Warum will sie geschlagen werden?

Weshalb boomt der Sadomasochismus und sind immer mehr Frauen beim Sex zu Unterwerfung bereit.

von Liebes Leben - Warum will sie geschlagen werden? © Bild: Nathan Murrell

Silke lässt sich wochenends regelmäßig von Ralph voller Hingabe und Wollust ans Bett fesseln, wenn die Kinder bei Opa und Oma sind. Ist dies das Mysterium von Macht und Ohnmacht oder die reine Lust an der Unterwerfung? Frauen wie Silke nutzen die Gelegenheit, mit ihrem Partner geheimste Fantasien auszuleben. Und das kann auch gut und gern der sogenannte "Lustschmerz" sein. Ralph darf, ja, er soll Silke lustvoll schlagen und auspeitschen. Neuesten Erkenntnissen zufolge haben Frauen Männer bei typisch männlichen sexuellen Aktivitäten bereits eingeholt, wie beim Zeitpunkt des ersten Geschlechtsverkehrs, bei der Selbstbefriedigung und schließlich einer bislang absoluten Männerdomäne, beim Konsum von Pornografie. Unabhängige, selbstbewusste Frauen erklären offen, sich beim Sex gern fesseln und schlagen zu lassen. Das sind also keine verschüchterten Wesen, die die Unterwerfung lieben. Im Folgenden suchen wir nach Erklärungsmodellen dieses Booms des Schmerzes und des Bekenntnisses zu sadomasochistischen Sexualpraktiken. Die wohl erstaunlichste psychologische Deutung sadomasochistischer Neigungen zuerst:

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1. Das Nachstellen des Traumas: Menschen, die früh Grenzüberschreitungen, auch sexuelle Übergriffe erlebt haben, können im Erwachsenenalter eine – allerdings spielerische – Reinszenierung in der Kindheit erschütternder Erfahrungen und Traumata unbewusst betreiben (griechisch "trauma" für Erschütterung, Wunde). Gleichsam ein Nachspielen der seelischen Verletzung, mit dem entscheidenden Unterschied, diesmal selbst Regie zu führen in der Wiederholung unverdauten Seelenballasts. Sadomasochistische Trends können aber auch ganz anderer Herkunft sein
und müssen nichts mit traumatischen Erfahrungen zu tun haben:

2. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frau: Das mit dem Zuwachs an Autonomie zunehmende Selbstbewusstsein von Frauen bedingt, dass sie ihre sexuellen Wünsche viel eher erkennen, akzeptieren und diese auch umsetzen. Zu der größeren Unabhängigkeit kommt noch etwas Anderes hinzu:

3. Der Reiz der Hingabe: Die autonome Entscheidung der selbstbewussten Frau (oder auch allgemein jedes Menschen) macht möglich, beim Sex vollkommen die Verantwortung abzugeben und sich komplett einer dominanten Person zu überantworten. Sich dabei vertrauensvoll fallen zu lassen. Dem Partner die Kontrolle zu überlassen. Das verträgt sich mit dem Selbstverständnis der selbstbewussten Frau im Alltag nicht so wirklich. Die Lösung: Dieser Wunsch wird sexualisiert, das heißt, es kommt zu einer kontrollierten Unterwerfung in dem beschränkten Gebiet der Sexualität. Silke erlaubt Ralph nur beim Sex, sie zu dominieren. Anderntags sitzen die beiden nach einer Nacht der Fesselspiele im Garten und Silke wirft Ralph vor, dass der Rasen noch immer im Wildwuchs sei. Da ist wieder sie "ganz Chefin".

4. Aufarbeitung von Unterwerfungserfahrungen durch Rollenumkehr: Dabei kann eine in der Kindheit geschlagene Person jetzt selbst die Situation früheren Ausgeliefert-Seins wiederherstellen und sie sexuell auflösen.

Nach dieser Reflexion fragen sich viele, ab wann man etwas als Perversion bezeichnen muss. Bei Perversionen wird die Sexualität aus dem Kontext romantischer Liebe und positiver Bindung genommen: Die Abhängigkeit von einem Menschen soll aufgrund von negativen Erfahrungen vermieden werden. Das kann zu perversen Fixierungen und Süchten führen, die außer Kontrolle geraten. Solange Silke die Schläge wünscht und keinen Schaden davon nimmt, sondern das als Lustschmerz empfindet, ist es im grünen Bereich. Von einer Störung würde man sprechen, sobald eine Selbst- oder Fremdverletzung vorliegt und jemand dabei körperlich oder psychisch Schaden nimmt. Auf das Phänomen des Sadomasochismus angelegt, gilt: Wenn Ralph Silke beim Sex mit einer Gerte schlägt und weder er noch Silke darunter leiden, wäre das wohl nicht als krankheitswertig zu bezeichnen. Zumindest nicht für diese beiden.

Prof. Mag. Dr. Monika D. Wogrolly, Philosophin und Psychotherapeutin
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