Jahrzehntelang galt Glutamat als Gift der Industrieküche, verantwortlich für Kopfweh und Übelkeit. Doch die Wissenschaft zeichnet ein anderes Bild. Wie aus einem Leserbrief ein globaler Mythos wurde – und warum Spitzenköche das weiße Pulver heute feiern.
Ein Leserbrief kann die Welt verändern. Zumindest die kulinarische. Im Jahr 1968 schrieb der Arzt Robert Ho Man Kwok an das renommierte New England Journal of Medicine. Er berichtete von einem seltsamen Taubheitsgefühl im Nacken und Herzklopfen, das ihn stets nach dem Besuch chinesischer Restaurants überkam. Er mutmaßte, es könne am Kochwein, am Salz oder eben am Mononatriumglutamat liegen.
Die Redaktion gab dem Brief den Titel „Chinese Restaurant Syndrome“. Es war die Geburtsstunde einer der hartnäckigsten Ernährungsmythen der Moderne.
Über 50 Jahre später steht das weiße Kristallpulver, auf Zutatenlisten oft nüchtern als E621 deklariert, an einem Wendepunkt. Während Verbraucher noch immer instinktiv nach „Ohne Geschmacksverstärker“-Labeln greifen, erlebt Glutamat in der Spitzengastronomie und Wissenschaft eine stille Rehabilitation. Was ist dran an der Angst vor der Würze?
Die Chemie hinter dem Geschmack
Um die Debatte zu verstehen, muss man die Substanz entmystifizieren. Glutamat ist das Salz der Glutaminsäure, einer Aminosäure, die natürlicherweise in unserem Körper vorkommt und als wichtiger Neurotransmitter fungiert.
Entdeckt wurde die geschmacksverstärkende Wirkung bereits 1908 vom japanischen Chemiker Kikunae Ikeda. Er isolierte die Substanz aus Kombu-Algen und identifizierte eine neue Geschmacksrichtung, die sich nicht in süß, sauer, salzig oder bitter einordnen ließ: Umami – japanisch für „wohlschmeckend“ oder „herzhaft“.
Das Paradoxon der Glutamat-Angst zeigt sich am deutlichsten im Vergleich der Lebensmittel. Wer asiatisches Essen wegen E621 meidet, dürfte konsequenterweise auch keine Tomaten, keinen Parmesan und keine Pilze essen. Ein Teller Spaghetti Bolognese mit Parmesankäse enthält oft weit mehr natürliches freies Glutamat als das durchschnittliche Gericht beim Asiaten um die Ecke. Chemisch gesehen macht der Körper keinen Unterschied zwischen dem Glutamat aus der Tomate und dem aus der Streudose.


© IMAGO / Panthermedia
Die Faktenlage: Ein Phantom-Syndrom?
Seit Ho Man Kwoks Leserbrief wurde das „Chinarestaurant-Syndrom“ in unzähligen Studien untersucht. Das Ergebnis ist für Kritiker ernüchternd: In doppelblinden, placebokontrollierten Studien konnte die Existenz des Syndroms bei der breiten Bevölkerung nie schlüssig nachgewiesen werden.
Probanden, die glaubten, auf MSG zu reagieren, zeigten die gleichen Symptome, wenn sie ein Placebo aßen – und oft keine Symptome, wenn sie unwissentlich Glutamat konsumierten.
Gesundheitsbehörden weltweit, darunter die US-amerikanische FDA und die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), stufen Glutamat als sicher ein. Zwar hat die EFSA 2017 einen ADI-Wert (Acceptable Daily Intake) von 30 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht festgelegt, doch diese Menge wird über die normale Ernährung kaum erreicht.
Natürlich gibt es – wie bei fast allen Lebensmitteln – eine kleine Gruppe von Menschen, die tatsächlich sensibel auf große Mengen reagieren könnten. Doch die massenhafte Verbreitung von Kopfschmerzen und Übelkeit, die dem Stoff zugeschrieben wird, gilt in der Wissenschaft heute weitgehend als Nocebo-Effekt: Die Erwartung, dass das Essen krank macht, löst die Symptome aus.
Vom Gift zum Gourmet-Tool: Der gesellschaftliche Wandel
Warum hält sich der Mythos so hartnäckig? Soziologen und Ernährungshistoriker sehen im „Chinarestaurant-Syndrom“ nicht nur eine gesundheitliche, sondern eine kulturelle Komponente.
In den 70er und 80er Jahren mischte sich die Sorge vor künstlichen Zusatzstoffen („Chemie im Essen“) mit einer latenten Xenophobie gegenüber der asiatischen Einwanderungsküche in den USA und Europa. Während die französische Küche für ihre schweren Saucen (reich an natürlichem Glutamat durch Reduktion) gefeiert wurde, galt die günstige chinesische Küche als ungesund und verdächtig. Das „weiße Pulver“ wurde zum Symbol für billige, industriell gepanschte Nahrung.
Doch das Blatt wendet sich. Eine neue Generation von Köchen und Food-Aktivisten hat begonnen, Glutamat zu rehabilitieren.
Der Umami-Hype: Mit dem globalen Siegeszug der japanischen Küche und Begriffen wie „Fermentation“ ist Umami zum Qualitätsmerkmal geworden.
Transparenz statt Angst: Starköche wie David Chang (Momofuku) oder Heston Blumenthal sprechen offen über den Einsatz von MSG, um vegetarischen Gerichten mehr Tiefe zu verleihen. Sie betrachten es nicht als Pfusch, sondern als Werkzeug – ähnlich wie Salz oder Zucker.
Das „Clean Label“ Paradoxon
Die Lebensmittelindustrie hat auf die Angst der Verbraucher längst reagiert – oft jedoch mit kosmetischen Tricks. Da der Begriff „Geschmacksverstärker“ verbrannt ist, nutzen Hersteller heute Hefeextrakt, Sojaprotein oder Würze. Diese Zutaten enthalten von Natur aus Glutamat, müssen aber nicht als E-Nummer deklariert werden.
Der Konsument kauft also ein Produkt „ohne geschmacksverstärkende Zusatzstoffe“ und isst dennoch Glutamat. Das ist nicht schädlich, zeigt aber: Die Angst vor dem Namen ist größer als die Angst vor der Substanz.
Die Dosis macht das Gift
Die Dämonisierung von Mononatriumglutamat ist ein Lehrstück darüber, wie Anekdoten wissenschaftliche Fakten verdrängen können. Wer sich nach dem Essen schlecht fühlt, hat vielleicht einfach zu fettig, zu salzig oder zu viel gegessen – oder zu viel Wein getrunken.
Glutamat ist weder Wundermittel noch Nervengift. Es ist ein Gewürz. Und wie bei Salz gilt: In Maßen hebt es den Geschmack, in Massen verdirbt es ihn. Die Angst vor dem Chinarestaurant darf jedenfalls als unbegründet zu den Akten gelegt werden.






