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„Gastronomie kann ein Land auf einem Teller verdichten"

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Von den Anfängen voller Zweifel an die Weltspitze: Heinz Reitbauer hat das Steirereck zum Aushängeschild der österreichischen Gastronomie gemacht. Doch drei MichelinSterne und eine Platzierung in der Liste der „World's 50 Best Restaurants" sind ihm weniger wichtig als Stammgäste, Teamgeist und die ständige Erneuerung - in einer Branche, die zwischen Leidenschaft und Kostenkalkül balanciert

Sie belegen Platz 33 in der Liste der „World’s 50 Best Restaurants“. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie davon erfahren haben?

Man erfährt Anfang des Jahres, ob man eingeladen ist. Damit weiß man, dass man dabei ist, und allein das war ein großes Glücksgefühl. Wir sind seit 17 Jahren in Folge in der Liste – wir hätten uns nie erträumt, dass das möglich ist. Ob das nun Platz 50 oder Platz 33 ist, ist nebensächlich. Wichtig ist, dass man gesehen wird. Gleichzeitig gibt es in Österreich bestimmt zehn weitere Betriebe, die in die Liste passen würden. Wir haben den Vorteil unserer Lage in Wien und unserer Öffnungszeiten. Uns zu besuchen ist einfach. Das ist für die Sichtbarkeit entscheidend, denn das internationale Panel aus 1.000 Journalisten, Influencern, Köchen und Gastronomen wechselt ständig.

Platz eins ging nach Lima. War das eine Überraschung für Sie?

Südamerika hat in den vergangenen Jahren wahnsinnig viel getan, um kulinarisch relevant zu werden. Die peruanische Botschaft hat mich schon vor 15 Jahren kontaktiert und Unterstützung angeboten, um die Produkte und die Küche des Landes international sichtbar zu machen. Ich habe dankend abgelehnt, weil unser Fokus mit der österreichischen Küche woanders liegt, aber die Initiative hat mich beeindruckt. Wir sind in Österreich auf einem guten Weg, Kulinarik touristisch in den Vordergrund zu rücken. Das ist schön zu sehen. Über die Initiative des Koch.Campus*, in dem sich viele Betriebe zusammengeschlossen haben, fordern wir seit über zehn Jahren mehr Unterstützung von der Politik in diesem Bereich. Man sieht, dass sich etwas bewegt. Aber Südamerika war früher dran und hat konsequent Maßnahmen gesetzt, deshalb ist die Region kulinarisch so präsent.

Merkt man eine solche Auszeichnung unmittelbar in der Buchungslage?

Die Top-50-Liste sorgt für Aufmerksamkeit, aber auch für Verbindungen. Über die Jahre sind enge Freundschaften mit Kollegen und Kolleginnen aus aller Welt entstanden. Ein lieber Freund vom

Quintonil in Mexico City – er ist Platz drei in der Liste – kommt uns demnächst besuchen. Bei ihm habe ich auch schon gekocht. Das ist ein wunderbarer Austausch, und der ist genauso wertvoll wie das Ranking selbst. Was die Buchungslage betrifft, sind wir anders aufgestellt, weil wir bis zu 80 Prozent Gäste aus dem deutschsprachigen Raum und Stammgäste haben.

Woher kommt der Fokus auf die Stammgäste?

Uns ist wichtig, dass sich Gäste wie Einheimische fühlen und nicht in einem rein touristischen Lokal sitzen. Deshalb halten wir die Menge an internationalen Gästen bewusst in Balance, etwa ein Drittel. In Paris möchte ich auch nicht in einem Touristenlokal sitzen, sondern unter Parisern. Das gelingt uns über die langjährigen Mitarbeiter im Service und deren persönliche Betreuung. Viele sind seit 15, 20 Jahren im Haus. Sie wissen, wo ein Gast gerne sitzt, welches Wasser er oder sie bevorzugt, ob die Kinder gerade den ersten Schultag hinter sich haben – wenn der Gast so eine Nähe möchte. Zum anderen bieten wir seit über 20 Jahren à la carte statt fixer, mehrgängiger Menüs. Wir wollen wiederkehrende Gäste, und das gelingt nur, wenn du ein großes Spektrum anbietest: An einem Tag kommt jemand auf ein Schnitzerl, das nächste Mal möchte er ein SiebenGänge-Menü. Das geht bei uns. Stammgäste fordern uns, holen uns aus der Komfortzone und verhindern ein Erstarren in der Routine. Das ist wichtig.

© Bild: NEWS/Matt Observe

Steckbrief

Heinz Reitbauer

kam 1970 in Wien zur Welt, als seine Eltern das Steirereck in der Rasumofskygasse eröffneten. Nach Lehr­jahren bei den Brüdern Obauer, Alain Chapel und Anton Mosimann war er ab 1996 im elterlichen Betrieb, führte das Steirereck am Pogusch und ab 2005 mit seiner Frau Birgit Reitbauer das Steirereck im Wiener Stadtpark. Seine traditionsverbundene, technisch anspruchsvolle Küche bringt zum 17. Mal in Folge einen Platz unter den „World’s 50 Best“. Seit 2025 hat das Steirereck drei Michelin-­Sterne. Birgit und Heinz Reitbauer sind Eltern von drei Kindern.

Wie wichtig sind laufend neue Kreationen? Von über 120 neuen Gerichten im Jahr war mal zu lesen, stimmt das?

So viele sind es nicht, wir haben seit über 20 Jahren jedes neue Gericht fortlaufend nummeriert und sind inzwischen bei mehr als 1.600. Die Idee der Nummerierung ist nach dem Generationenwechsel und dem Abschied unseres damaligen Küchenchefs Helmut Österreicher entstanden. Dass er uns nach dem Umzug des Restaurants in den Stadtpark verlassen hat, war ein harter Schlag. Gleichzeitig hat uns die herausfordernde Situation dazu gebracht, uns neu zu definieren. Damals haben wir auf österreichische Produkte und Küche umgeschwenkt und uns entschieden, dem Gast nicht mehr jedes Gericht lange zu erklären, sondern Kärtchen mit den Infos auf den Tisch zu stellen. Ich habe damals eine Reportage gelesen: Zwei Freunde feiern nach 20 Jahren in einem tollen Restaurant ihr Wiedersehen – und kommen wegen der vielen Erklärungen vom Servicepersonal über das Essen gar nicht zum Reden. Auf den Kärtchen kann der Gast in Ruhe alles nachlesen, während er das Gericht genießt. Dort findet sich zu jedem Gericht dessen Nummer. Wir sind bei 1.600 angekommen, ein Schrägstrich mit der Zahl Eins, Zwei, Drei zeigt, wenn wir das Gericht weiterentwickelt haben.

Sie haben seit diesem Jahr drei Michelin-Sterne. Was macht das mit einem, wenn man ganz oben angekommen ist? Gibt es Druck? Wird man irgendwann gelassener?

Wir haben im Jänner 2005 im Stadtpark eröffnet, im April hat uns Helmut Österreicher verlassen – eine schwierige Zeit mit Schulden und schlechten Kritiken. Wir haben in den ersten zwei Jahren keinen Zeitungsartikel bekommen, den man freiwillig noch einmal liest. Der Tenor war: Früher, unter den Eltern, war es großartig, aber die Jungen schaffen das nicht mehr. Im Mai 2007 kam der erste positive Artikel. Diese Zeit hat mich sehr demütig gemacht. Ich weiß heute: Entwicklung ist wichtig, um voranzukommen, aber man muss damit rechnen, mit der Veränderung den einen oder anderen Gast zu verlieren. Wir haben 2013 noch einmal von vorne begonnen: Das Restaurant architektonisch neu definiert und die Küche stärker auf unsere Linie ausgerichtet. Das war ein entscheidender Schritt zur Gastronomie als Gesamtkonzept mit Architektur, ­Stilistik und Küche.

Das heißt, Veränderung ist ein wesentlicher Teil Ihres Wegs?

Ja, Veränderung gehört für uns dazu – wir leben das seit fast 40 Jahren. Mit der Zeit bekommt man deshalb eine vernünftige Distanz zu Bewertungen. Wir sind teilweise viel besser gesehen worden, als wir waren – und auch schlechter. Das ordnet man irgendwann ganz nüchtern ein. Entscheidend ist etwas anderes: die Menschen, mit denen man Schulter an Schulter arbeitet. Ohne Energie, Leidenschaft und Vertrauen funktioniert es nicht.

Seit Herbst 2023 ist Michael Bauböck Co-Küchenchef, Sie haben gemeinsam den dritten Michelin-Stern entgegengenommen. Welchen Stellenwert hat der Austausch zwischen Ihnen?

Michi ist seit 14 Jahren bei uns, er ist als Jungkoch gekommen und im Team gewachsen. Kreativer Austausch findet täglich statt – nicht nur mit ihm, sondern mit dem ganzen Team. Der Souschef, jeder Postenchef, jeder Platzchef ist aufgefordert, Ideen einzubringen. Das ist wichtig, weil es dem Einzelnen ein anderes Selbstbewusstsein und Zugehörigkeitsgefühl gibt, wenn er etwas beigetragen hat. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht ein, zwei Gerichte verkoste. Die Entwicklung ist ein langer Prozess, weil jedes Gericht zu unserer Stilistik passen muss. Wir haben eine riesige Rezeptdatenbank mit 8.000 digitalisierten Rezepten, ein Bausteinsystem, auf das man jederzeit zugreifen kann. Genauso brauchen wir die Nähe zu unseren Produzenten und zu deren Produkten. Nächste Woche bekommen wir 1.000 Kilo Zwetschken von Hans Reisetbauer, die wir sofort verarbeiten: entkernen, fermentieren, einfrieren – alles am Tag der Ernte. Das wird eine Herausforderung, aber so haben wir auch Monate später Zugriff auf genau die Qualität, die wir brauchen, statt im Oktober irgendeine beliebige Ware zukaufen zu müssen.

Gibt es keine Erneuerung, passiert nur noch Routine – und die ist der Anfang vom Ende

Spitzenprodukte sind gleichzeitig teure Produkte. Erst recht in Zeiten wie diesen. Wie gehen Sie damit um?

Natürlich muss man den Einkauf genau beobachten. Bei banalen Dingen wie Tafelöl, Küchenrolle oder Tomatenmark achten wir auf den Preis. Bei allen anderen Produkten zählt ausschließlich die Qualität. Salz kaufen wir zum Beispiel nur als Natursalz. Direkt vom Produzenten zu beziehen, ist oft nicht teurer, und dafür haben wir ein Produkt, das einzigartig ist – und das zählt.

Gibt es bei den Gästen eine Schmerzgrenze, was die Preise betrifft?

Wir versuchen, sehr diszipliniert zu agieren, was das betrifft, weil du mit jeder Preissteigerung den einen oder anderen regionalen Gast verlierst. Bevor wir Preise erhöhen, überlegen wir dreimal.

Haben Sie die Preise mit den drei Michelin-Sternen erhöht?

Nein, ganz bewusst nicht. Wir leiden ohnehin darunter, dass Gastronomie in der Bevölkerung als Preistreiber gesehen wird und das in jeder politischen

Kommunikation so kommuniziert wird. Da wäre eine Preiserhöhung doppelt gefährlich. Wir bemühen uns, Mehrkosten durch gesteigerte Effizienz abzufedern.

Wie lässt sich das Narrativ der Preistreiberei auflösen?

Dazu muss man die Situation klar darlegen: Die Mitarbeiterkosten in der qualitätsgeführten Gastronomie liegen bei 40 bis 50 Prozent. Sie sind der Hauptfaktor. Der Wareneinsatz macht etwa 30 Prozent aus, das ist überschaubar. Der große Posten sind die Menschen. Gleichzeitig zählen Kellner und vielleicht auch Köche im Vergleich mit anderen Branchen zu jenen im unteren Verdienstbereich. Das widerspricht dem Bild der Preistreiberei. Auflösen kann man das nur durch die Bewusstseinsbildung, dass Handwerk Zeit kostet und damit auch Geld. Will der Gast im Wirtshaus Reis statt Petersilienkartoffeln, muss jemand Reis kochen. Das sind Minuten an Arbeitszeit für wenige Euro am Bon. In einem Spitzenrestaurant gilt das noch stärker: Allergien, Sonderwünsche, jede Sauce wird angepasst. All das ist Handwerk bis spät in die Nacht, wenn das Lokal gereinigt und abgeschlossen wird.

Müssten Sie als Unternehmer nicht auter aufschreien und sagen: „Die Lohnkosten bringen uns um“?

Das weiß man ohnehin – die Stückkosten sind in Europa und Österreich enorm hoch, besonders in einer personalintensiven Branche wie der Gastronomie. Eine Lösung ist nicht in Sicht.

Wo geht die Reise dann hin?

Zu strengeren, standardisierten Konzepten. Alles, was sich duplizieren lässt, wächst. Das sieht man international. Individuelle Wirtshäuser oder kleine Restaurants haben jahrzehntelang nur überlebt, weil Familien und Freunde mitgeholfen haben. Das hört auf, die nächste Generation ist weniger bereit, dieses Opfer zu bringen. Dadurch verschwinden Strukturen, und wir werden Angebote vermissen. Ich sage das seit 20 Jahren jedem Bürgermeister und bei jeder Tourismuskonferenz: Wenn ein junges Team ein Gasthaus übernimmt, schenkt ihnen die Miete – seid froh, dass sie es machen! Unsere österreichische Kultur lebt von diesem Handwerk. Wenn wir das nicht unterstützen, wird die Gastronomie weniger, genauso wie die kleinen landwirtschaftlichen Produzenten. Wir alle können unseren Beitrag leisten mit dem, was wir einkaufen, konsumieren, bestellen. Moralisch bekennen sich viele dazu, praktisch zeigt der Warenkorb ein anderes Bild.

Welches Gericht kochen Sie, wenn Sie niemandem etwas beweisen ­müssen, nur für sich selbst?

Wir sind im Sommerurlaub immer in einer Selbstversorgerhütte auf einer Hochalm. Dort gibt es einen Holzherd. Die Umgebung ist traumhaft. Ich bekoche meine Familie zum Frühstück, Mittagund Abendessen. Das mache ich wahnsinnig gern. Im Steirereck ist kochen Teamarbeit. Wir sind fast 40 Leute in der Küche und arbeiten gemeinsam an einem Ziel: Österreichs Landwirtschaft und Produkte ins schönste, geschmackvollste Licht rücken. Gastronomie kann ein Land auf einem Teller verdichten. Wenn das gelingt, ist das für mich das Größte. Das spüre ich dann auch als Emotion, ich suche emotionales Essen. „Sich-Beweisen“ ist für mich keine relevante Größe. Köche sind hoch­emotionale Menschen.

Wie kritikfähig müssen Sie als Chef sein?

Sehr. Wenn ich ein neues Gericht ­mache, hole ich immer zwei Leute und lasse es beurteilen. Dieses Feedback brauche ich. Auch von meiner Frau, die bei gewissen Dingen knallhart ist. Das ist nicht immer angenehm, aber wichtig für die Reflexion. Bei Mitarbeitern halte ich das Feedback anfangs sehr behutsam. Wenn jemand nach einem Jahr den Mut fasst und mir ein Gericht zeigt, dann darf ich nicht harsch reagieren. Schritt für Schritt entwickeln sie sich und nach einigen Jahren liefern sie Gerichte ab, bei denen wir nur noch Kleinigkeiten schleifen. Das macht uns stolz und wir brauchen diesen Input von jungen Menschen.

Wie bleibt man innovativ?

Für mich ist der Prozess der permanenten Erneuerung enorm wichtig. Wir waren früher sehr oft auswärts essen. Damals habe ich am Klo Notizen zu den Gerichten gemacht, weil es noch keine Handys gab. Heute muss mich meine Frau überreden, ein Lokal, das ich schon kenne, wieder zu besuchen, weil ich denke: „Das kenne ich ja schon!“ Das ist unfair. Diese Sorge treibt mich, was uns betrifft, natürlich auch um. Deshalb ist Erneuerung so wichtig und ich gehe gerne einmal zwei Schritte zurück, um sie zuzulassen. Gibt es keine Erneuerung, passiert nur noch Routine, und die ist der Anfang vom Ende.

Wenn ein junges Team ein Gasthaus übernimmt, schenkt ihnen die Miete – seid froh, dass sie es machen!

Apropos Handy: Ist es okay, im Steirereck Gerichte zu fotografieren – oder ein No-Go?

Überhaupt kein Problem. Nur Kameras mit Blitz sind störend für andere Gäste. Wir posten selbst auf Social Media oder der Website nur ältere Gerichte, keine aktuellen von der Karte. Ich finde, es nimmt den Zauber, wenn man online schon alle Gerichte vorher sieht. Damit tut man dem Gast nichts Gutes. Ich finde: Man sollte sich im Restaurant auch überraschen lassen.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 38/2025 erschienen.

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