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John Irving: „Amerika ist keine Demokratie mehr“

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John Irving

©Markian Lozowchuk / Redux / laif

Sein Roman „Garp und wie er die Welt sah“ wurde 1978 ein Welterfolg. Heute ist der amerikanische Schriftsteller John Irving 83 und eine der bedeutendsten literarischen Stimmen der Gegenwart. Ein Gespräch über seinen aktuellen Roman „Queen Esther“, seine Liebe zu Israel, Antisemitismus und den Autokraten Donald Trump.

Dass Interviews mit einem der Größten der Gegenwartsliteratur etwas Besonderes sind, muss nicht eigens angemerkt werden. Doch im Fall von John Irvings jüngstem Roman „Queen Esther“ bekommt das Gespräch noch eine andere Dimension. Denn die 550 Seiten sind ein passioniertes literarisches Plädoyer gegen Antisemitismus.

Seine Heldin, Esther Nacht, wird 1905 in Wien als Tochter jüdischer Eltern geboren. Hanna, ihre Mutter, „wusste, dass der Antisemitismus langsam und unterschwellig im Vormarsch begriffen war“, schreibt Irving im Roman. Die Familie emigriert nach Amerika. Der Vater stirbt auf der Überfahrt. Dann passiert in der neuen Heimat das Unfassbare: Zwei amerikanische Judenhasserinnen erschlagen die junge Mutter und bringen die dreijährige Esther in ein Waisenhaus. Am Ende wird Esther zu einer Art Volksheldin in Israel.

Schon im April 2023 kündigte Irving im Interview mit News den Roman an. Die ersten acht und das letzte Kapitel waren fertig: Irving beginnt jeden seiner Romane mit dem Finale. Für ihn stand von vornherein fest, dass das Israel des Jahres 1981 der Schauplatz für das letzte Kapitel sein werde: In diesem Jahr hatte er selbst zum ersten Mal das Land seiner Heldin bereist. Sechs Monate später rückte Israel durch den Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 in den Fokus. Logisch, dass man das Gespräch nun dort fortsetzt, wo das letzte geendet hat.

News erreicht Irving per Zoom in seinem Arbeitszimmer in Toronto. Aus den vereinbarten 50 Minuten werden eineinhalb Stunden über den immer stärker werdenden Antisemitismus, Boykottmaßnahmen gegen Israel, Trumps Bereitschaft, das Kriegsrecht auszurufen, und Katzen in Jerusalem.

Mr. Irving, Ihr Roman ist ein leidenschaftliches Plädoyer gegen Antisemitismus. Hätten Sie die Aktualität des Themas vor dem Hamas-Überfall vom 7. Oktober 2023 für möglich gehalten?

Aktualität interessiert mich nicht, denn ich glaube nicht, dass irgendjemand genug über die Gegenwart weiß, um in einem Roman davon zu erzählen. Mich interessieren historische Romane. Wenn man auf die Vergangenheit zurückblickt, sieht man die Dinge klarer. Und wie bei jedem meiner vergangenen Romane habe ich auch bei diesem mit dem letzten Kapitel begonnen. Ich wusste, dass es 1981 in Israel enden wird – das Jahr, in dem ich dort war.

Wie der Schriftsteller Jimmy Winslow im Roman …

Ich wollte, dass alles authentisch ist, was er erlebt. Auch meine Lieblingsverleger in Europa waren Juden und mein Übersetzer in Israel war ein Holocaust-Überlebender. Ich war so ahnungslos wie Jimmy, als ich damals dort war. Auch was er in Wien erlebt, ist authentisch.

Jimmy wird während seines Aufenthalts in Israel mehrmals mit dem Satz „From the river to the sea“ konfrontiert. Eine Muslima sagt sogar noch „Wir werden sie (die Juden, Anm.) vernichten.“ Haben Sie diesen Aufruf gehört, als sie 1981 in Israel waren?

Immer wieder. Als Schriftsteller habe ich immer mein Notizbuch dabei und ich schreibe auf, was die Leute sagen. Aber damals wusste ich nicht, dass ich das einmal in einem Roman verwenden würde. Ein Palästinenser, dem ich immer wieder begegnet war, sagte: „Wir werden sie eliminieren.“ Später, als ich begann, über einen neuen Roman nachzudenken, stützte ich mich natürlich sehr stark auf diese Notizen.

Warum sind Sie vor einem Jahr noch einmal nach Israel gereist?

Um die Fakten zu checken. Meine israelischen Freunde schrieben mir Anfang 2023, ich solle besser sofort kommen, weil sich die Lage zuspitze und ich dann vielleicht nicht mehr einreisen könne. Aber ich sagte: „Nein, das bringt mir noch nichts.“ Denn ich wollte, dass sie meinen Roman gelesen haben, wenn ich komme. 43 Jahre, nachdem ich dort gewesen war, kannte ich noch immer die Wege in Israel, die Jimmy im Roman zurücklegt, ich bin ziemlich gut, mir Wege einzuprägen. Aber bei manchen fehlte mir die visuelle Erinnerung, also musste ich sie mir noch einmal ansehen. Aber ich fühlte mich schuldig, als ich im Juli 2024 dort war, denn da war es bereits Kriegsgebiet. Der Krieg mit Gaza hielt an. Die Probleme mit dem Libanon, mit der Hisbollah, mit den Siedlungen im Westjordanland wurden immer schlimmer.

Weshalb fühlten Sie sich denn schuldig?

Weil es keine Touristen in der Altstadt von Jerusalem gab, sie war menschenleer. Meine Arbeit war plötzlich sehr einfach. Hier in Toronto stellte ich mir vor, wie lange man für gewisse Wege braucht. Denn normalerweise kann man kaum durch das muslimische Viertel gehen, weil die Via Dolorosa direkt hindurchführt, und christliche Touristen bleiben an jeder Station des Kreuzwegs stehen. Es war fast unmöglich, in die Grabeskirche Christi zu kommen, weil alles voller Touristen war.

Nicht aber im Juli 2024. Ich konnte mir alles aus nächster Nähe ansehen. Das war sehr beunruhigend. Es mag wie Ironie klingen, aber ich musste nichts an meinem Roman ändern. Das Einzige, was ich hinzugefügt habe, war eine Katze. Als ich zum ersten Mal dort war, wichen die Katzen den Menschenmassen aus. Aber diesen Juli suchten sie in der kühlen Kirche Schutz vor der Hitze der Wüste.

Ich liebe Israel und ich bewundere die Israelis, wie sie das alles bewältigen. Deshalb wollte ich einen pro-jüdischen Roman schreiben

John Irving

Hatten Sie denn keine Angst vor Bombenangriffen? Mussten Sie niemals einen Bunker aufsuchen?

Gelegentlich hörte ich Sirenen. Ich habe eine Weile gebraucht, um den Unterschied zwischen einer Luftschutzsirene und den Polizeisirenen, die wegen der Demonstrationen ertönten, zu erkennen. Wissen Sie, alle meine israelischen Freunde waren fast jeden Abend bei Anti-Netanjahu-Demonstrationen. Zugleich protestierten auch die orthodoxen Juden, weil ihre Befreiung von der Wehrpflicht aufgehoben wurde, und gegen diese protestierten die nicht praktizierenden Juden. Sie fanden, es sei an der Zeit, dass auch sie ihren Wehrdienst leisten. Ich wollte eigentlich nur wissen, in welche Proteste ich gerate, wenn ich mir etwas zu essen hole.

Das klingt ziemlich nervenaufreibend.

Allerdings. Aber ich liebe Israel und ich bewundere die Israelis, wie sie das alles bewältigen. Deshalb wollte ich einen pro-jüdischen Roman schreiben. Es war mir klar, dass mein Erzähler, also Jimmy, ein Außenseiter wie ich sein sollte. So kam es zu Esther, seiner Mutter – dieses jüdische Waisenkind, das schon mit vier Jahren erlebt hat, was Antisemitismus ist, sollte die Empathie meiner Leser wecken.

Sie schildern ausführlich den Antisemitismus in den USA in den vergangenen Jahrzehnten. Was haben Sie in Ihrer Jugend als Nicht-Jude davon mitbekommen?

Ich wuchs in New Hampshire auf, einer Kleinstadt in Neuengland, einem politisch relativ liberalen Teil der USA. Es gab dort keine Schwarzen, aber die Menschen standen rassistischer Gewalt immer kritisch gegenüber. Wir waren sehr stolz darauf, dass wir auf der Seite der Schwarzen standen, die um Anerkennung und Gleichbehandlung kämpften. Aber da in dieser Kleinstadt nur so wenige Juden lebten, war der Antisemitismus relativ stark. Ich lernte Schwarze und jüdische Kinder erst kennen, als ich auf eine internationale Schule kam. Dort trat ich auch in ein Ringer-Team ein, dem ich 20 Jahre lang angehörte. Ich schloss dort meine ersten Freundschaften mit Schwarzen und Juden. Sie erzählten mir, wie es war, als schwarzes Kind in St. Louis und als jüdisches Kind in Chicago aufzuwachsen.

Was sagen Sie heute zu den Boykottmaßnahmen gegen jüdische Künstler und Sportler?

Als ich im Sommer 2024 in Israel war, schickte man mir eine Petition. Ich sollte mich einer Gruppe von Schriftstellerkollegen anschließen, die gegen Israel protestierten. Einige von ihnen kenne ich persönlich, mit ihnen möchte ich keinen Kontakt mehr.

Haben Sie Überlebende getroffen, als Sie in den Sechzigerjahren in Wien studiert haben? Und wie war das 1981, als Sie zum ersten Mal in Israel waren?

Ich traf mehrere Holocaust-Überlebende. Einige kamen aus Österreich oder Deutschland. Und wie so viele Holocaust-Überlebende waren sie die einzigen aus ihren Familien, die überlebt hatten. Das waren sehr aktive ältere Menschen, die etwas Konstruktives für Israel leisteten. Viele von ihnen sprachen etwas Jiddisch, aber sie waren einsam, weil die jüngeren Israelis nur Hebräisch sprachen. Deutsch lehnten die ab und Jiddisch war die Sprache der Diaspora. So hat man mich gefragt, ob ich mit diesen Leuten nicht ein paar Stunden verbringen könne, um mit ihnen Deutsch zu sprechen. Ich fand mein Deutsch völlig unzureichend, aber ich lernte einen wunderbaren Mann kennen, einen Botaniker. Er erzählte mir dann, wie er Spargel in der Wüste anbaute.

Unglaublich …

Und er verwendete diesen Spargel als Futter für seine Fische – er hatte auch einen Teich in der Wüste angelegt. Ich werde nicht vergessen, wie er zu mir sagte, mein Deutsch sei nicht schlecht. Günter Grass dagegen befand Jahre später, ich klinge wie ein 15-Jähriger, der in der Schule beim Deutschunterricht nicht aufgepasst hätte.

Trump ist ein Autokrat, ein Fanatiker. In dem Land, in dem ich geboren bin, herrscht jetzt quasi ein totalitäres Regime

John Irving

In einem Interview mit dem Radiosender CBS sagten Sie, sie würden wegen Trump nicht in die Staaten auf Lesereise fahren. Weshalb?

Bereits im Jänner, als Trump erst kurz im Amt war, informierte ich meinen amerikanischen Verleger darüber. Das war nach Trumps Rede, in der er die Transgender-Community angriff. Ich setzte mich mein Leben lang für diese Menschen ein. Aber ich wusste, das ist erst der Anfang bei ihm. Er fängt mit der kleinsten sexuellen Minderheit an. Er ist ein Autokrat, ein Fanatiker. In dem Land, in dem ich geboren bin, herrscht jetzt quasi ein totalitäres Regime. Die Republikaner im US-Kongress sind Feiglinge, sie sind Gesetzgeber, die ihre Arbeit nicht machen. Denn sie wissen, wie oft er seine Exekutivbefugnisse überschritten hat, und niemand hält ihn auf. Das ist keine Demokratie mehr.

Ich bin mehr als traurig, dass ich mit meinem neuen Roman nicht in mein geliebtes Geburtsland reisen kann. Aber ich empfange US-amerikanische Journalisten, ich gebe mehr Zoom-Interviews als zuvor. Wenn alles wie gewohnt verläuft, das heißt, wenn das Pendel einmal nach links, einmal nach rechts ausschwingt, könnten die Demokraten die nächsten Wahlen gewinnen. Schon bei den Midterms könnten sich die Stimmenverhältnisse im US-Kongress leicht ändern, sodass die Republikaner, die Trump unterstützen, nicht mehr die Mehrheit haben. Aber ich glaube, dass Trump einen Vorwand schaffen wird, um die Midterms abzusagen. Er könnte das Kriegsrecht ausrufen.

Die Entsendung von Truppen in demokratische Städte ist seine Art, auszuprobieren, wie weit er gehen kann. Bisher ist alles, was er getan hat, durchgegangen. Er hat bereits so viele Programme gestrichen und so viele Regierungsangestellte entlassen, dass es selbst dann, wenn die Demokraten so schnell wie möglich wieder die Kontrolle übernehmen, Jahre dauern würde, die von ihm abgeschafften Behörden wieder aufzubauen.

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 © Diogenes

Was ist mit dem Frieden, den er in Israel ausverhandelt hat?

Ich glaube nicht, dass er halten wird. Nach der PLO kam die Hamas. Warum sollten wir nicht glauben, dass nach deren Ende eine andere Terroristengruppe kommt?

Schreiben Sie schon den nächsten Roman?

Ja, und ich verrate ihnen den derzeitigen Titel, denn Sie wissen, Titel ändern sich meistens: „The Twins“.

© Markian Lozowchuk / Redux / laif

Steckbrief

John Irving

John Irving wurde am 2. März 1942 in Exeter, New Hampshire, als Sohn einer Krankenschwester geboren. Irving unterrichtete an einem College in Vermont, bis ihm 1978 sein Roman „Garp und wie er die Welt sah“ einen Welterfolg verschaffte. Für die Verfilmung seines Romans „The Cider House Rules“ („Gottes Werk und Teufels Beitrag“) verfasste er das Drehbuch und bekam dafür den Oscar. Irving ist Vater von drei erwachsenen Kindern, lebt mit seiner Frau, einer Kanadierin, in Toronto

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 47/2025 erschienen.

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