Menasse und Trojanow: Das Elend der Parteien

Zwei österreichische Autoren und politische Köpfe der Höchstliga im Disput zum Verfall und zu den Chancen der Utopien. Robert Menasse und Ilija Trojanow über die Restchancen Europas, das Elend der Parteien und die Chimäre KI

von Robert Menasse © Bild: News/Matt Observe

Zwei österreichische Schriftsteller aus der hohen Liga: Robert Menasse, 68, ist unbeirrbarer Europäer - im Herbst erschien Teil zwei seiner EU-Trilogie, "Die Erweiterung" - und aus Begeisterung über den linken Aufbruch kürzlich der SPÖ beigetreten. Der gebürtige Bulgare Ilija Trojanow, 57, ist vor den Stalinisten geflohen und thematisiert in seinem nächsten Roman auch ironisch die KI. Am 7. Juli diskutieren sie im Landestheater St. Pölten über Utopien. Wir haben sie schon vorher zum Dialog via Zoom gebeten.

Gibt es in dieser dunklen Zeit überhaupt eine Utopie, die sich nicht automatisch in eine Dystopie verwandelt?
Trojanow: Es gibt tatsächlich eine bestimmte Tradition der totalitären Utopien, vor allem in der europäischen Geschichte, die ein Manko haben: dass sie alles vorweggenommen haben. Diese Art Blaupausen-Bürokraten-Utopie führt natürlich in den Untergang. Aber es gibt auch Utopien, die sich glücklich verwirklicht haben, was wir oft vergessen, weil uns die historische Perspektive fehlt. Weil wir Schwierigkeiten haben, uns daran zu erinnern, wie es war, als es die Sklaverei gab, als das Frauenwahlrecht über Jahrzehnte erkämpft werden musste. Ich habe in Zürich mit meiner Tochter eine Ausstellung besucht, die tatsächlich "Utopie" hieß. Da ging es darum, dass in der Schweiz gegen unglaubliche Widerstände die Utopie der Frauengleichberechtigung erkämpft werden musste. Wenn man sich die damaligen Plakate ansieht, die verschiedenen Versuche, diese Forderungen zu dämonisieren, dann sieht man eine gewisse Ablehnung des utopischen Denkens als absurd, als lächerlich, als eine Gefahr für die Kohärenz der Gesellschaft. Der Weltuntergang wird quasi an die Wand gemalt. Es gibt außerdem auch auf der diskursiven Ebene die Behauptung, dass alles Utopische per se misslingen muss. Insofern ist das Wichtigere, uns zu überlegen, wieso der Mensch als Individuum und als Gesellschaft lieber in der altbekannten Scheiße hockt als den Mut hat, etwas Neues zu beginnen, dessen Ausgang ungewiss ist.
Menasse: Was es nirgends gibt, befindet sich dort, im Nirgendwo, das heißt Utopia. Für beharrende Kräfte, die in ihrer Realität kein Defizit sehen, für Fantasielose oder schicksalsergebene Menschen soll das Nicht-Wirkliche als Unmögliches auch dort bleiben: in Utopia. Aber wenn der Traum von einer besseren, gerechteren, schöneren, vernünftiger organisierten Welt in einer Zeit geträumt wird, in der die Defizite von den meisten als drückend erlebt werden, als Skandal, der nicht mehr wirklich gerechtfertigt werden kann, und sich zugleich Bedingungen der Möglichkeit gesellschaftlich und ökonomisch herausgebildet haben, den Traum zu verwirklichen, zumindest teilweise, schrittweise: Dann ist der Traum keine Fantasterei mehr, kein Hirngespinst, sondern eine konkrete Utopie, um es mit dem Begriff von Ernst Bloch zu sagen. Aus dem Unmöglichen wird wirklich Mögliches, schließlich zumindest teilweise Wirkliches. Das ist es, was wir Fortschritt nennen. Das geschieht über lange Zeiträume und zu jeder Zeit existieren verschiedene Zeiten gleichzeitig. Die griechische Antike entwickelte demokratische Verfahren, die waren zu ihrer Zeit einzigartig. Aber Frauen hatten in der antiken Demokratie keinen Anteil. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Demokratie nichts Einzigartiges mehr, einzigartig war, dass es eine alte europäische Demokratie gab, in der Frauen kein Stimmrecht hatten, nämlich die Schweiz. Aber konkreter konnte dort eine Utopie nicht sein, ihre Verwirklichung konnte daher auch nicht mehr verhindert werden. Jedenfalls ist es zutiefst menschlich, glaube ich jedenfalls, sich eine bessere und vernünftiger organisierte Welt vorzustellen. Aber heute stellt sich die Frage, was es bedeutet, dass Utopien aus den Träumen unserer Gesellschaft verschwunden sind und nicht einmal von einem Nirgendwo erzählen, sondern nichts, während Dystopien die Fantasien beschäftigen. Nicht eine bessere Welt, sondern die Zerstörung der Welt ist das Zukunftsszenario, bereits eine Floskel, aber tatsächlich möglich, eine sehr reale Möglichkeit. Wir haben die Geschichte der Umkehrung noch gar nicht begriffen, sie greift weit zurück: Vor dem Ersten Weltkrieg haben Heinrich Mann oder Stefan Zweig erzählt, sie konnten von Coimbra bis Riga ohne Pass reisen. Heinrich Mann sagte: "Ausland war für uns Redensart." Europa ohne Grenzen war Realität. Nationale Pässe wurden erst mit Kriegsbeginn eingeführt. Und wir halten Pässe heute für normal, als hätte es sie immer schon gegeben. Nach dem Zweiten Weltkrieg, nachdem die Nationalisten den Kontinent in Schutt und Asche gelegt hatten, entstanden Utopien, zum Beispiel utopische Filme wie "Raumpatrouille Orion". Der erste Satz der ersten Folge lautet: "Dieser Film spielt in einer fernen Zukunft, in der es keine Nationen mehr gibt." Das heißt: Die Realität der Vorkriegszeit ist nach dem Krieg zu einer fernen Utopie geworden. Und jetzt ist selbst diese untergegangen. Ich würde die europäische Einigungsidee heute als letzte konkrete Utopie bezeichnen, aber selbst die ist für viele ein Horror.
Trojanow: Es gibt durchaus historische Erfolge. Der amerikanische Politologe Graham Allison hat ausgearbeitet, unter welchen Bedingungen es zum Krieg kommt. Er hat 16 historische Fälle untersucht. Es geht um imperiale Interessen, die aufeinanderstoßen, um eine aufstrebende Großmacht, die sich ebenbürtig wähnt. Nur zweimal kommt es in der Neuzeit nicht zu einem Krieg: zum einen zwischen den USA und der UdSSR wegen der atomaren Abschreckung.

»Nicht eine bessere Welt, die Zerstörung der Welt ist das Zukunftsszenario«

Und der andere Fall, in dem es nicht zum Krieg kam?
Trojanow: Zwischen England bzw. Frankreich sowie dem wiedervereinigten Deutschland. Aufgrund des unheimlichen Aufschwungs von Deutschland. Wenn es den europäischen Einigungsprozess nicht gegeben hätte, dann wäre das genau einer dieser Fälle gewesen, bei denen es aufgrund historischer Erfahrungen unweigerlich zum Krieg gekommen wäre.
Menasse: Das ist ja ganz klar. Der Beginn des europäischen Einigungsprojekts nach dem Zweiten Weltkrieg ist eine Konsequenz aus den Lehren der unmittelbar davor passierten Geschichte, nämlich dass Nationalismus zu Krieg führt. In der Konkurrenz der Nationen um Territorien, Ressourcen, Einflusssphären, Rohstoffe, Kolonien. Wenn nach 1945 nicht diese Lehre gezogen worden wäre und die beiden großen europäischen Nationen sich in einer Konkurrenzsituation restauriert hätten, wäre es unweigerlich wieder zum Krieg gekommen. Das ist das Geniale der europäischen Idee: Sie hat begriffen, dass die Lösung nur die Überwindung des Nationalismus sein kann. Deswegen ist dieses Beispiel so schlagend und auch eine konkrete Utopie, die weit über Europa hinausgeht. Barack Obama, die große politische Hoffnung der seinerzeitigen Führungsmacht der Welt, hat zum Beginn seiner Präsidentschaft den Friedensnobelpreis bekommen. Danach hat er sieben verschiedene Länder bombardiert, weil er Präsident einer Nation war, die in der Konkurrenz um Rohstoffe, Einflussgebiete und anderer nationaler Interessen in letzter Instanz zu militärischen Mitteln greift, um diese Interessen zu verteidigen. Den Friedensnobelpreis hätte Obama nur verdient, wenn er genau das nicht gemacht hätte. Aber das scheint natürlich eine völlig verrückte Fantasie. Aber dass es eine konkrete Utopie und daher möglich ist, nämlich Überwindung des Nationalismus und Friede, zeigte in den letzten Jahrzehnten die Europäische Union. Aber unverstanden wird auch diese konkrete Utopie zur Dystopie.

© imago/Thomas Frey IM LEID ERFAHREN. Ilija Trojanow, 57, ist mit den Eltern vor den Stalinisten geflohen

Aber wie soll man denn nun mit der aktuellen Situation umgehen? Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine erzwingen, wie Alice Schwarzer es fordert?
Menasse: Der russische Aggressionskrieg zeigt, dass man auch und gerade als Friedensprojekt eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik braucht. Der Friede muss wehrhaft sein. In Europa hat man zu lange geglaubt, das sei überflüssig, weil die Nato den Schutz bildet. Jetzt hat sich gezeigt, dass just diese Nato-Abhängigkeit die Gefahr ist. Europäische Sicherheit unter amerikanischem Oberbefehl? Also ich fühle mich nicht sicher. Wir müssten das diskutieren, aber es gibt diese Diskussion nicht, es gibt nur archaische Lager: die Transatlantiker und die Ostermarsch-Pazifisten des vergangenen Jahrhunderts. Womit wir bei Alice Schwarzer sind: Wie vollkommen verrückt und überholt eine Form von Achtzigerjahre-Pazifismus ist, der vielleicht damals mit der Debatte über das Wettrüsten gerechtfertigt war: Das hat man am "Tag der Freude" gesehen, als in Wien auf dem Heldenplatz die militärische Kapitulation des Nazi-Reichs und die Befreiung Österreichs gefeiert wurde. Da wurde in vollkommener Unkenntnis seines Werks Konstantin Wecker als Stargast eingeladen. Er hat auf dem Heldenplatz die Botschaft verbreitet: Liebe Menschen, greift nie eine Waffe an, zieht nie eine Uniform an! Wenn ein Aggressor kommt, müsst ihr ihn mit Blumen empfangen, denn nur die Liebe kann den Hass besiegen. Im Grunde hätte der Bundespräsident in der ersten Reihe des Publikums aufstehen und sagen müssen: "Herr Wecker, glauben Sie im Ernst, dass wir heute hier feiern könnten, wenn die Amerikaner, die Engländer, die Franzosen und die Russen den Nazis Blumen überreicht hätten?"
Trojanow: Ich sehe das ein bisschen anders. Erstens ist es nicht günstig, grundsätzliche Visionen einer besseren Welt gegen eine ganz konkrete Bedrohung auszuspielen. Das hat man früher gemacht: Wenn man zum Zivildienst wollte, wurde man gefragt, ob man auch dann keine Waffe ergreifen würde, wenn die eigene Mutter vergewaltigt werden würde. Ich kann grundsätzlich der Ansicht sein, dass ich mir eine friedlichere Welt wünsche, und mir auch ein Konzept machen, wie sie verwirklicht werden kann, aber mich gleichzeitig aus aktuellem Anlass verteidigen. Die utopische Analyse beginnt früher, bei der Frage, wieso es überhaupt zu diesem Putin-System gekommen ist. Da sehen wir ganz klar einen Mangel an Visionen, Utopien und demokratischen Interessen. Der Westen hat nach 1989 bzw. 1991 auf Tausenden Ebenen Koalitionen geschmiedet mit den korrupten Eliten des Ostens, dieser Mischung aus Geheimdienstlern und Nomenklaturaleuten, die zu Oligarchen wurden. Aus Eigeninteresse und Profitgier ist das geschehen und hat in manchen Ländern Europas, vor allem in Russland, zu einer katastrophalen Entwicklung geführt: zu einem Mangel an Demokratisierung, einer Konzentration von Macht bei den schlimmsten Kräften der Gesellschaft, einem fanatischen neuen Patriotismus, der sich imperial gegen die Welt richtet. Auch ein Großteil der österreichischen Eliten hat nichts getan, um dem einen Riegel vorzuschieben. Das ist der große Unterschied zwischen Menschen, die das Tagespolitische diskutieren, und jenen, die eine demokratische, gerechte, nachhaltige, visionäre Politik fordern. Ich war vor Kurzem in Frankfurt beim Global Assembly (www.globalassembly.de), wo Aktivistinnen aus 44 Ländern zusammengekommen sind. Sie haben berichtet, dass es in ihren Ländern des Globalen Südens ein großes Unverständnis gegenüber der Doppelmoral des Westens gibt. Einerseits der erhobene Zeigefinger für die gerechte Weltordnung, aber andererseits wird all das mit den Füßen getreten, wenn es um eigene Interessen geht. Wir werden solche Entwicklungen wie das verbrecherische Putin-Regime nie vermeiden können, wenn wir nicht einen klaren Maßstab für ein Minimum an Menschenwürde auf der Welt formulieren, fordern und umsetzen. Alle diese Menschen haben von einer Zunahme autoritärer Strukturen in ihren Ländern erzählt. Die wird dazu führen, dass es in nationalstaatlichen Strukturen eine Externalisierung der Probleme gibt, dass man in einer kriegerischen Auseinandersetzung versucht, ökonomische Probleme zu verschleiern oder durch Propaganda vom eigenen Scheitern abzulenken.

© Matt Observe/News DER WELTBÜRGER. Robert Menasse, 68, hält unbeirrt zur EU und zur SPÖ

Und wie?
Trojanow: Robert Menasse hat einen hervorragenden Roman über Südosteuropa geschrieben, wo die EU-Fehler aus der Vergangenheit jetzt wiederholt werden. Ich war in Sarajevo, In Serbien wird ein autoritärer Herrscher namens Aleksandar Vucic von der EU mit sehr viel Geld unterstützt, weil man eine vermeintliche Stabilisierungsfunktion des Moments einer langfristigen Befriedung Südosteuropas vorzieht. Menasse: Goldene Worte.
Trojanow: Der Beauftragte der EU, Christian Schmidt, ist im Bett mit rechtsextremen kroatischen Kräften, die er nach Belieben unterstützt. Es gibt keine klare Lösung für das Kosovo, keinen klaren Beitrittsweg für viele dieser Länder. Es geht darum, dass wir nicht nur reagieren, wenn es eine Aggression gibt, sondern dass wir eine vernünftige, visionäre Politik haben, wie wir dieses Friedensprojekt auf Jahre und Jahrzehnte ausweiten können.

»Der Frieden muss wehrhaft sein. In Europa hat man zu lang geglaubt, das sei überflüssig«

Robert Menasse fordert ein auch im Militärischen geeintes Europa

Aber steigern wir mit der Wehrhaftigkeit nicht die Aggression des anderen?
Menasse: Ich habe nicht gesagt, dass Wehrhaftigkeit aus Aufrüstung bestehen muss, ich meine nur, dass man seinen Frieden verteidigen können muss. Ich bin jetzt in der Schweiz, und die hat sich zu einer wehrhaften Neutralität verpflichtet, ohne dass alle Nachbarstaaten deswegen nervös aufgerüstet hätten.
Trojanow: Es gibt eine Reihe von Untergrundorganisationen, die in Russland Sabotageakte verüben, unfassbar mutige Menschen, die genau diese Wehrhaftigkeit selber in die Hand nehmen. Es gibt eine wachsende Zahl von russischen Deserteuren. Auch das ist Wehrhaftigkeit, aber einem Großteil dieser Deserteure wird in Deutschland das Asyl verweht. Dauernd denken wir über Sanktionen nach, und jedes Mal werden irgendwelche Dinge ausgeklammert, der Diamanten- oder der Uranhandel etwa. Das heißt, wir kommen immer zum selben Problem zurück: dass es keine klare, konsequente Politik gibt, sondern ein Lavieren. Man fährt für die Energiesicherung nach Saudi-Arabien, das sein Nachbarland, den Jemen, zerstört hat. Die deutsche Außenministerin faselt etwas von feministischer Politik, fährt nach Äthiopien, wo im Tigray 120.000 Frauen von der nationalen Armee vergewaltigt wurden, und verspricht dem Präsidenten Äthiopiens eine intensivere Zusammenarbeit. Daran scheitert alles. Ein Perpetuum mobile von Aggression, basierend auf Ungerechtigkeit und fehlender visionärer, idealistischer Politik.
Menasse: Was ist die Wurzel der doppelbödigen, aggressiven, scheinheiligen Machenschaften? Die sogenannten nationalen Interessen. Das Interessante an ihnen ist, dass niemand erklären kann, was ein nationales Interesse ist: Es soll einer Nation, also der ganzen Population eines Staats zur Gänze zugutekommen, aber gleichzeitig so exklusiv sein, dass es für die Menschen in anderen Nationen uninteressant ist. Das ist ja unsinnig! Nationale Interessen sind nichts anderes als die Interessen nationaler Eliten. Wenn das einmal FPÖ- oder AfD-Wähler begreifen könnten, würde sehr vieles anders aussehen.
Trojanow: Du musst die ÖVP auch gleich mitnehmen, weil die momentan mal wieder ihre eigentlichen Ideale verrät. Ich hatte ein Gespräch mit einem Biobauern, der ein wunderbares Beispiel für nationales Interesse gegeben hat: Das sind unsere Böden, ohne die haben wir nichts zu essen, das ist wirklich im Interesse der gesamten österreichischen Nation. Aber wir vernichten sie mit unserer industriellen Landwirtschaft.

Kommen wir doch auf ein Existenzproblem: Soll das neutrale Österreich bei der Minenräumung helfen?
Menasse: Natürlich. Minen sind eine unglaublich brutale Waffe. Ich habe auf meiner Reise durch den Westbalkan Minenopfer gesehen, noch aus dem Kosovokrieg. Wenn Österreich Experten und Hunde hat, die so furchtbares Leid verhindern können, dann müssen wir helfen.

Und wenn uns das in den Krieg hineinzieht?
Menasse: Warum würde es uns in den Krieg hineinziehen? Minensucher gehen ja nicht an die Front, um Minen zu entschärfen, sondern auf vermintes Gelände, wo keine Kämpfe stattfinden. Das mit der Begründung der österreichischen Neutralität zurückzuweisen, ist Zynismus! Wie können sich die österreichische Verteidigungsministerin und der Kanzler noch in den Spiegel schauen? Wahrscheinlich weil sie sich selbst gar nicht erkennen.
Trojanow: Beim Thema Landminen bin ich emotional involviert, weil ich unmittelbar nach dem Krieg in Angola war, und einer der ersten Orte, die ich besuchte, war eine Fabrik für Prothesen. Das war ein traumatisches Erlebnis, wie die künstlichen Beine vorbeirollten. Das Schlimme an den Landminen ist, dass sie den Frieden auf längere Zeit verhindern. Diese Waffe garantiert die Fortwirkung des Krieges in Friedenszeiten, die Menschen sind gefangen in einem endlosen Krieg, der sie permanent gefährdet. Es ist Pflicht, überall auf der Welt die Minen zu entschärfen.

»In die verfilzte Struktur der Sozialdemokratie ist Bewegung gekommen. Das fasziniert mich«

Robert Menasse, neues Parteimitglied der SPÖ, wäre auch unter Dosko nicht ausgetreten

Und was passiert hier im Land? Weshalb lösen sich die staatstragenden Parteien auf, während der linke und der rechte Rand erstarken?
Menasse: Die Erosion der Parteien findet in Österreich oder Deutschland nicht so radikal statt wie in Frankreich oder in Italien. Die Parteien haben bei uns eine größere Schwankungsbreite in der Zustimmung und Ablehnung entwickelt, Wahlergebnisse von plus zehn oder minus 15 Prozent sind jetzt möglich, aber ohne dass eine Partei gleich untergeht oder eine andere so wächst, dass sie die Opposition und den Rechtsstaat ausschalten kann, wie in Ungarn oder Polen. Das finde ich zunächst gar nicht schlecht. Das Problem ist, dass sich die traditionell staatstragenden Parteien über viele Jahre hinweg nur noch als gehobene AMS gezeigt haben: Sie vermitteln Posten. Aber sonst? Da sind wir wieder bei den Utopien. Welche Zukunft haben sie anzubieten? Welche Gestaltungsmöglichkeiten? Es ist doch erschütternd, dass wir nur von der FPÖ wissen, was sie will. Aber jetzt ist auch in die Strukturen der Sozialdemokratie, in ihre verfilzte Unbeweglichkeit, die in den Sinkflug geführt hat, Dynamik gekommen. Das fasziniert mich gegenwärtig und auch, dass nie stimmt, was die Medien erwarten. Sie lieben Mutmaßungen. Diese erweisen sich aber immer als falsch. Ich glaube, dass gewisse Journalisten bei ihren Prognosen deshalb immer falschliegen, weil sie Geschichte nicht gelernt haben. Die Kampfabstimmung beim Bundesparteitag wird die SPÖ zerreißen, schreiben sie. Aber auch Kreisky wurde nach einer Kampfabstimmung Parteiobmann. Er wurde es, weil er Visionen, meinetwegen Utopien, hatte, im Gegensatz zum angeblichen Pragmatiker Hans Czettel. Was Babler heute referiert, sind die ganz normalen sozialdemokratischen Positionen. Damit könne man keine Wahl gewinnen, schreiben sie. Als Kreisky solche Positionen vertrat, sind Bürgerliche in Scharen mitgegangen und haben nicht gesagt, das ist ein Marxist, sondern er hat die absolute Mehrheit erreicht. Sie schreiben, dass heute nur Doskozil Wahlen gewinnen kann. Dann zeigt sich, dass nur ein Drittel der eigenen Parteimitglieder ihn wählt, warum sollen ihn dann Nichtmitglieder wählen? Und so weiter. Und rechts und links sind Begriffe, die in Österreich nach 1945 nur der Daumen zuordnete: Links ist, wo der Daumen rechts ist. War eine antisemitische Nachkriegs-SPÖ mit oder trotz ihrer austromarxistischen Wurzeln links oder rechts? War eine damals noch tiefschwarze ÖVP mit ihrer Idee einer ökosozialen Marktwirtschaft links oder rechts oder gar grün? Sind die freiheitlichen Faschisten wirklich ein rechter Rand, oder bringen sie nicht vielmehr Österreichs Mitte an den Rand des Abgrunds? Und der linke Rand? Ist die KPÖ wirklich linker Rand oder nicht vielmehr von Teilen der Mitte die mit Sympathie goutierte Transformation des Stalinismus in Sozialarbeit? Ich komme zurück auf unsere Ausgangsfrage nach den Utopien: In Österreich ist sowohl eine linke wie auch rechte Mehrheit Utopie und Dystopie gleichzeitig.
Trojanow: Ich würde gern drei Punkte anmerken. Erstens: Die Sprache in unseren öffentlichen Medien ist völlig falsch, es wird von einer Mitte und von Extremismus geredet. Aber es gibt nichts Extremistischeres, als in Krisenzeiten am Status quo festzuhalten. Nichts zu ändern, wenn man auf den Abhang zurollt und abstürzen wird, das ist extremistisch. Das Zweite ist, dass ständig Links- und Rechtsextreme gleichgesetzt werden. Das ist nicht richtig! Ich habe neulich ein Interview mit dem Chef der Salzburger Kommunisten gehört, das war voller vernünftiger Vorschläge über soziale Unterstützung und leistbaren Wohnraum. Da geht jemand in die Bezirke und spricht mit den Menschen. Ich habe Hochachtung von seinem Beharren auf der Menschenwürde und seiner kritischen Haltung zu den Verbrechen des real existierenden Kommunismus. Das Dritte: Wenn wir das Nationalstaatliche zumindest einschränken, wenn nicht gar aufgeben wollen, dann müssen wir uns auch über die Zukunft der Parteiendemokratie Gedanken machen. Weil weltweit die großen sozialen Bewegungen und progressiven Strömungen nicht von Parteien ausgehen, sondern von Public Players, die sich anders organisieren. Formen wie Bürgerräte, ziviles Engagement, Redemokratisierung von unten stehen in einem eklatanten Widerspruch zu den verkrusteten Parteienstrukturen, die Robert gerade beschrieben hat. Das ist ein Teil des großen politischen Komplexes der Zukunft. Denn im Moment haben wir eine Dysfunktionalität, was Parteipolitik betrifft.

Aber die Aussichten, dass Kickl Bundeskanzler wird, sind funktional?
Menasse: Ich habe gerade vorhin gesagt, ich will von Medienleuten keine Mutmaßungen mehr hören.

»Die Grünen kann ich nur mit einem Satz zusammenfassen: Sind sie so dumm oder so unfähig?«
© Thomas Dorn Ilija Trojanow über verspielte Sympathien einer Bewegung

Zu den Grünen haben Sie aber etwas anzumerken?
Menasse: Diese Partei hatte große Hoffnungen geweckt. Vielleicht zu große bei allen, die guten Willens sind. Wahrscheinlich ist nach unseren Erfahrungen mit den Grünen in der Regierung die Enttäuschung und sogar die Wut und Verachtung daher so besonders groß. Wenn Grüne in der Regierung zustimmen, dass Kinder, die in Österreich zur Welt kamen, hier aufwuchsen, deutsch sprechen, in ihrer Schule tüchtig und beliebt sind, mitten in der Nacht aus dem Bett geholt und deportiert werden, weil der Vater aus dem Ausland kam, dann kann man mit dieser Partie nicht mehr diskutieren. Oder: wenn die Grünen einer Medienreform zustimmen, deren Kern das ÖVP-Interesse an der Zerstörung öffentlich-rechtlicher Medien ist. Keine Partei braucht öffentlich-rechtliche Medien so dringend wie die Grünen, weil der Boulevard die Grünen nie lieben wird, während alle anderen glauben, man könne den Boulevard kaufen. Aber die Grünen stimmen der Zerstörung zu, weil sie den Koalitionsfrieden wegen des Klimapakets nicht stören wollen, das dann aber auch nicht kommt. Die Grünen haben das Verkehrsministerium. Heute brauche ich für die Bahnfahrt von Wien nach Prag länger als in der Zeit des Eisernen Vorhangs, und die Frau Minister gibt eine Pressekonferenz, dass der Franz-Josefs-Bahnhof renoviert wird. Der Bahnhof. Nicht die Strecke! Die Grünen haben eine besondere Hoffnung erweckt, eine besondere Unterstützung erreicht. Sie haben alles verkauft und dann nichts dafür bekommen, das man sehen und anerkennen könnte.

Dafür gibt es jetzt die Klima-Kleber. Wie stehen Sie denn zu denen?
Trojanow: Die sind in ganz Österreich 70 Leute. Sie sind also vor allem als Chimäre interessant, die von den Medien als große Bedrohung der Zukunft aufgebaut ist. Ich bekomme sofort mehr als 70 Leute aus der Pastafari-Bewegung zusammen, die glauben, dass Gott Pasta ist. Über Klima-Kleber rede ich erst, wenn es mehrere 10.000 sind.
Menasse: Die eigentlichen Klima-Kleber sind die grünen Abgeordneten, weil sie kleben auf ihren Sesseln und verhindern eine Neuwahl.
Trojanow: Die Grünen kann ich mit einem Satz zusammenfassen: Sind sie so dumm oder sind sie so unfähig?
Menasse: Oder sind sie zynisch. Macht Politik zynisch?

»Manche Sachen sind so schlecht geschrieben, dass ich mir wünschte, die KI griffe ein«

Ilija Trojanow über mildernde Auswirkungen auf die Kollegenschaft

Herr Trojanow, in Ihrem Roman "Tausend und ein Morgen", der im August erscheint, thematisieren Sie auch eine Art KI. Gehen wir dem Kampf Mensch gegen Maschine entgegen?
Trojanow: Es wird so viel Unsinn im Zusammenhang mit KI gesprochen, dass ich gar nicht weiß, wo ich beginnen sollte. Das fängt schon damit an, dass alle möglichen aufgeklärten Leute fordern, KI möge an die Ethik angebunden werden. Da bekomme ich einen Lachanfall. Seit wann haben wir denn eine allgemeingültige Ethik? Viele finden es völlig in Ordnung, dass 65 Leute die Hälfte des Wohlstands der Welt besitzen. Das ist Teil einer liberal-kapitalistischen Ethik, die ich verbrecherisch finde. Die Fähigkeiten der KI werden im Moment maßlos überschätzt. Was in 50 Jahren passiert, kann natürlich niemand sagen. Aber wenn Sie ChatGPT ausprobieren, und ich habe es probiert, ist das nichts anderes als ein Zusammenschreiben von Dingen aus dem Internet, ein etwas entwickelteres Textverarbeitungsprogramm.
Menasse: In der Schule nannte man das Schmierer.
Trojanow: Schöner Einwurf, auch bei der KI handelt es sich im Moment um eine Schmierenkomödie, mit der von wirklichen demokratischen Problemen abgelenkt wird: dass nämlich sechs Großunternehmen weltweit fast den gesamten digitalen Raum kontrollieren. Es gibt keine demokratische Kontrolle, zudem zahlen sie kaum Steuern, weil sie Lücken in der Steuergesetzgebung ausnutzen. Die Manipulation der User war von vornherein Teil des Konzepts, es wurde absichtlich Suchtverhalten erzeugt, das heißt, die negativen Folgen der sozialen Medien waren im Großen als Profitmaximierungsstrategie beabsichtigt. Jetzt gibt es auch noch einen Angriff auf die öffentlich-rechtlichen Strukturen. Das bedeutet, dass wir nur noch Leuten wie Elon Musk ausgeliefert sind und eine oligarchische Medienlandschaft haben werden. Aber wir malen eine KI an die Wand, die die Menschen loswerden will. Das ist absolute Science-Fiction. Heute haben wir ganz andere Probleme.

Und wenn die KI Romane zu schreiben beginnt?
Trojanow: Ich garantiere Ihnen, dass in den nächsten 20 Jahren keine KI auf dem Niveau von Robert Menasse Romane schreiben kann. Andererseits sind manche Sachen so schlecht geschrieben, dass ich mir wünschte, die KI würde eingreifen. Ich würde meine Meinung ändern, wenn ChatGPT einen originären Gedanken fasst, aber das ist im Moment nicht möglich. Die völlige Misere unserer Bildungspolitik begann doch nicht an dem Tag, als ChatGPT erfunden wurde! Die Tatsache, dass Schüler und Studenten sich die Aufsätze schreiben lassen, hat doch einen ganz anderen Grund, nämlich dass wir die Bildung vollkommen versaut haben. Letzte Woche kam in Deutschland eine Studie heraus, derzufolge ein Viertel aller Viertklassler gar nicht lesen kann. Das ist doch der Skandal.
Menasse: Mit anderen Worten ist das wirkliche Problem nicht die künstliche Intelligenz, sondern die natürliche Dummheit.
Trojanow: Und die grassiert im Moment sehr.

ZUR PERSON

Robert Menasse
Geboren am 21. Juni 1954 in Wien in eine jüdische Familie als Sohn des früheren Weltklasse-Fußballers Hans Menasse, ist einer der führenden österreichischen Schriftsteller und Essayisten. Sein umfangreiches erzählendes Œuvre gipfelte 2017 im EU-Roman "Die Hauptstadt", der mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Der aktuelle Titel "Die Erweiterung" ist Teil zwei einer Trilogie. Menasse lebt in Wien, ist verheiratet und hat eine Tochter.

Ilija Trojanow
Geboren am 23. August 1965 in Sofia, floh er mit den Eltern als Sechsjähriger nach Deutschland und erhielt dort Exil. Die Familie lebte später in Kenia, 1999 übersiedelte er nach Mumbai in Indien. Heute lebt er in Wien. Für den Roman "Der Weltensammler" wurde er mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Unter dem Titel "Der utopische Raum" leitet er im Landestheater NÖ eine Gesprächsreihe, in der am 7. Juli Robert Menasse zu Gast ist.

Dieses Interview erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 22/2023.