Die koreanische Komponistin Unsuk Chin zeigt, wie eine zeitgenössische Oper ein breites Publikum begeistern kann. Ab 14. November 2025 kann man sich davon im Theater an Wien bei „Alice in Wonderland“ überzeugen. Ein Gespräch über ihren harten Weg, schockierende Lehrer und die Wirkung von K-Pop.
von
Mysteriöse Gongschläge, elektrisierend-sphärische Streicherklänge, irrlichternde Klangfarben. All das lässt die Musik von Unsuk Chin erleben. Die Kompositionen der 64-jährigen Koreanerin widerlegen Vorurteile, Neue Musik sei atonal und bestehe lediglich aus Geräuschen. Bedeutende Orchester wie die Berliner Philharmoniker führen ihre Werke auf. Namhafte Dirigenten wie Kent Nagano, Sir Simon Rattle und ihr Landsmann Myung-Whun Chung schätzen sie.
Begehbare Wege der Neuen Musik
Ihre Kompositionen verschafften der gebürtigen Koreanerin 2024 den mit 250.000 Euro dotierten Ernst-von-Siemens-Preis, den Nobelpreis der Musik. Wesentlichen Anteil daran hatte ihre Vertonung von Lewis Carrolls Roman „Alice in Wonderland“. Damit habe sie der Neuen Musik begehbare Wege aufgezeigt und ein breites Publikum begeistert, lobte die Jury.
„Für mich gibt es keinen Bruch zwischen Tradition und Neuer Musik. Ich bin nicht nur in der europäischen klassischen Musik zu Hause, sondern auch in diversen musikalischen Traditionen aus verschiedenen Kulturen. Für mich gibt es in der Musik keine Grenzen“, skizziert sie im Gespräch mit News ihr Schaffen. Der Anlass dafür verspricht viel: Das Theater an der Wien und das Festival Wien modern zeigen Unsuk Chins Oper „Alice in Wonderland“ ab 14. November in einer Neuproduktion.
Persönliche Parallelen zu Alice
Ein bisschen lasse sich ihre eigene Geschichte mit der von Alice vergleichen, die einem weißen Kaninchen in ein wundersames Land nachstürzt. So blickt Unsuk Chin im Gespräch mit News auf ihre Anfänge zurück. „Aber das war mir damals nicht bewusst.“ Klar: Das weiße Kaninchen, dem sie folgte, war ihr Drang, Musik zu erschaffen.
Dabei waren die Voraussetzungen für Ihre künstlerische Karriere alles andere als vorteilhaft. 1961 wird sie in der Nähe von Seoul in Südkorea, damals einem der ärmsten Länder der Welt, als zweites von vier Kindern eines presbyterianischen Geistlichen und einer Lehrerin geboren. Die Aufmerksamkeit der Eltern gilt der Erstgeborenen und den beiden Söhnen. „In Korea sind Jungs viel wichtiger für die Familie als Mädchen, und eine zweite Tochter braucht dort niemand“, schildert sie die familiären Verhältnisse ihrer Kindheit.
Hart bleiben
Für ihren Vater steht von vornherein fest: Die zweite Tochter soll die Schule abschließen und möglichst schnell Geld verdienen. Was die Kleine wirklich will, interessiert niemanden. Das prägt. „So habe ich früh gelernt, hart zu bleiben und alles selbst für mich auf die Beine zu stellen“, kommentiert sie trocken ihre Ausgangslage.
Den Weg zur Musik ertastet sie sich selbst. Musikunterricht? Unerschwinglich für die Familie. Radio und Fernsehen gibt es im Haushalt nicht. Doch im Haus gibt es ein Klavier. Der Klang, der sich aus diesem Instrument erhebt, wenn die Eltern spielen, fasziniert die Dreijährige. Sie spürt, dass sie für dieses Instrument geboren ist. Noch bevor sie in die Schule kommt, lehrt sie der Vater das Notenlesen. Das Klavierspielen muss sie selbstständig lernen. „Der Vater war sehr streng. Ich musste alles vom Blatt spielen“, blickt sie zurück. Mit sieben Jahren beherrscht sie auch die Orgel in der Kirche des Vaters und begleitet seine Gottesdienste.
Musik wie vom Himmel
Doch bald erkennt sie, dass ihr Wunsch, Pianistin zu werden, unerfüllbar ist. Denn für eine solistische Karriere reicht das Selbststudium nicht aus. Doch die Musik lässt sie nicht mehr los. Noch heute erinnert sie sich, wie sie an der Mittelschule der Mission eine Kantate von Bach hört. „Das war wie Musik vom Himmel“, sagt sie. Diese Musik weist ihr den Weg. Sie weiß, was sie wirklich will, ihre eigene Musik erschaffen.
Der Wunsch treibt den Teenager an. Sie beginnt ein Studium in Seoul, verschlingt Partituren von Avantgardisten wie Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und anderen, die während der 1980er-Jahre in Europa den Ton der Neuen Musik angeben. Sie schafft nach deren Vorbild ihre ersten Arbeiten, wird in Toronto aufgeführt und 1985 in den Niederlanden mit dem Gaudeamus Award ausgezeichnet. Doch Unsuk Chin will ihr Studium fortsetzen. Ein Lehrer, der selbst in Deutschland studiert hat, verschaffte ihr ein Stipendium.
Unterricht mit Schockwirkung
Das führt sie nach Hamburg zu György Ligeti. Der Unterricht beginnt mit einem Schock. Denn Ligeti unterscheidet sich dezidiert von den Neutönern. Jung und naiv legt sie ihm ihre Arbeiten vor. Der Meister aber vernichtete sie. „Er hat mich sehr heftig kritisiert. Ich solle diese westeuropäische Avantgarde nicht einfach übernehmen, sondern meinen eigenen Weg gehen“, blickt sie auf die schmerzhafte Zeit zurück. Tief in ihrem Inneren aber habe sie ihm recht gegeben. „Ich spürte, dass das nicht die Musik ist, die ich machen möchte.“ Trotzdem blieb sie drei Jahre in Ligetis Lehre, setzte aber während dieser Zeit das Komponieren aus. 1988 zog sie nach Berlin und tat, was sie bereits als Kind in Korea gelernt hat: „Mich selbst auf die Beine zu stellen.“
Ob sie es heute in Europa leichter hätte, wo immer mehr Künstler aus Korea in den Fokus rücken? „Als ich nach Europa kam, konnten die Leute hier oft gar nicht unterscheiden, wer aus welchem Land in Asien stammt“, sagt sie. Als Koreanerin Karriere zu machen, sei damals schwierig gewesen. Das aber habe sich in den vergangenen Jahren geändert. In den USA verantwortete sie bereits ein Festival mit koreanischen Künstlern. Doch Unsuk Chin ist Realistin. Die Popularität im Westen habe ihre Heimat vor allem dem K-Pop zu verdanken. Amüsiert stellt sie fest: „Die jungen Leute fahren so darauf ab, dass sie sogar Koreanisch sprechen und kochen lernen wollen.“
Gegen Ende kommt das Gespräch noch einmal auf den Anlass. Stellt sie sich auch zuweilen, so wie ihre Figur Alice, die Frage „Wer bin ich?“ Das sei die zentrale Frage. Denn Komponieren bedeute immer, seine eigene Position zu definieren, erklärt sie und fügt nachdrücklich hinzu: „Ich gehe meinen eigenen Weg und schaffe meine eigene Musik. Die Reise geht weiter.“ Wohin der Weg führe, werde sich weisen. Man folgt ihr gern.

Steckbrief
Unsuk Chin
Unsuk Chin wurde am 14. Juni 1961 in Seoul, Südkorea, als Tochter eines presbyterianischen Geistlichen und einer Lehrerin geboren. Sie studierte Komposition in Seoul. In den 1980er-Jahren kam sie nach Deutschland und setzte ihr Musikstudium bei György Ligeti in Hamburg fort. Ihr Liederzyklus „Akrostychon“ mit Texten von Michael Ende und Lewis Carroll verschaffte ihr Anfang der 1990er internationale Beachtung. Unsuk Chin wurde mit zahlreichen Preisen geehrt. Zuletzt mit dem Ernst-von-Siemens-Preis 2024. Sie ist Mutter eines Sohnes und lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 46/25 erschienen.







