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Edgar Reitz: „Der größte Schmerz ist die Vergänglichkeit“

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Edgar Reitz

©IMAGO / opale.photo

Mit dem Filmzyklus „Heimat" bildete Edgar Reitz 100 Jahre deutscher Geschichte ab. Mit 93 Jahren schuf er einen verstörenden Film über den deutschen Philosophen Leibniz. Für einen Kurzauftritt holte er Lars Eidinger, im Zentrum steht die ehemalige Burgschauspielerin Aenne Schwarz. Ein Gespräch mit dem Regisseur und seinen Darstellern über „Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes“.

Oft kommt das nicht vor, dass der viel gefragte Schauspieler Lars Eidinger eine Nebenrolle annimmt, ohne das Drehbuch und die restliche Besetzung zu kennen. Dennoch zögerte er keinen Moment mit der Zusage, als ihn der 93-jährige Edgar Reitz für seinen Film über den deutschen Philosophen, Mathematiker und Vordenker der Aufklärung Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1746) haben wollte.

Eidinger über Edgar Reitz

In „Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes“ schildert Reitz die Bemühungen des Philosophen, sich für die preußische Königin Sophie Charlotte porträtieren zu lassen. Eidinger verkörpert den französischen Maler Pierre-Albert Delalandre (1787-1823), der am Auftrag scheitert. Der Auftritt dauert nur wenige Minuten, denn im Zentrum steht die ehemalige Burgschauspielerin Aenne Schwarz. Sie beeindruckt als fiktive holländische Malerin Altje Van De Meer, die den vom 77-jährigen Edgar Selge verkörperten Philosophen für ihre Arbeit einnimmt.

Eidinger bewirbt den Film dennoch aus Überzeugung. So reiste er im Oktober zur Viennale an und trat bei dieser Gelegenheit im Gartenbaukino auf. Zuvor nahm er sich Zeit für ein Gespräch mit News. Die Möglichkeit, mit Reitz zu arbeiten, ihm überhaupt zu begegnen, habe für ihn den Ausschlag, gegeben, die kleine Rolle anzunehmen. „Ich finde Leibniz für mich nicht so bedeutend. Aber trotzdem reizt mich die Auseinandersetzung. Mir gefällt, dass er mir durch Edgar Reitz vorgestellt wird und ich durch diese Auseinandersetzung mit Leibniz wiederum etwas über Edgar Reitz erfahre.“

Denn Reitz verkörpert nicht weniger als ein Stück Kinogeschichte der Nachkriegszeit. Legendär ist sein 60 Stunden breiter Filmzyklus „Heimat“. Darin schildert er 100 Jahre deutscher Historie am Beispiel einer Arbeiterfamilie.

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Lars Eidinger als Pierre-Albert Delalandre

 © Edgar Reitz Filmproduktion

Beeindruckend sei die Begegnung gewesen, blickt Eidinger auf die Arbeit zurück. Schon die Antrittsrede sei außer aller Norm gewesen, als der Regisseur seinen Schauspielern am ersten Drehtag erklärte, er handle wider die Natur: Es sei widernatürlich, mit 93 Jahren einen Film zu machen. „Aber“, so Eidinger, „er hat es gemacht. Reitz ist für mich im positiven Sinne ein Repräsentant der alten Schule.“

Gedreht wurde in einem Münchner Studio. „Das war interessant“, sagt Eidinger. „Wenn man mit Reitz arbeitet, vergisst man tatsächlich Raum und Zeit.“ Reitz beobachtete das Geschehen vom Nebenraum aus, über Lautsprecher gab er den Schauspielern seine Anweisungen. Aber Eidinger ließ er gewähren, als er sich in eine Künstlergestalt der Renaissance mit Kappe und Lockenpracht verwandelte.

Edgar Reitz ist tatsächlich ein Freigeist, der sehr radikal und anarchistisch in seinem Denken und in seinem Schaffen ist

Lars Eidinger

Den Hintergrund für das Porträt hat er Selbstsicher präsentiert Delalandre dem Philosophen seine Vorstellungen. schon in verschiedenen Versionen und Farben vorgefertigt. Dann gibt er Anweisungen, die Pose betreffend, und agiert dabei rasant, forsch, fahrig wie ein Regisseur. „Das war improvisiert. Das steht nicht im Drehbuch“, sagt Eidinger und fügt mit einem zarten Anflug von Stolz hinzu: „Edgar Reitz hat das gefallen.“

Meister der Beschreibung

Dann kommt er auf Leibniz’ späten Philosophenkollegen Ludwig Wittgenstein, der sagte „Alle Erklärung muss fort und nur Beschreibung an ihre Stelle treten.“ Das treffe auf die Arbeit von Reitz zu. „Er ist jemand, der wirklich beschreibt, analytisch denkt und trotzdem ein offener, herzlicher Mensch ist. Für mich ist er tatsächlich ein Freigeist, der sehr radikal und anarchistisch in seinem Denken und in seinem Schaffen ist. Es war beeindruckend, jemandem zu begegnen, der sich von jeglicher Erwartungshaltung freimachen kann. Der offen demgegenüber ist, was passiert, und außergewöhnlich gut beschreiben kann, ohne zu bewerten, was uns als Fähigkeit abhandengekommen ist.“

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Aenne Schwarz als Malerin Altje

 © Edgar Reitz Filmproduktion

Stimmt der Eindruck, dass Reitz sich in den Figuren selbst abbildet, dass das Porträtmalen zu einer Art Symbol für seine Arbeit wird? Eidinger und auch Aenne Schwarz bestätigen das. „Ich glaube, er identifiziert sich auf eine Weise mit Altje, meiner Figur“, führt die Protagonistin aus.

„Altje hat definitiv die Posi­tion des Filmemachers. Das Erste, was sie sucht, bevor sie mit der Arbeit an ihrem Porträt beginnt, ist das Licht. Das ist auch für Reitz so wichtig.“ Spiegelt sich in ihren Szenen auch die Arbeit mit dem Regisseur wider? „Er verglich mich mit einem Seismografen.“ Was für ein Kompliment für einen Schauspieler, der alles feinsinnig in sich aufnimmt.

Leibniz als Retter des Abiturs

Dann die Begegnung mit dem Meister selbst. Wie er denn seine Schauspieler auswähle? Edgar Selge entdeckte er bei einer Rilke-Lesung, das war genug. 15.000 Mails, jetzt in einem Buch nachzulesen, tauschten Regisseur und Schauspieler aus, um die Darstellung zu besprechen.

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Edgar Selge als Leibniz

 © Edgar Reitz Filmproduktion

Aenne Schwarz habe ihn in Maria Schraders Film „Vor der Morgenröte“ als Frau überzeugt, die mit Stefan Zweig in den Tod ging. Und Eidinger? „Er ist ein Star. Ich dachte mir, für diese kurze ­Rolle eines Star-Malers ist er der Richtige.“

Und wie kam er auf Leibniz? Dessen Kenntnis hat ihm schon eine bessere Abi­turnote verschafft, und abgesehen davon: „Es ist immer die Frage, wann ist etwas reif. Das kann man als Künstler nicht wirklich bestimmen. Man trägt sich über Jahre mit einem Thema und eines Tages kommt die Idee und alles ist ganz einfach. Also eine gute Idee erkennt man daran, dass alles ganz einfach wird. Kompliziert ist die Welt von allein und das Glück macht sie uns einfach.“

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 © Schueren Verlag

Film schafft Erinnerung

Das Gespräch kommt auf die Arbeit eines Filmemachers. Bildet er die in seinem Film ab? Das sei ein Spiegel im Spiegel, sagt Reitz. „Das größte Rätsel für die moderne Physik ist das Phänomen der Zeit. Der Film ist das einzige künstlerische Mittel, mit dem man Zeit darstellen, beschreiben und aufbewahren kann. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich Menschen erinnert haben, bevor es Film gab. In unserer Erinnerung spielt die Entdeckung der Kinematografie eine Rolle. Denn wir haben bewegte Bilder in unseren Köpfen, was es vorher nicht gab. Die Klassiker, ob Goethe oder Shakespeare oder wer auch immer, hatten andere Erinnerungsarten gehabt als wir. Darum geht es auch dem Maler Delalandre. Er will will durch die Kunst ein bleibendes Denkmal schaffen – für sich selbst im Grunde. Das ist ja auch nicht illegitim. Der größte Schmerz, den wir als Menschen kennen“, fährt er fort, „ist unsere Vergänglichkeit. Das ist das, wogegen wir kein Mittel haben.“

Die Filmfigur Leibniz hingegen trage ein weiteres Stück Nachleben in sich. „Ich sehe, dass ein Stück seiner Lebenszeit im Porträt geblieben ist. Der Moment der Aufnahme ist vorbei, liegt in der Vergangenheit, aber sein Atmen, sein Denken, sein Sein, sein Dasein ist jetzt im Bild. Sein Dasein, in der Philosophie nennt man das Ontologie, wandert aus der Figur, aus dem Schauspieler oder aus der Figur, wandert herüber in das Bild, also in das Filmbild. In Wirklichkeit ist die Zeit weg. Wohin geht denn die Zeit, wenn sie vergeht? Das wissen wir nicht. In der Kunst, im Film hat sie einen Ort, wo sie bleiben kann.“

Das Schaffen eines Meisters ist ein guter Ort dafür.

© IMAGO / opale.photo

Steckbrief

Edgar Reitz

Edgar Reitz wurde 1932 in Morbach, Rheinland-Pfalz, als Sohn eines Uhrmachers geboren. Mit seinem 60 Stunden langen Filmzyklus „Heimat“ schrieb er deutsche Filmgeschichte. Reitz ist verheiratet und lebt in München.

Kunst & Kultur

Über die Autoren

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