Männer wissen oft nicht, wohin mit Gefühlen wie Einsamkeit, Trauer, Wut oder Angst – mitunter mit fatalen Folgen. Der jüngste Mord an einer Grazer Influencerin verdeutlicht erneut: Männliche Einsamkeit betrifft nicht nur Männer, sie gefährdet vor allem Frauen und Mädchen.
Tragik in Zahlen
Alle zehn Minuten wird ein Mädchen oder eine Frau vorsätzlich getötet, schätzen die Vereinten Nationen. Im vergangenen Jahr sind weltweit 83.000 Frauen gezielt ermordet worden, in rund 60 Prozent der Fälle war der Täter ein Familienmitglied oder der Lebenspartner. Laut WHO erlebt mehr als ein Drittel aller Frauen im Laufe ihres Lebens geschlechtsspezifische Gewalt – mit hoher Dunkelziffer.
Auch im deutschsprachigen Raum steigen die Fälle häuslicher Gewalt. Während der Aktion „16 Tage gegen Gewalt an Frauen“ erschütterten zwei besonders drastische Fälle Österreich: Eine Sechsjährige, die mit Mutter und Geschwisterchen vom Ex-Partner der Frau entführt wurde, alarmierte die Polizei per Handzeichen und konnte so Schlimmeres verhindern. Für die Grazerin Stefanie P. kam jede Hilfe zu spät: Sie starb durch die Hand ihres Ex-Partners.
Einsam, hilflos, isoliert
Patriarchale Gesellschaftsstrukturen und traditionelle Männerbilder erhöhen nachweislich das Risiko für Gewalt gegen Frauen. Afrika, Asien sowie Süd- und Nordamerika verzeichnen die höchsten Fallzahlen von Femiziden*: 2024 wurden in Afrika 22.600 Frauen durch ihre Partner getötet, in Asien 17.400, in Amerika 7.700. In Europa waren es 2.100.
Femizid
Als „Femizide“ werden jene Tötungen von Frauen und Mädchen verstanden, die auf strukturelle Ungleichheiten, patriarchale Machtverhältnisse oder diskriminierende Einstellungen gegenüber dem weiblichen Geschlecht zurückgehen. Allein im Jahr 2024 wurden 83.000 Frauen und Mädchen vorsätzlich getötet und 60 Prozent der Täter standen der Getöteten nahe. Sie waren entweder mit dem Opfer verwandt, oder deren (Ex-)Ehemänner bzw. (Ex-)Partner. (Quelle: Statistisches Bundesamt)
Über individuelle Tatmotive lässt sich oft nur mutmaßen. Auf sozialen Plattformen wird das Phänomen „männliche Einsamkeit“ seit Monaten breit diskutiert und teils von rechten Gruppen instrumentalisiert. Ihre simplifizierte Erklärung lautet: Frauen und der Feminismus seien dafür verantwortlich, dass Männer einsam sind – eine klassische Täter-Opfer-Umkehr.
Vielmehr haben zahllose Männer ein handfestes Problem mit ihren eigenen Emotionen. Problematisch wird es dann, wenn sich diese in physischen oder psychischen Gewalttaten manifestieren.

Hilfezeichen: Das stille Handzeichen zur Meldung akuter Gefahr oder häuslicher Gewalt besteht aus zwei Bewegungen: Die betroffene Person hebt zunächst die Hand mit geöffneter Innenfläche. Anschließend legt sie den Daumen in die Handfläche und schließt die übrigen Finger darüber.
© Bild: Getty ImagesAbwesende Väter
Thomas Mitterstöger, Psychotherapeut, Trainer und Berater bei der Männerberatung Wien, kennt die dunklen Abgründe vieler Männerseelen. Er verortet die zentralen Ursachen in der frühen Kindheit.
Männliche Bezugspersonen seien oft kaum präsent, was Identifikationsmöglichkeiten erschwere. Viele Buben entwickelten dadurch verzerrte Vorstellungen von Männlichkeit. Mitterstöger plädiert für eine Erweiterung des Begriffs: „,Caring masculinity‘ zeigt die Notwendigkeit, dass sich Männer – und im Speziellen Väter – um Vorsorgearbeit und die Frage, was wir unseren nachkommenden Generationen weitergeben wollen, kümmern müssen.“
Die Konsequenz
Stattdessen wählen viele den Rückzug, weil Durchsetzungsfähigkeit nach wie vor stärker belohnt werde als Empathie. „Das wird sich nicht ändern, solange diese Kompetenzen gesellschaftlich als weniger wichtig angesehen werden, als sich im Wettbewerb gegen andere durchzusetzen.“
Der Umgang mit Scham, Trauer, Angst oder Einsamkeit werde dadurch kaum erlernt. „Das Besondere an der ‚männlichen Einsamkeit‘ ist, dass Männer in ihrer Sozialisation oft keinen Umgang mit ‚negativen‘ Gefühlen lernen. Diese Gefühle haben in der männlichen Sozialisation meist keinen Platz und werden negiert.“
In der Folge hätten viele Buben den Eindruck, sie dürfen nur Ärger und Wut als Gefühl äußern, erklärt der Therapeut. „Mit Scham, Angst und Trauer bleiben sie alleine, kehren diese unter den Teppich und werden dann verhaltensauffällig, indem sie ihre Mitschüler und Mitschülerinnen – eigentlich aus Hunger nach Kontakt und Beziehung – mit ihrem gewalttätigem Verhalten beeinträchtigen.“
Chronische Einsamkeit kann verheerende Folgen für die Gesundheit haben
Verloren in der Einsamkeit
Einsamkeit bedeute für viele Männer nicht nur das Empfinden des Alleinseins, sondern die Überzeugung, tatsächlich isoliert zu sein, erklärt Mitterstöger. „Oftmals fehlt die Kompetenz, mit dem Gefühl der Einsamkeit zurande zu kommen.“
In der Folge richten die Männer Gewalt nach außen, aber auch gegen sich selbst: Suizide betreffen Männer überproportional. 2024 nahmen sich in Österreich 972 Männer das Leben, gegenüber 247 Frauen. „Chronische Einsamkeit kann verheerende Folgen für die Gesundheit haben“, sagt der Experte. „Zur Einsamkeit gesellt sich die Scham dazu, der Selbstwert sinkt immer weiter, soziale Kontakte werden eingeschränkt, womit sich die Spirale in den Abgrund zu drehen beginnt.“
Hilfe suchen – und annehmen
Anlaufstellen, die sich explizit an Männer in Gewaltspiralen richten, gibt es in Österreich (siehe Infokasten), jedoch: „das Unterstützungssystem funktioniert immer so gut, wie es in Anspruch genommen wird“, so Mitterstöger. „Männer tun sich schwerer, Hilfe zu organisieren. Umso dankbarer sind sie, wenn sie sich in einem sicheren Rahmen austauschen können.“ Männer, die den Weg in die Männerberatung gefunden haben, zeigen sich erleichtert: „Man merkt, dass ihnen ein Stein vom Herzen fällt, wenn sie reden können und ihnen jemand unvoreingenommen und zugewandt zuhört.“
Großen Nutzen sieht Mitterstöger in Gruppensettings der Männerberatung: Männer stärken einander darin, sich ihren Einsamkeitsgefühlen zu stellen. Besonders Männer nach einer Trennung seien häufig verzweifelt und einsam. Mit diesen Emotionen kämen auch jene Männer ins Anti-Gewalt-Training, die durch ihr physisches, verbales oder psychisches Gewaltverhalten die Trennung selbst ausgelöst hätten: „Dort lernen sie nicht nur, mit ihren aggressiven Impulsen umzugehen, sondern können ihre Scham in der Gruppe überwinden und über Themen sprechen, die sie im Hintergrund beschäftigen.“
Anlaufstellen
Bei diesen Beratungsstellen finden Sie Hilfe:
Männerberatung Wien
bietet psychologische, soziale und juristische Hilfe, Gewaltprävention, Psychotherapie und mehr: www.maenner.at, Telefon: 01 603 28 28
Männerinfo-Telefon
ist österreichweit rund um die Uhr und das ganze Jahr über kostenlos für Männer in Krisen sowie deren Angehörige erreichbar: 0800 400 777
Männergesundheitszentrum MEN
Unterstützung und Beratung bei vielfältigen Anliegen rund um körperliche und seelische Gesundheit: 01 601 91-5454
Doch die Wartelisten sind lang. „Nach längerer Zeit nimmt die Bereitschaft, sich mit seiner Thematik auseinanderzusetzen wieder ab.“ Kürzungen im Sozialbereich verschärften die Situation zusätzlich: „Leider wird trotz der Brisanz kein adäquates Budget zur Verfügung gestellt. Vereine wie die Männerberatung Wien leben vom Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.“ Dabei müssen auch Männer, die den Weg in die Männerberatung gefunden haben, vertröstet werden.
Die Auseinandersetzung mit Themen wie Emotionen und Beziehungen ist oft ein harter Weg. Dranbleiben lohnt sich aber, so Mitterstöger: „Jeder Klient, der aus seiner Einsamkeit herausfindet, sich nach einer intensiven Auseinandersetzung mit sich selbst wieder eine neue Paarbeziehung findet, sich in einem Verein zu engagieren beginnt und seine Einsamkeit hinter sich lassen kann, ist jedenfalls die Arbeit wert.“
Letztendlich müssen Männer lernen, Verantwortung für ihre Gefühle zu übernehmen und Unterstützung anzunehmen. Nur dann lässt sich jene Gewalt verhindern, die jedes Jahr Zehntausende Frauen das Leben kostet.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 50/2025 erschienen.



