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Alessandra Ferri: Auf Spitzentanz folgt Spitzenposition

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Alessandra Ferri

©Andreas Jakwerth

Seit 1. September leitet Alessandra Ferri das Wiener Staatsballett samt zugehöriger Ballettakademie. Für die Compagnie von Staats- und Volksoper hat die Ballerina assoluta eine klare Vision: Exzellenz. Die Italienerin, die sich gegen 39 Bewerberinnen und Bewerber durchsetzte, freut sich aufs „Türenöffnen“ und rät jungen Menschen, nicht nur den Erfolg zu jagen.

Sie steht für eiserne Disziplin, für tänzerische Leidenschaft und nun auch das Wiener Staatsballett: Alessandra Ferri wurde von der New York Times als „eine der größten dramatischen Tänzerinnen aller Zeiten“ gefeiert, als „größte Ballerina der Jetztzeit“. Superlative, wohin man blickt. Und zurecht. Stand sie vor Kurzem, unermüdlich mit 61 Jahren, noch auf der Bühne, folgte sie nun mit 1. September als Direktorin einer der renommiertesten klassischen Compagnien auf Martin Schläpfer.

Ein neues Kapitel

Gegenüber 39 Bewerbern hat sich die gebürtige Mailänderin durchgesetzt, mit ihrem künstlerischen Konzept sowohl Staatsopern-Direktor Bogdan Roščić als auch Volksopern-Direktorin Lotte de Beer überzeugt. Als dritte Frau besetzt sie nun den Posten – bemerkenswert mit Blick auf die gut 300-jährige Geschichte der Compagnie. Ebenso bemerkenswert war jenes Kapitel, das sie somit abgeschlossen hat: Mit 44 hatte sie ihre Tanzkarriere zunächst beendet, mit 51 ein umjubeltes Comeback gefeiert. In einem Alter, in dem die meisten Tänzerinnen im Ruhestand sind, eroberte sie über ein weiteres Jahrzehnt Publikum und Fachkritik.

„Jetzt bin ich an einem Punkt angelangt, an dem ich gelassen einem neuen Kapitel entgegenblicke“, sagt sie. Den neuen Abschnitt ihrer Karriere wolle sie dem Wissenstransfer widmen. Weitergegebene Erinnerungen an die Zusammenarbeit mit choreografischen Größen wie Kenneth MacMillan, Roland Petit, Jerome Robbins, Twyla Tharp, William Forsythe und John Neumeier seien essenziell für den Fortbestand der Kunstform. „Ich fühle eine Verantwortung und freue mich aufs Türenöffnen.“

Rückblick auf eine Spitzenkarriere

Weiterzugeben hat sie umfangreiche Erfahrungen. 1963 in Mailand geboren, trainierte sie am italienischen Teatro alla Scala und an der Royal Ballet School in London. Als „Prix de Lausanne“-Gewinnerin trat sie mit 17 Jahren dem Royal Ballet bei und wurde mit 19 zum Principal Dancer ernannt. Chefchoreograf MacMillan betraute sie mit seinen bedeutendsten Balletten und kreierte mehrere Werke für sie – darunter „Valley of Shadows“, wofür sie mit 21 Jahren ihren ersten von zwei Lawrence Olivier Awards erhielt. In Amerika wurde sie von 1985 bis 2007 als Erste Solotänzerin beim American Ballet Theatre geschätzt. Am Ballett der Mailänder Scala verlieh man ihr den Titel der Prima Ballerina Assoluta.

„Ich werde am meisten mit der Rolle der Julia aus ‚Romeo and Juliet‘ identifiziert, habe sie weltweit in den verschiedensten Compagnien getanzt“, erinnert sie sich. Noch als 53-Jährige begeisterte sie an der Metropolitan Opera mit dem Comeback als Julia. Zuletzt war sie als Produzentin internationaler Touring-Produktionen und Lehrerin tätig. Und doch – mit dem Wiener Ensemble ist sie in Form einer Zusammenarbeit erstaunlicherweise noch nie in Berührung gekommen.

Die Beziehung zu Österreich

Wien sei ihr dennoch nicht fremd. Als Mailänderin habe sie mit Blick auf die Geschichte eine Beziehung zu Österreich. Über MacMillans Stück „Mayerling“, das vom unglücklichen Kronprinzen Rudolf handelt, hatte sie sich ebenfalls mit dem Land auseinandergesetzt. Nicht zuletzt war Elena Tschernischova – 1991 bis 1993 Leiterin des Wiener Staatsopernballetts – ihre Trainerin gewesen.

Dass sie noch nie mit dem Wiener Ensemble gearbeitet hat, betrachtet sie als „erfrischenden“ Vorteil. Sie sei dadurch offen und unvoreingenommen. „Keine Erinnerungen, keine persönliche Geschichte: Es gibt kein ‚ich‘ in der Compagnie. Es geht nur um die Tänzer.“

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ABT dancer Alessandra Ferri in "Giselle" in June 1987

Giselle: Tschernischova hat einst den Part der Giselle mit Ferri einstudiert. Die erste Saison als Direktorin wird sie mit Tschernischovas Wiener Fassung des romantischen Klassikers „Giselle“ eröffnen. Das Foto zeigt Alessandra Ferri 1987 beim American Ballet Theatre als Giselle.

 © Jack Mitchell/Getty Images

Dagegen war der scheidende Ballettchef Martin Schläpfer wegen Personalentscheidungen kritisiert worden. Die hätten es ihm ermöglicht, Platz für Tänzer aus seiner vorherigen Compagnie zu schaffen. Zur Kritik an ihrem Vorgänger will sich Alessandra Ferri nicht äußern. Für die Übergabe des Ensembles hätte sie sich, wie sie betont, keinen großzügigeren Menschen wünschen können.

„Ich bin keine Choreografin“

Im direkten Vergleich scheint sie in einigen Belangen das Gegenteil ihres Vorgängers. Martin Schläpfer war von der Fachwelt für die „Omnipräsenz“ seiner Stücke kritisiert worden – ein Vorwurf, den Schläpfer unter anderem im Kontext der Pandemie für die falsche Analyse hält. Alessandra Ferri wird jedenfalls nicht choreografieren, dazu habe sie in ihren Augen weder Talent noch Berufung. „Ich bin keine Choreografin. Es bedeutet nicht unbedingt, dass man ein Choreograf ist, nur weil man drei Schritte zusammensetzen kann. Jeder kann malen, aber nicht jeder ist ein Maler. Ein Choreograf hat etwas, das den Tanz vorantreibt.“

Während ihrer Karriere war sie Muse für bedeutende Choreografen. „Ich bin neben den Meistern gestanden. Daher erkenne ich, wenn jemand kein Choreografiemeister ist, mich eingeschlossen.“ Dafür wolle sie in der Szene Wiens nach jungen, förderwürdigen Talenten Ausschau halten.

Meine Mission ist es, das klassische Ballett lebendig und relevant zu halten und junge Tanzende zu inspirieren

Alessandra Ferri

Fokus: Wiener Compagnie

Wie sie die Synchronität der Tänzer zurückerlangen will, die manch Fachkritiker unter Schläpfer verloren sah? „Durch Arbeit“, lautet ihre vermeintlich simple Antwort. Dass diese Arbeit alles andere als simpel ist, weiß jeder, der sich schon einmal im Tanz versucht hat – zum Beispiel in den unter Schläpfer eingeführten Open Classes für Hobbytänzer bis Profis. Die wolle sie vorerst nicht weiterführen. Sie seien ein soziales Engagement, auf das sie sich aktuell nicht fokussieren möchte. „Meine Mission ist es, das klassische Ballett lebendig und relevant zu halten und junge Tanzende zu inspirieren.“

Genaues Vorhaben unausgesprochen

Der detaillierte Plan hinter ihrer Mission: ein gehütetes Geheimnis. Ihre Vision lasse sich in der Umsetzung über tägliche Arbeit verfolgen. Was bereits bekannt ist: Alessandra Ferri, die ebenfalls als künstlerische Leiterin der Ballettakademie fungieren wird, konnte für den ehemaligen Direktorsposten der Akademie den französischen Balletttänzer Patrick Armand, der viele Jahre die San Francisco Ballet School geleitet hat, gewinnen. „Alle beneiden uns. Armand ist ein fantastischer Lehrer, ein großartiger Organisator. Was Schulen ausmacht, sind Menschen.“

Ebenfalls bekannt sind die Premieren der neuen Saison: Am Ring erwarten das Tanzpublikum „Kallirhoe“ nach Alexei Ratmansky und „Visionary Dances“ mit Werken von Justin Peck, Wayne McGregor und Twyla Tharp. In der Volksoper gibt es „Marie Antoinette“ von Thierry Malandain und „American Signatures“ zu sehen. „Eine phänomenale Tänzerin, die weiß, was sie will“, beschreibt Schläpfer seine Nachfolgerin im Gespräch mit News. Während er sich in ein Schweizer Bergdorf zurückzieht, wird Ferri in Wien wohl einiges umkrempeln. Mit Ehrgeiz und Disziplin, denn wie sie selbst sagt: „Ich suche nach Exzellenz!“

Das Erfolgsgeheimnis

Welchen Rat sie jungen Menschen mit großen Träumen mitgeben will? Die eigenen Ziele verfolgen, als errichte man ein Haus: „Hab- eine Vision, aber baue Tag für Tag.“ Ob Tanz oder ein anderer Beruf, man dürfe sich nicht auf den Erfolg oder das Endprodukt fokussieren. „Wer nur auf das Ziel schaut, verpasst manchmal Gelegenheiten. Finde die Liebe für die tägliche Arbeit!“ Eine Philosophie, die sie schon bald nach Wien tragen wird. Welche Häuser hier entstehen, wird sich zeigen. Tag für Tag.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 36/2025 erschienen.

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