Der komplizierte Weg zum Frieden

Der Historiker Jörn Leonhard hat untersucht, wie Kriege enden. Im Interview erklärt er, warum er an einen Frieden in Gaza glaubt, in der Ukraine aber mit einem lange dauernden Zermürbungskrieg rechnet. Die Europäische Union habe ihr Gewicht als Friedensvermittlerin verloren, sagt er.

von Friedensflagge © Bild: Björn Kindler/Getty Images

Sie schreiben in Ihrem Buch "Über Kriege und wie man sie beendet" ein Konflikt müsse reif dafür sein, dass die Kontrahenten erkennen, dass ihnen eine Friedenslösung mehr bringt, als weiterzukämpfen. Zeichnet sich das in der Ukraine und Gaza ab?
Dieser Punkt der Reife ist entscheidend. Wenn man auf die Ukraine blickt, bin ich da eher skeptisch, denn beide Seiten setzen im Moment sehr auf eine militärische Entscheidung. Russland, weil es offensichtlich glaubt, dass die Resilienz des Westens abnimmt. Stichwort: Ukrainehilfe. Stichwort: Präsidentschaftswahl in den USA. Und die Ukraine, weil sie fürchten muss, dass Konzessionsbereitschaft nicht zum Frieden führt, sondern dem Aggressor Putin das Zeichen gibt, er sei auf einem guten Weg. Warum sollte er sich daher mit der Ostukraine und der Krim zufriedengeben? Das erinnert an die 1930er-Jahre, als die Alliierten Hitler zu beschwichtigen versuchten (indem sie zunächst der Teilung der Tschechoslowakei zustimmten und dann die Annexion eines Großteils des Landes akzeptierten, Anm.), ihn aber damit in seinem Kurs bestätigten. Positiver gestimmt bin ich beim Nahen Osten. Dort gibt es, anders als in der Ukraine, glaubwürdige internationale Vermittler, die in der Lage sind, auf die Kriegsparteien Druck auszuüben: die USA gegenüber Israel, Katar und Saudi Arabien gegenüber den Palästinensern.

»Wer durch eine Niederlage alles verlieren kann, wird zu größerer Eskalation bereit sein«

Welche Rolle spielen die Führungspersönlichkeiten Putin und Netanjahu bei der Verlängerung des Konflikts? Sie schreiben, ein Krieg kann enden, wenn Machthaber von innen bedroht sind.
Dieser Faktor ist von wesentlicher Bedeutung, weil längere Kriege früher oder später die Frage nach der Legitimation des politischen Systems stellen. Bei Putin hat die Prigoschin-Episode gezeigt, dass es bei ihm nicht nur um das politische Überleben geht, sondern auch um das physische Überleben. Wer durch eine Niederlage alles verlieren kann, wird zu größerer Eskalation bereit sein. Dafür gibt es historische Beispiele. Bei Netanjahu ist es wahrscheinlich, dass er diesen Konflikt politisch nicht überlebt. Aber Israel ist, bei allen Problemen, eine funktionierende Demokratie. Davon kann bei Russland keine Rede sein. Das ist ein Faktor, der die Friedenshürden für die Ukraine deutlich höher setzt, weil kein Mensch weiß, was eine russische Niederlage innenpolitisch und innergesellschaftlich bedeuten könnte.

Fast immer rechnen jene, die den Krieg beginnen, damit, dass er kurz sein wird. Fast nie ist das so. Warum unterliegen Aggressoren diesem Irrtum trotzdem?
Würde ein militärischer Kommandostab am Beginn eines Kriegs zugeben, wir werden nicht schnell gewinnen und es könnte ein unabsehbar langer Krieg werden, wäre damit die eigene Legitimation als militärische Führung infrage gestellt. Im Ersten Weltkrieg, im Vietnamkrieg, im Afghanistankrieg - immer haben militärische Eliten argumentiert, dass man aufgrund überlegener Ressourcen und Waffensysteme die Möglichkeit habe, eine schnelle Entscheidung zu erzwingen. Kurze Kriege sind aber historisch die Ausnahme. Es gab sie - etwa um die Nationalstaatenbildung Italiens und Deutschlands zwischen 1859 und 1871 -, das waren Kriege, in denen es zu keiner großen Internationalisierung kam. Im Ukrainekrieg sehen wir aber genau diese internationale Involvierung etwa Chinas und Irans. Das macht die Sache deutlich schwieriger. Es ist für Putin kein kurzer Krieg. Auf der anderen Seite hat auch die ukrainische Offensive nicht die Entscheidung gebracht. Nun sehen wir einen Abnutzungskrieg, in dem Ressourcen und Resilienz im Mittelpunkt stehen. Dazu gehören nicht nur Panzer, sondern auch öffentliche Meinungen, der Krieg der Bilder, Deutungshoheit. Wir sehen eine Phase der Desillusionierung, weil sich keines der Szenarien eingestellt hat, die im Februar letzten Jahres entwickelt worden waren.

Jörn Leonhard
© imago/IPON
Der Deutsche studierte Geschichte in Heidelberg und Oxford und lehrt heute als Professor für Westeuropäische Geschichte an der Universität Freiburg. Seine thematischen Schwerpunkte sind die Geschichte von Liberalismus und Nationalismus, von Krieg und Frieden sowie die Erforschung multiethnischer Empires im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Er ist Autor mehrerer Bücher.

Ohne internationale Unterstützung hätte sich die Ukraine nicht gehalten. Aber es gibt die Debatte -in Deutschland durch Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht -, dass man Waffenlieferungen stoppen sollte, um den Krieg zu beenden. Ist das ein legitimes Ansinnen?
Die Diskussion darum muss eine Demokratie aushalten. Als Historiker würde ich aber auf Beispiele eines "faulen Friedens" verweisen, die es seit der Antike bis zum 20. Jahrhundert immer wieder gab: also einseitige Konzessionsbereitschaft, die dem Gegner Erschöpfung signalisiert und damit die Aggression der Gegenseite sogar verstärken kann. Das ist eine Art von Kriegslogik, die der Aufruf von Schwarzer und Wagenknecht nicht berücksichtigt. Es ist legitim, nach dem richtigen Moment für Konzessionsbereitschaft zu fragen. Aber derzeit würde dieses Signal Putin nur in seiner Aggression bestärken. Er sieht, dass die europäische Unterstützung bröckelt. Europa müsste sich zudem verteidigungspolitisch neu positionieren, wenn Trump die Wahl in den USA gewinnt. Die Ukraine würde dann womöglich aus dem Fokus geraten. Ich will es deutlich sagen: Nicht das Austesten von Konzessionsbereitschaft an sich ist naiv oder schlecht. Aber man benötigt einen Plan, wie man mit einem Aggressor umgeht, wenn er darauf nicht eingeht. Und es gibt keinerlei Anzeichen, dass Putin wirklich dazu bereit wäre.

Eine andere Kriegslogik ist, dass man die vielen Opfer, die es schon gegeben hat, dadurch legitimieren will, dass man immer weitermacht. Sie sollen ja nicht umsonst gewesen sein.
Das ist ein auf den ersten Blick zynisches Argument, das aber in der Geschichte eine große Rolle spielte. Angesichts vieler Opfer glauben Zeitgenossen, dass nur ein Sieg oder sehr deutliche politische Gewinne diese Opfer rechtfertigen. Im Ersten Weltkrieg erklärte der französische Premierminister Georges Clemenceau Anfang 1918, dass derjenige den Krieg gewinne, der eine Viertelstunde länger aushalte. Der Blick auf die Opfer ist mit der Rechtfertigung eines Regimes verknüpft. Wer kann politisch überleben, wenn es nach Hunderttausenden Opfern dennoch zu weitgehenden Gebietsverlusten kommt? Niederlagen schlagen schnell um in den Vorwurf des Verrats an den Opfern. Das wäre auch für die Ukraine, jenseits aller anderen Probleme, eine enorme innergesellschaftliche Belastung.

Wie endet heute ein Krieg? Entscheidungsschlachten gibt es nur auf Schlachtengemälden in Museen.
Weil es diesen klassischen Schlachtensieg nicht mehr gibt und wir mit einer Pattsituation konfrontiert sind, kommt Vermittlern eine umso größere Rolle zu. Im Ukrainekrieg fallen die USA und China aus, weil sie Partei sind. Andere Mitglieder der BRICS-Gruppe könnten daher große Bedeutung bekommen, vor allem Brasilien und Indien, vielleicht auch die Türkei, die in den Getreideabkommen vermittelte. Vermittler müssen glaubwürdig sein, sie brauchen ein Mandat und müssen bereit sei, auch langfristig engagiert zu bleiben -eine große Herausforderung. Die USA haben diese Rolle öfter im Nahen Osten gespielt, denn sie besaßen einen Hebel gegenüber Israel und unterhielten Kontakte zu Saudi-Arabien. Das wird in der Ukraine schwieriger. Ein weiteres Szenario ist kein klassischer Friedensvertrag. Viele Konflikte nach 1945 endeten mit einer UN-Resolution oder einem eingefrorenen Konflikt, einem Waffenstillstand also, der unterhalb der völkerrechtlichen Normen eines Friedensvertrags läge. So vereinbarten die Kriegsparteien nach dem Koreakrieg einen Waffenstillstand, der bisher über 100.000 Mal gebrochen wurde.

Das Buch:

10 Thesen für den Weg zu Frieden formuliert Jörn Leonhard in dem Buch "Über Kriege und wie man sie beendet". Erschienen im Verlag C. H. Beck, € 18,95.*

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Die Versuchung ist also groß, eine solche Vereinbarung jederzeit zu brechen.
Das ist genau der Grund, warum viele Akteure einen formalen Friedensvertrag vermeiden wollen und lieber auf einen Waffenstillstand setzen, um ihn als taktische Pause zu nutzen, um mittelfristig die eigenen Ziele weiterzuverfolgen. Für die Ukraine könnte das eine Art blutende Grenze bedeuten: kein großer Konflikt, aber in bestimmten Regionen immer wieder aufflackernde Kämpfe. Funktioniert die internationale Vermittlung, könnte man über die Einrichtung internationaler Sicherheitszonen sprechen. Aber das ist noch ein sehr weiter Weg. Im Moment setzen beide Seiten noch darauf, mit militärischer Gewalt auf dem Schlachtfeld länger auszuhalten.

Wie schätzen Sie Friedensmöglichkeiten im Fall von Israel und Gaza ein? Kann man sich nach dem Terror des 7. Oktober je an einen Verhandlungstisch setzen?
Es gibt keine langfristige Alternative zu einem Frieden. Die Hamas hat nach diesem Terrorangriff keinerlei Mandat mehr, aber man braucht in einem Friedensprozess Akteure, die politische Prokura besitzen. Der große Fehler der israelischen Führung bestand darin, durch die Siedlungspolitik im Westjordanland eine starke Repräsentation der palästinensischen Autonomiebehörde zu verhindern.

Das Gegenteil war eigentlich auch gewollt, oder?
Ganz genau, denn man braucht glaubwürdige Ansprechpartner bei den Palästinensern. Positiv stimmt mich, dass die Freilassung der Geiseln doch gewisse Handlungsspielräume der USA, Katars und Saudi-Arabiens dokumentiert hat. Zudem ist dieser Konflikt kleinräumiger, kein territorialer Konflikt wie in der Ukraine, wo es zur Entführung Zehntausender Kinder nach Russland kam. Wenn der akute militärische Konflikt überwunden ist, könnten auch die Europäer und Anrainer wie Ägypten eine Rolle bei der Errichtung einer Schutzzone und bei einem Wiederaufbauprogramm wie dem Marshall-Plan in Europa nach 1945 spielen, um den Menschen politische Sicherheit und eine ökonomische Perspektive zu vermitteln. Ein weiterer Aspekt, der mich etwas optimistischer stimmt: Bislang ist dieser Konflikt regional begrenzt geblieben, und weder der Iran noch die Hisbollah haben eine weitere Front eröffnet.

»Es gibt im Nahen Osten keine stabile Vermittlerfunktion europäischer Staaten - ein großes Manko«

Die Europäische Union wird von Ihnen nicht unter den Vermittlern genannt.
Westeuropa entwickelte nach 1945 ein singulär erfolgreiches Pazifizierungskonzept. So konnte Westdeutschland durch ökonomische und politische Integration stabilisiert werden. In den 1970er-Jahren half die Aussicht auf die europäische Integration Spanien, Portugal und Griechenland, die autoritären Regimes zu überwinden. Schließlich spielte die EU auch eine wichtige Rolle am Ende des Kalten Kriegs. Aber diese Pazifizierung ließ sich nicht mehr in anderen Regionen durchsetzen, etwa im ehemaligen Jugoslawien, in Nordafrika, Syrien oder in der Ukraine. Hinzu kommt, dass Europa ohne die verteidigungspolitische Hilfe der USA vor enormen Problemen steht. Was könnte die deutsche Bundeswehr leisten, wenn es zu einer Konfrontation im Baltikum kommt? Ohne amerikanische Hilfe? Schwer vorstellbar. Darüber hinaus haben es die Europäer versäumt, das Vakuum im Nahen Osten nach dem Glaubwürdigkeitsverlust der USA im Irakkrieg und angesichts von Guantánamo zu füllen. Es gibt dort keine stabile Vermittlerfunktion europäischer Staaten -ein großes Manko. Erst bei der Einrichtung von Schutzzonen und einem Wiederaufbauprogramm könnten die Europäer wieder eine aktivere Rolle spielen. Bis dahin bleiben ihre Handlungsspielräume begrenzt.

Liegt das auch daran, dass die EU außenpolitisch nicht mit einer Zunge spricht?
Wir sehen ja, wie die Fragen von Krieg und Frieden die Innenpolitik der einzelnen Länder polarisieren, in Österreich, aber auch zuletzt bei den Wahlen in den Niederlanden und auch in Polen und Ungarn. Die deutsche Gesellschaft ist stark gespalten, was Hilfe in den Kriegs-und Krisengebieten betrifft. Diese Kriege legen schonungslos offen, dass die EU bis heute über keine wirklich gemeinsame Außen-, Sicherheits-und Verteidigungspolitik verfügt. Wir geben in Europa nicht weniger Geld für Rüstungsprojekte aus als die USA, aber wir organisieren sie zu wenig gemeinsam und nicht effizient genug, sondern zu oft noch im Rahmen nationalstaatlicher Rüstungspolitik. Historisch hat sich die EU in Krisen häufig weiterentwickelt, und tatsächlich hat sie Anfang 2022 schnell eine gemeinsame Reaktion auf Putins Aggression gefunden. Aber mit immer längerer Dauer dieses Kriegs wird die Frage der Resilienz Europas immer schärfer gestellt.

Was kann man dem Aggressor oder dem Unterlegenen in Friedensverhandlungen zumuten? Fühlt er sich gedemütigt, geht der Krieg in den Köpfen ja weiter.
Das ist vielleicht eine der schwierigsten Aufgaben für Friedensmacher. Es gibt ja keine Rückkehr in die Praxis des Wiener Kongresses, als Monarchen und Fürsten noch eine gemeinsame aristokratische Werteordnung teilten. Damals musste man Lösungen für europäische Sicherheitsprobleme finden, nicht für globale Krisen wie heute. Auf die Bevölkerungen und das Prinzip nationaler Selbstbestimmung nahm man bei Grenzziehungen keine Rücksicht. Heute hat der Weg zum Frieden sehr viel mehr mit politischer Kommunikation, mit Bildern und Öffentlichkeit zu tun. Umso mehr muss es in Friedensverhandlungen darum gehen, jede symbolische Demütigung einer Partei zu verhindern, weil sich sonst der Krieg in den Köpfen fortsetzen kann. Vorbereitende Verhandlungen muss man daher in einem sehr kleinen Kreis führen, um zunächst Vertraulichkeit herzustellen.

Ist das heute noch möglich? Durch soziale Medien zieht alles sofort weite Kreise.
Das ist genau der Punkt. Umso wichtiger ist es, über abgeschirmte Kommunikation zunächst ein Minimum an Vertrauen zu schaffen. Die USA haben bei den Verhandlungen nach den jugoslawischen Zerfallskriegen in Dayton genau das getan. Die Kriegsparteien wurden auf einer Luftwaffenbasis abgeschirmt. Dann mussten Franjo Tuđman (Kroatien), Slobodan Milošević (Serbien) und Alija Izetbegović (Bosnien) unter Druck bis zu einer Lösung verhandeln. Dazu kam, dass die USA bereit waren, die Bestimmungen auch vor Ort umzusetzen, zur Not mit einem robusten Mandat und dem Einsatz militärischer Gewalt.

Haben wir nicht heute eine viel moralischere Vorstellung von Frieden und Kriegsverbrechen? Früher hat man dem Aggressor nach den Kämpfen seine Taten faktisch nachgesehen.
Unsere Vorstellung von Frieden geht heute weit über das Ende militärischer Gewalt hinaus. So steht hinter der Verfolgung von Kriegsverbrechen die Anerkennung der Opfer -ein enormer historischer Fortschritt. Aber in Serbien führte die Verfolgung der jugoslawischen Kriegsverbrechen zunächst zu einem enormen Solidarisierungseffekt mit den in Den Haag angeklagten Kriegsverbrechern. Man muss sich jedenfalls bewusst sein, dass Gerechtigkeit als Ziel der Friedensgestaltung einen langen Atem braucht und ein Prozess ist, der in den ersten Jahren Friedensprozesse auch belasten kann.

Was heißt das für künftige Friedensverhandlungen?
Unsere Ansprüche an den Frieden sind seit dem 20. Jahrhundert immer größer geworden. Es geht nicht allein um die Abwesenheit kriegerischer Gewalt, sondern um Gerechtigkeit, Sicherheit, eine Perspektive für soziale und politische Stabilisierung in einer Generation. Gleichzeitig sind die Möglichkeiten, Frieden zu schaffen, an vielen Stellen begrenzter. Wir haben eine Vielzahl asymmetrischer Konflikte, Internationalisierung, eine Hybridisierung von ethnischer Gewalt, Elemente von Religions- und Bürgerkriegen, Verknüpfungen Terror, Kriminalität und Krieg. Gleichzeitig werden klassische Instrumente des Friedensschlusses häufig unterlaufen, um völkerrechtliche Normen und damit politische Selbstbindung zu vermeiden. Diese Kluft zwischen dem Sagbaren, dem Wünschbaren und dem Machbaren wird tendenziell größer -auch weil unsere Welt in einer Weise wie nie zuvor in der Geschichte medial integriert ist. Menschen können praktisch in Echtzeit überall Zeuge davon werden, wie Frieden vermittelt wird, was er leistet, wo er scheitert.

Und können von Trollen im Internet beeinflusst werden.
Ganz genau. Bei den Friedensverhandlungen in Paris 1919 waren Hunderte von internationalen Journalisten akkreditiert. Es gab Ansätze eines "embedded journalism", ein bewusstes Durchstechen von Informationen. Auch diese Instrumentalisierung der Öffentlichkeit belastete die Friedenskonferenz - ganz anders als 1648 oder 1815. Wir können nur ahnen, mit welcher medialen Aufmerksamkeit Friedensverhandlungen in der Ukraine oder im Nahen Osten begleitet würden. Da wird es viel diplomatische Erfahrung brauchen, um Kommunikation zu ermöglichen und Vertrauen entstehen zu lassen.

»Putin beobachtet die Polarisierung der westlichen Gesellschaften und wird keinerlei Konzessionen vor der US-Wahl machen«

Worauf müssen wir uns also einstellen, was diese Kriege betrifft?
Solange es im Nahen Osten nicht zu einer Internationalisierung des Konflikts kommt, nicht zu einer zweiten Font und einer Involvierung des Iran, existiert eine Chance für Vermittler, sobald die gegenwärtige Phase der Abschreckung und Vergeltung aus israelischer Sicht abgeschlossen ist. Dann muss man glaubwürdige Vertreter der Palästinenser stärken, mit denen man verhandeln will. So wie die Amerikaner und Briten 1919 in Paris argumentierten, dass man die neue demokratische Regierung der Weimarer Republik stärken müsse, weil ein Bürgerkrieg in Deutschland den Frieden noch schwieriger mache. Die Ukraine wird auf einen Abnutzungskrieg setzen, der Putin erkennen lässt, dass er auf dem Schlachtfeld auch langfristig nichts gewinnen kann. Das setzt aber ganz entscheidend voraus, dass der Westen sehr viel deutlicher als bislang die Ukraine unterstützt. Und hier wächst meine Skepsis. Denn Putin beobachtet genau die Polarisierung der westlichen Gesellschaften, und er wird keinerlei Konzessionen vor einer US-Wahl machen, wenn am Ende Donald Trump im Weißen Haus sitzen könnte. Was würde dann in Osteuropa, was in den USA passieren? Darauf braucht Europa rasch eine politische Antwort.

Die sich nicht abzeichnet.
Die Resilienz des Westens wird eine zentrale Herausforderung in den kommenden Monaten sein. Dazu gehört, dass in Demokratien permanent über außenpolitische Fragen gestritten wird. Es gibt keine Welt mehr, in der die Außenpolitik noch eine Sache der Könige und Diplomaten ist. Zur Demokratie gehören die permanente Meinungsbildung und die Kontroverse in einer breiten Öffentlichkeit.

Außenpolitik ist zudem oft von innenpolitischen Zielen beeinflusst.
So ist es, und das ist zugleich ein Faktor, mit dem Putin kalkuliert. Trotzdem gibt es noch immer die Chance, die Ukraine so stark zu machen, dass sie diesen Krieg nicht verliert, dass sie Souveränität und territoriale Integrität wieder herstellt. Wir dürfen uns keine Illusionen machen: Ein Erfolg Putins hätte katastrophale Konsequenzen für jeden Versuch einer regelbasierten Außenpolitik. Wir sehen das schon in Lateinamerika, zwischen Guyana und Venezuela, wir sehen es zwischen Aserbaidschan und Armenien, und auch China wird sehr genau beobachten, wie weit es mit Taiwan gehen kann. Die Rückkopplungseffekte einer erodierenden regelbasierten Außenpolitik werden globaler Natur sein. Das muss allen klar sein, die jetzt Konzessionen fordern, damit dieser Krieg schnell endet.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 51+52/2023 erschienen.