drogen- und Alkoholabgründen versunkene Erfolgsschriftsteller – auch infolge übertrefflicher finanzieller Beratung – bank­rott. Schellhorn wird heute wegen bedeutungsloser Außerberuflichkeiten drangsaliert. Aber als Empathiker und Kulturmensch ist er unter den amtierenden Politikern ein Ausnahmeformat.

Der Erfolgsautor als Nachtportier

2016 stand Glavinic laut eigener Aussage am Rand der Nichtsesshaftigkeit. Da beschäftigte ihn Schellhorn als „Nachtportier“, woraus sich abstruse Gerüchte entspannen: Der gestrauchelte Schriftsteller wasche in Goldegg die Teller ab, wenn er in der Portierloge nicht benötigt werde. In Wahrheit ist „Nachtportier“, recte: „Betreutes Wohnen“, das Kürzel einer Kolumne, die der abwesende Glavinic wöchentlich für die Website des Seehofs schrieb. Als Angestellter mit 1.000 Euro pro Monat plus Weihnachts- und Urlaubsgeld konnte er seine Verhältnisse notdürftig aufrechterhalten. „Wir hatten ein klares Regelwerk“, beschreibt Schellhorn den auch therapeutischen Mehrwert. „Er musste mir jede Woche pünktlich am Samstag bis zwölf seine Kolumnen liefern. Die gehören längst veröffentlicht, weil sie seine ganz tiefe Phase beschreiben, als er ganz am Boden war.“

Und tiefer konnte es in der Tat nicht gehen. Als die Welt unter dem Einfluss der Pandemie im Todesschlaf lag, beschrieb Glavinic unter dem Titel „Wenn bei lebendigem Leib die Seele verwest“ für die deutsche „Welt“ die Hölle auf Erden. Er war sicher, an der Aufmerksamkeitsstörung ADS zu leiden, und erzählte von 60 Stunden ohne Schlaf, 22.000 ungeöffneten Mails und rasender, zielloser Betriebsamkeit bis zum Zusammenbruch. Die Serie ist grandios, aufwühlend, verstörend, sofortiger Buchpublikation bedürftig. „Das war die harmlose Version für das Publikum“, fügt Glavinic via News bitter hinzu.

Lichtblicke

Als Schellhorn 2023 seinen Anteil am Hotel aufgab, endete auch das Arrangement mit dem „Nachtportier“. „Aber das Geld hat ihm noch geholfen, einen geordneten Privatkonkurs einzuleiten.“ Der allerdings laut Glavinic von den österreichischen Behörden mit zerstörerischer, würdeloser Strenge exekutiert werde. Die Frage nach seinem Aufenthaltsort beantwortet er niemandem, die telefonische Verbindung sei labil, lässt er wissen. Österreich habe er jedenfalls verlassen, meinen Freunde, eventuell halte er sich in der Heimat des Vaters, im ehemaligen Jugoslawien auf.

Aber über Facebook gibt er unvermutet persönliche Einblicke. Er sei wieder liiert, ließ er kürzlich wissen. Wie es ihm in emotionaler Hinsicht geht? „Sagen wir so: Ich existiere in einem Zustand permanenter neuronaler Überstimulation, ein unablässiges Senden ohne Empfangspause. Die Tatsache, dass meine Freundin für dieses Phänomen eine genuine Affinität hegt, bleibt das zentrale Mysterium unserer Verbindung. Ich lebe daher mit der ständigen Erwartung des Moments, in dem eine Freundin sie zur Seite winkt, auf mich zeigt und fragt: ,Im Ernst jetzt?‘“

Bei all der Kritik an der Person Glavinic, er ist ein großartiger Schriftsteller. Literatur, Kunst und Kultur gibt uns den Rest des sozialen Kitts, von Reflexion, Auseinandersetzung und Diskurs

Sepp Schellhorn
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Sepp Schellhorn

 © Bild: IMAGO/SEPA.Media

Und jetzt? „Privat habe ich ihm geholfen und werde weiter helfen, soferne es in meiner Macht steht. Ich versuche ihn auch zu ,ordnen‘“, sagt Schellhorn. „Als Politiker kann ich ihm in meiner Funktion nicht helfen. Ich versuche jedoch, ihn zu den nötigen Stellen zu bringen. Als Freund. Was würde der Boulevard sonst daraus machen? Freunderlwirtschaft. Mein ganzes privates, berufliches Leben versuchte ich, Menschen zu helfen, die Hilfe brauchen. Das mache ich in meiner Freizeit, aber man will es offensichtlich auch nicht. Dabei hat man immer nach Menschen gerufen, die aus der Privatwirtschaft in die Politik gehen.“ Und als relevante Conclusio: „Bei all der Kritik an der Person Glavinic, er ist ein großartiger Schriftsteller. Literatur, Kunst und Kultur gibt uns den Rest des sozialen Kitts, von Reflexion, Auseinandersetzung und Diskurs. Und Künstler wurden immer schon an den Rand gedrängt oder scheiterten an der Gesellschaft. Von Kafka über Trakl zu Bachmann.“

Glavinic, dem man einst stumpfsinnig FPÖ-Nähe unterstellte, weil er für den Standard mit Strache ein unaggressives Gespräch geführt hatte, blickt derweil ohne Illusion auf den Zustand der Welt, der von Krieg, Ungerechtigkeit und Antisemitismus von links bestimmt wird. „Ob ein Antisemit Springerstiefel trägt oder ein Palästinensertuch, ist mir ästhetisch betrachtet egal – ein Trottel ist er so oder so. Wir leben in einer Zeit, in der Sprache nicht mehr dazu da ist, Dinge zu beschreiben, sondern um Anstand zu simulieren. Als Konsequenz lassen wir uns jetzt von Leuten erklären, wie wir zu sprechen haben, die selbst kaum einen geraden Satz formulieren können. Ansonsten: Wer Schwierigkeiten hat, den Zustand der Welt zu verstehen, dem würde ich Ernst Jandls Gedicht ,lichtung‘ ans Herz legen.“

Dieses Schlusswort geben wir gern weiter:

manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht velwechsern
werch ein illtum.

© Sebastian Reich

Steckbrief

Thomas Glavinic

Geboren am 2. April 1972 als Sohn eines bosnischen Taxifahrers und einer österreichischen Mutter, bei der er in Graz aufwuchs. Er arbeitete als Werbetexter, Taxifahrer und Journalist und begann ein Germanistikstudium. 1998 veröffentlichte er den Schachroman „Carl Haffners Liebe zum Unentschieden“, mit dem Thriller „Der Kameramörder“ gelang ihm 2001 der Durchbruch: Zwei Kinder werden in der Steiermark grausam zu Tode gebracht, das Krawall-TV steigt ein. Weitere Hauptwerke: „Wie man leben soll“ über den Weg eines Übergewichtigen zur Akzeptanz (verfilmt von David Schalko u. a. mit Thomas Stipsits, Stefanie Reinsperger, Robert Palfrader, Josef Hader) und die mystisch-ironische Trilogie „Die Arbeit der Nacht“, „Das Leben der Wünsche“, „Das größere Wunder“. Er ist geschieden und hat einen Sohn.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 48/2025 erschienen.

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