Wie dieser Krieg enden kann

Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht, sagt der Militäranalyst Franz-Stefan Gady. Trotzdem müsse der Westen die Ukraine weiter unterstützen. Rufe nach der Einstellung von Waffenlieferungen hält er für moralisch fragwürdig: "Es ist ungefähr so, wie wenn man Zeuge einer Vergewaltigung wird, aber aus Angst vor dem Täter nicht einschreitet"

von Wie dieser Krieg enden kann © Bild: Andriy Onufriyenko/Getty Images

Wie lange wird der Krieg in der Ukraine noch dauern?
Das kann kein seriöser Analyst beantworten. Aus militärischer Perspektive haben beide Seiten noch militärische Optionen. Es wird keiner der beiden Seiten die Munition in nächster Zeit ausgehen, es werden keiner der beiden Seiten die Soldaten in naher Zukunft ausgehen und es wird keiner der beiden Seiten das Kriegsmaterial ausgehen. Insofern kann dieser Konflikt noch einige Zeit dauern. Ich würde sagen, die Frage ist eigentlich: An welchem Zeitpunkt findet die politische Führung, dass dieser Konflikt lang genau gedauert hat? Jeder zwischenstaatliche Krieg ist eine politische Entscheidung, und die politische Ebene wird diesen Krieg auch beenden. Auf militärischer Ebene kann man nur günstigere Verhandlungspositionen erreichen. Derzeit haben beide Seiten noch Interesse, diesen Krieg fortzusetzen.

Es kursieren drei Szenarien. Die Ukraine gewinnt den Krieg, Russland gewinnt den Krieg oder es kommt zu einem blutigen Patt. Welches halten Sie für am realistischsten?
Diese drei Szenarien sind alle Strohmann-Szenarien. Ich würde keines dieser Szenarien in einer seriösen Analyse verwenden. Es sind zu simple Zusammenfassungen eines sehr komplexen Themas.

Keines davon wird eintreten?
Ich kann die Zukunft nicht voraussagen. Möglicherweise gibt es irgendeine hybride Mischung dieser drei Szenarien. Ich möchte mich auf keine Spekulationen einlassen. Aber, wie gesagt, beide Seiten haben das Potenzial, die Frontlinien zu verschieben und diesen Krieg fortzusetzen. Für die Ukraine könnte es zum Problem werden, dass die politische und militärische Unterstützung aus dem Westen nachlässt, wenn sich dort das Narrativ breitmacht, dass es zu einer Pattsituation kommt und damit die Sinnlosigkeit dieses Krieges demonstriert scheint. Das ist aber ein großer Fehler. Denn letztendlich ist eine Pattsituation für die Ukraine ja nicht ungünstig. Es würde bedeuten, dass sie einen Großteil ihres Territoriums gegen die Großmacht Russland verteidigen konnte. Am Verhandlungstisch begünstigt eine Pattsituation die Ukraine wahrscheinlich. Solange die westliche Unterstützung aufrecht bleibt.

Franz-Stefan Gady
© Privat Militäranalyst Franz-Stefan Gady

In Deutschland - aber auch in Österreich - werden Stimmen immer lauter, man möge Friedensverhandlungen forcieren, anstatt mit Waffenlieferungen eine Eskalation des Konflikts zu provozieren, "eine Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg" nennen es Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht in ihrer kürzlich gestarteten Petition. Würde in der Ukraine Frieden einkehren, wenn der Westen seine Waffenlieferungen einstellt?
Nein. Erstens, diese Petition, die Sie angesprochen haben, hat nichts mit der Ukraine an sich zu tun. Sondern ausschließlich mit einem gewissen Antiamerikanismus, bei dem Profiteure dieses Krieges an der Wall Street gesucht werden und auch antisemitische Untertöne nicht weit entfernt sind. Das ist bei der extremen Linken und bei der extremen Rechten im deutschsprachigen Raum traditionell immer vorhanden, gepaart mit Systemkritik. Das gibt es, seitdem die USA im 20. Jahrhundert Weltmacht geworden sind, teilweise schon früher. Solche Appelle haben nichts mit dem Krieg in der Ukraine zu tun. Die Ukraine wird nur missbraucht, um dieser Art des Antiamerikanismus zu frönen.

Dazu kommt der Vorwurf der Täter-Opfer-Umkehr.
Es ist ungefähr so, wie wenn man Zeuge einer Vergewaltigung wird, aber aus Angst vor dem Täter nicht einschreitet. Und dem Opfer auch noch zuredet, sich nicht zu wehren, damit die Vergewaltigung schneller zu Ende geht. Nichts weiter ist die Idee, dass der Krieg durch den Stopp von Waffenlieferungen beendet werden könnte, auf moralischer Ebene. Nein, es würde nur den Vergewaltiger begünstigen, und das ist keine Basis für zwischenmenschliches Zusammenleben und auch keine Basis für zwischenstaatliche Koexistenz. Das finde ich einfach übel. Und, der letzte Punkt: Sollte es ein Ende der Waffenlieferungen geben, würde sich dieser Krieg von der konventionellen Ebene auf die subkonventionelle Ebene verlagern, sprich, man würde in einen Guerillakrieg abgleiten, der mit großer Wahrscheinlichkeit noch verlustreicher, brutaler und schrecklicher geführt werden würde. Die Ukraine wird sich nicht ergeben, ob es jetzt westliche Waffenlieferungen gibt oder nicht.

Eine rasche politische Opferung der Ukraine würde das Leiden nicht beenden, meinen Sie?
Davon gehe ich aus. Wir in Europa haben kein Verständnis für die Logik und den Charakter des Krieges an sich. Wir haben uns so auf unsere friedliche Koexistenz konzentriert - immer unter dem Schutzschirm der Waffen der USA bzw. der Nato - dass wir beschlossen haben, mit militärischer Macht nichts mehr zu tun haben und alles gewaltfrei ausverhandeln zu wollen. Aber das entspricht nicht den Tatsachen der Geschichte, und es entspricht nicht der menschlichen Natur. Krieg ist eine Tatsache. Krieg wird es auch in Zukunft immer wieder geben. Krieg dient der Umsetzung politischer Ziele. Im konkreten Fall ist er ein Instrument der russischen Politik, um die Ukraine in ihrer Einflusssphäre zu halten. Das hat nichts damit zu tun, dass vielleicht in ein paar Monaten eine Pattsituation kreiert wird und es zu Friedensverhandlungen kommt. In einen Krieg wird man von einem Sog hineingezogen, den man als Staatsmann nur sehr schwer kontrollieren kann. Das Wichtigste ist, sich in einem Krieg militärisch so günstig zu positionieren, dass man in Verhandlungen eine bessere Position hat. Das klingt brutal, ist aber die Wahrheit.

»Krieg ist eine Tatsache. Krieg wird es auch in Zukunft immer wieder geben«

Was macht das mit Putins Ambitionen, wenn er jetzt merkt, er kommt mit seinem Angriff auf die Ukraine relativ leicht durch?
Er kommt ja nicht leicht damit durch. Er spürt natürlich die konventionelle Schwäche der russischen Streitkräfte. Obwohl sie sich in diesem Krieg adaptieren und die russische Armeeführung eine Strategie entwickelt zu haben glaubt, wie sie diesen Krieg fortführen oder sogar erfolgreich beenden kann. Das beinhaltet natürlich die bereits erwähnte Informationskriegsführung, dass man also alle Leute, die jetzt das Ende der Waffenlieferungen fordern - ob das die FPÖ ist oder die Linken in Deutschland - indirekt unterstützt.

Wie kann man sich diese Unterstützung genau vorstellen?
Was Putin und diese ganzen anderen Gruppierungen vereint, ist ein Hass auf die Nato. Man streut also ganz gezielt Informationen, die von diesen Leuten aufgegriffen werden. Ich unterstelle niemandem, dass er ein Agent Putins ist oder von ihm Geld bekommt. Aber sie sind Opfer der russischen Informationskriegsführung und lassen sich als nützliche Idioten einspannen, indem sie alle möglichen antiamerikanischen Sentiments aufgreifen - die Amerikaner als Spalter Europas, die US-Rüstungsindustrie als großer Profiteur -, aber nicht sehen, dass die Amerikaner eigentlich null Interesse haben, diesen Krieg in Europa zu führen, weil sie sich auf Ostasien konzentrieren wollen.

Aber von den Flüssiggaslieferungen profitieren die USA, oder?
Auf wirtschaftlicher Ebene selbstverständlich. Aber es ist keine Neuigkeit, dass die Reduzierung der russischen Gaslieferungen in westlichem Interesse liegt. Diese Absicht besteht seit Jahrzehnten. Weil die Einnahmen aus Gas in Putins Kriegskasse fließen und er so überhaupt erst in der Lage war, diesen Angriffskrieg zu starten. Ja, natürlich profitieren auch europäische Unternehmen von dem Krieg. Aber heißt das dann, dass Rheinmetall Interesse am Ausbruch dieses Krieges hatte, weil Rheinmetall jetzt von der Aufrüstung profitiert? Es gibt genug Rüstungsaufträge in den USA und auch in Europa, die diese Industrien gar nicht erfüllen können, weil die Kapazitäten nicht vorhanden sind. Die profitableren Aufträge liegen außerdem bei Waffensystemen, die bei einem zukünftigen Konflikt in Ostasien zum Einsatz kommen würden, nicht in der Ukraine, weil es sich um modernere Kriegstechnologien handelt. In der Hinsicht muss man wirklich Nuancen hineinbringen.

Wer profitiert dann von diesem Krieg?
In jedem Krieg gibt es Gewinner und Verlierer, und die Karten mischen sich oft neu.

FPÖ-Chef Herbert Kickl behauptet gerne, wäre er Kanzler, er hätte sich bemüht, zu Friedensverhandlungen in Wien zu laden. Ist an diesem Szenario irgendetwas realistisch?
Nein, absolut nicht, und das ist auch kein ehrliches Angebot, das ist billige Rhetorik. Und ein klassisches Beispiel für eine Fortsetzung der eigenen Interessenpolitik. Man will damit indirekt beide Seiten als Kriegstreiber abstempeln. Schauen Sie, es wird früher oder später Friedensverhandlungen geben. Bevor diese Verhandlungen stattfinden, muss die militärische Situation für die Ukraine so günstig wie möglich sein. Und so brutal das klingt und so eine mörderische Arithmetik dahintersteht: Das bedeutet möglicherweise Tausende, Zehntausende zusätzliche Opfer, die die Ukraine aber gewillt ist zu bringen. Wenn Russland sich irgendwann zumindest teilweise zurückzieht und ehrlich in Verhandlungen geht, dann - selbstverständlich - könnte Wien ein Ort sein, an dem sich die Parteien zu Verhandlungen treffen. Aber nicht in dem Sinne, den dieser Politiker, den Sie erwähnt haben, gemeint hat. Er möchte nur das Narrativ unterstützen, dass beide Seiten gleich schuldig sind. Für mich ist das nichts anderes als das Vergewaltigungsszenario, von dem ich vorher gesprochen habe.

Wie viel militärische Unterstützung braucht die Ukraine noch, damit es zu dem Szenario kommen kann, das Sie gerade skizziert haben? Das kann man nicht pauschal sagen.
Das kann man nicht pauschal sagen.

Ganz grob: ein Vielfaches dessen, was schon geliefert wurde? Oder reicht es, wenn die Unterstützung ungefähr gleich bleibt?
Was zu sagen ist: Die Unterstützung muss weitergehen so wie bisher, vielleicht in größerem Ausmaß. Die Ukraine braucht nach wie vor Flugabwehrsysteme, sie braucht gepanzerte Fahrzeuge, Munition aller Kaliber und aller Art, sie braucht nachrichtendienstliche Unterstützung und Unterstützung für die Gefechtsfeldaufklärung. Hier müssen die Kapazitäten in den USA und in Europa vergrößert werden, was zum Beispiel die Munitionsproduktion betrifft. Das ist nicht nur für die Ukraine wichtig, das ist auch für unsere eigene Verteidigungsfähigkeit im Ernstfall enorm wichtig. Das hätte auch ohne Krieg in der Ukraine längst stattfinden sollen. Die Ukraine braucht weiterhin stetige Unterstützung. Die westlichen Waffenlieferungen sind die Lebenslinie für die Ukrainer. Was die Kampfpanzer betrifft, ist die Diskussion der militärischen Realität in der Ukraine etwas entsprungen. Ich hätte sie nicht als Priorität Nummer eins gesehen. Selbstverständlich sind diese Systeme wichtig, es gibt aber andere Prioritäten, was Schützenpanzer und Flugabwehrsysteme und vor allem die Munition betrifft.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat kürzlich betont, Österreich sei nur militärisch neutral, nicht aber, was die Haltung betrifft. Zugleich bezieht Österreich aktuell aber wieder 70 Prozent Erdgas aus Russland. Wie neutral ist Österreich tatsächlich?
Im Englischen gibt es den Ausdruck "having your cake and eating it too". Das heißt, man will irgendwie beide Seiten bedienen. Ich glaube, in dieser Phase des Krieges zählt für die Ukraine nur eines, und das ist die Unterstützung mit westlicher Munition, Waffensystemen oder Gefechtsfeldaufklärung. Österreich unterstützt die Ukraine in keinem dieser drei Punkte. Natürlich, auf wirtschaftlicher und auf EU-Ebene bringt sich Österreich ein, das ist auch begrüßenswert, aber im Moment sekundär. Ich hätte mir ein bisschen mehr Mut von der österreichischen Bundesregierung gewünscht, zum Beispiel die Teilnahme an einer gemeinsamen EU-Trainingsmission für ukrainische Soldaten. Ich hätte mir auch vorstellen können, dass ukrainisches Personal auf österreichischem Boden ausgebildet wird. Das ist alles vereinbar mit unserer jetzigen Konzeption der Neutralität. In der Hinsicht möchte ich noch einmal unterstreichen, was in Österreich Neutralität bedeutet, nämlich vor allem keinen Beitritt zur Nato. Sonst nichts. Und unser Bundesheer würde von einem Austausch mit den Ukrainern ja auch profitieren.

ZUR PERSON

Der aus der Steiermark stammende Franz-Stefan Gady ist Politikberater und Analyst am Institute for International Strategic Studies (IISS) in London. Er berät Regierungen und Streitkräfte in Europa und den USA. Davor war er u. a. am EastWest Institute (New York) tätig.

Gady ist einer von 90 Unterzeichnern eines offenen Briefs, in dem die österreichische Bundesregierung dazu aufgefordert wird, sicherheitspolitische Fragen ernster zu nehmen und sich zu überlegen, "welche pragmatischen Schritte unser Land besser schützen können". Weitere Unterstützer: Irmgard Griss, Emil Brix, Veit V. Dengler, Othmar Karas, Robert Menasse, Herbert Scheibner.

Dieses Interview erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 8/2023.