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Die Macht der Projektion: Warum manche Gefühle stärker sind als die Realität

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5 min
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Monika Wogrolly

©Bild: Matt Observe

Marion ist sich sicher, über ihn hinweg zu sein. Ronald hatte sie viel zu sehr mit Liebe überschüttet. Und war dann auf einmal abgekühlt und distanziert. Erst da bricht ihr Panzer und kochen in ihr Gefühle hoch, als er verschwindet.

Nähe ohne Grundlage?

Das Mysterium der Liebe beruht mithin auf der Vertrautheit im Fremden. Wie kann ein an sich unbekannter Mensch Ihnen von jetzt auf gleich emotional so nah sein? So viel Macht über Sie ausüben? Und das womöglich in Abwesenheit?

Zwei Erkärungsansätze

Mögliche Erklärungen bei Marion: Sie projiziert unerfüllte Wünsche auf den Entschwundenen, so wie nach der Scheidung der Eltern auf ihren Vater. Ronald soll den Verlust des verlorenen Vaters wiedergutmachen.

Eine andere Erklärung ist die Idealisierung: Durch das anfängliche Lovebombing und den anschließenden Beziehungsabbruch wird Marions Verlustangst getriggert. Dadurch gerät sie in das Dilemma, ja gar nicht scharf auf diesen Mann zu sein, während ihr „inneres Kind“ ihn herbeisehnt. Der Haken daran: Ronald kann die Verletzung nicht heilen.

Die Logik eines paradoxen Begehrens

Was hilft gegen die Sogwirkung einer Beziehung, aus der wahrscheinlich nichts wird? Wenn nur pathologische Anteile eines Menschen danach lechzen, gerade in der Nähe zu diesem Menschen Glück und Segen zu finden? Genau gesagt hat mir Marion in ihrer Einzeltherapie beteuert, Ronald nicht sonderlich attraktiv zu finden. Er sei zu ruhelos, rede zu viel und habe zudem einen vorzeitigen Samenerguss gehabt.

Der Verlustschmerz

Über all das sieht sie anscheinend hinweg, weil der Verlustschmerz – den er wachgerufen hat, als er sich entfernte – um jeden Preis geheilt und zumindest abgemildert werden will. Doch was erwartet uns, wenn wir uns auf Kunstfiguren einlassen, die in unserem Kopf verheißungsvoll, aber in Wahrheit sogar eher aufreibend sind? Wir verheddern uns in einer Pseudobeziehung und finden statt Glück Verwirrung, was mithin immer noch besser erscheint, als sich der Realität zu stellen.

Raus aus dem Wiederholungszwang

Eben hier gilt es, in der Psychotherapie anzusetzen: Sie sind nicht mehr das verlassene Kind, das auf Rettung wartet und auf den ultimativen Trost. Sie sind eine erwachsene Person mit Ressourcen. Sie haben die Fähigkeit der Resilienz und können zwischen folgenden Möglichkeiten wählen, wenn Sie der toxische Sog des Wiederholungszwangs in alte Verhaltensmuster zieht:

  • Sie können widerstehen und die Vernunft über den Trieb siegen lassen. Und voraussehen, was neuerlich droht, nämlich nochmals durch die Trauma-Tretmühle zu rennen und wie Max und Moritz gefühlt zu Mehl zermahlen hervorzugehen: fragmentiert, innerlich aufgelöst und weit weg von Ihrer Bestform.

  • Oder Sie betrachten das Ganze als Teil Ihres Entwicklungsprozesses und als weitere Runde im Karussell des Leidens. Dann wird Ihnen zwar bei jeder Runde schwindelig, aber Sie können auch wieder aussteigen. Und nehmen, so wie beim richtigen Ringelspielfahren, die Benommenheit nach dem Liebesrausch in Kauf.

Positive Aussichten

Zum Schluss die gute Nachricht: Alles, was Sie erkennen, gibt Ihnen die Möglichkeit der Wahl. So wie Marion, die nach einer weiteren toxischen Beziehungsrunde die Kurve kriegt und, anders als Sie jetzt vielleicht denken, mit Ronald eine gute Nähe entwickeln kann: Sich empfindsam zeigen, ohne schusssicheres Panzerglas. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lieben sie sich noch heute.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 48/2025 erschienen.

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