Den Irrwitzigkeiten überforderter Politik und bedrohlich steigender Aggressivität in Kunstbelangen entkomme ich auch heute nicht ganz. Aber dem singulären Tenor Giacomo Aragall zum Musiktheaterpreis zu gratulieren: Dafür wird immer Zeit und Platz sein.
Vor einer Woche schon wollte ich mit dieser Kolumne dorthin gelangen, wo der Beweis der Erheblichkeit bereits erbracht ist. Da drohte die Wiener Kulturstadträtin mit Sparmaßnahmen bedenklicher Zielrichtung. Und wieder saß ich bei den mikrobischen Unmaßgeblichkeiten fest, von denen leider immer Gedeih und Verderb der Stunde abhängen.
Deshalb bitte ich Sie – bevor ich zum singulären Tenor Giacomo Aragall gelange – auch in dieser Woche noch um ein paar Zeilen Aufmerksamkeit für ein Thema unter Niveau: Sollte die EBU nach charakterlos anonymer Abstimmung Israel tatsächlich vom Song Contest ausschließen, dürfte hierzulande niemand zögern, die vergiftete Penetranzveranstaltung abzusagen. Die dann frei werdende Summe – etwa der doppelten Jahressubvention des Volkstheaters entsprechend – könnte in Gestalt von Projektstipendien ein ganzes bedrohtes Biotop der Kreativität vor dem Austrocknen retten.
Sollte das Malheur aber (ausnahmslos mit israelischer Beteiligung!) Realität werden, so werden die Zuständigen ihrer Verantwortung gegebenenfalls mit Gummiwurst und Wasserwerfer nachkommen müssen. Gleich, ob Letztgenannter aus river oder sea befüllt wurde. Politiker aller Parteien erklären sich unmissverständlich zur Sache. Nur der Kunstvizekanzler laviert in Gewässern, die seine Navigationskunst überfordern.
Es ist nicht weniger als eine Schande, wie sich linke Debattierer aus dem Grundkonsens der Zweiten Republik stehlen. Hier kein Wenn und Aber gelten zu lassen, schiene mir dringlicher, als einen Dirigenten, der einen unanständigen Witz erzählt hat, aus der Karriere zu terrorisieren. Oder einem Regisseur unter Sanktionsdrohung die maximale Lautstärke bei der Berufsausübung vorzuschreiben.
Aber jetzt: Giacomo Aragall
So, jetzt aber wirklich. Am vorwöchigen Mittwoch haben wir im Roncalli-Zelt auf dem Heumarkt die Österreichischen Musiktheaterpreise für die Saison 2024/25 vergeben. Unter „wir“ bitte ich Sie eine Jury hiesiger und auswärtiger Opernkritiker zu verstehen. Wobei ich, der unangenehm rasch vom Zeitgenossen zum Zeitzeugen reifende Ko-Vorsitzende, von der Kategorie „Lebenswerk“ wie verzaubert bin.
Sie ist Menschen vorbehalten, die das Ihre Richtung Ewigkeitswert schon geleistet haben. Diesmal wollten wir in meiner vor 56 Jahren eingerichteten Opernsehnsuchtswelt eine Lücke schließen, den katalanischen Tenor Giacomo Aragall betreffend.
Vor zwei Jahren nämlich haben wir den Preis der Sopranistin Ileana Cotrubas ausgehändigt, von der ich in den Siebziger- und Achtzigerjahren fast alles gelernt habe, was ich über selbstentäußernde Innigkeit und Wahrhaftigkeit auf der Bühne weiß.
Ihre „Traviata“-Aufnahme unter Carlos Kleiber gilt als einsamer Maßstab. Ich aber schaue diesbezüglich gern ins Staatsopernarchiv, und da fand ich, am 18. 2. 1974 mit größtmöglicher Unauffälligkeit ins Repertoire eingehegt, die „Bohème“ meines Lebens wieder.
Gestatten Sie mir ein schnelles Insider-Schaudern durch Aufzählung der Besetzung? Eberhard Waechter und Karl Ridderbusch sangen da, beide Inhaber geräumiger Parzellen in der Unsterblichkeit, dazu Heinz Holecek und Sona Ghazarian.
Seine Ansprüche an sich selbst hielten ihn von zirzensischen Verirrungen ins Stadion ab
Im Idealformat
Sowie das stücktragende Paar: Ileana Cotrubas und Giacomo Aragall. Und den meine ich diesmal. Schönheit und Noblesse des Timbres, Wahrhaftigkeit des Ausdrucks, Poesie der Erscheinung: Viele Opernfreunde mit erweitertem Erinnerungshorizont sind sich sicher, im italienischen und französischen Fach nie einem größeren Tenor begegnet zu sein.
Ob der bekennende Katalane mit Vornamen korrekterweise Jaime oder gar Jaume zu benennen ist, tut dabei nichts zur Sache. Auch nicht, dass er sich mit seinen enormen Ansprüchen an sich selbst von den zirzensischen Verirrungen des Berufs ins Fußballstadion ferngehalten hat: Wer ihn während der Siebziger- und Achtzigerjahre erleben durfte, kann sich seiner Maßstäbe weitgehend sicher sein.
Kenner werden mit Giuseppe di Stefano, Pavarotti oder Karajans Gianni Raimondi dagegenhalten. Aber ich bleibe dabei, nie näher am Herzen einer italienischen Oper gewesen sein als damals: als ich mit angehaltenem Atem zwei Menschen, die füreinander bestimmt sind, auf dem Weg durch Armut und Sprachlosigkeit in den betörendsten Tod der Operngeschichte gehen sah.
Das Café auf dem Stephansplatz
Klar, dass wir jetzt für das Erscheinen des großen Aragall im wesensfremden Zirkuszelt alles bereitet hatten. Sogar einen ihm zugedachten Wein, den ein betuchter Schweizer Bewunderer für ihn kreieren hatte lassen. Und vor allem ein kongeniales Gegenüber für den diesmal geteilten Lebenswerkpreis, den um zehn Jahre jüngeren Bass Ferruccio Furlanetto. Auch der bezog seine Wahrheitswerte stets aus Schönheit und Eleganz des Singens, nicht aus dem Effekt.
Aber Maestro Aragall ist 86 und dicht von gesundheitlichen Niederträchtigkeiten umzingelt, das eigene Befinden und das der Ehefrau betreffend. So musste er uns spät absagen, so lieb ihm Wien ist. Wo auf der Welt ist nach einem lebenden Sänger ein Café benannt? In Wien schon, und gleich auf dem Stephansplatz.
PS.: Der Preis und eine Kiste Aragall-Wein steuern Barcelona schon an.
Steckbrief
Jaume Aragall i Garriga
Jaume Aragall i Garriga, geboren am 6. Juni 1939 in Barcelona und vor allem bekannt als Giacomo Aragall, wuchs nach dem Gesangsstudium in Florenz, Mailand, Verona, London und New York zu einem der größten Tenöre im italienisch-französischen Fach. Mit Wien verbinden ihn mehr als 150 Vorstellungen und die Ehrenmitgliedschaft der Staatsoper.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 40/2025 erschienen.