Die Ausrufung einer Hungersnot basiert auf streng festgelegten Parametern. Experten sehen diese in Gaza bisher nicht erfüllt.
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Die Bilder aus dem Gazastreifen sind schockierend, die Lage der Menschen entsetzlich. Der deutsche Außenminister Johann Wadephul spricht inzwischen von einer „Hungersnot“ in dem von Israel abgeriegelten Küstenstreifen. Internationale Experten für Ernährungssicherheit sehen die Kriterien dafür bisher allerdings nicht erfüllt.
Was ist eine Hungersnot?
Eine Hungersnot ist ein seltenes und extrem dramatisches Ereignis. Ihre Ausrufung basiert auf streng festgelegten Kriterien. Diese sind von Experten der 2004 gegründeten IPC-Initiative (Integrated Food Security Phase Classification) definiert. In der IPC-Skala gibt es fünf Stufen der Ernährungslage in einem Land oder einer Region. Die allerhöchste – und schlimmste – ist Stufe fünf: „Katastrophe/Hungersnot“. Darunter spricht man von Hungerkrisen.
Wie sehen Experten die Lage im Gazastreifen?
Aktuell gilt für den gesamten Gazastreifen die Stufe vier auf der IPC-Skala („Emergency/Notfall“). Das bedeutet unter anderem, dass nach IPC-Einschätzung viele betroffene Haushalte nicht genug zu essen haben. Das schlägt sich in sehr hoher akuter Unterernährung und überhöhter Sterblichkeit nieder. In dieser Phase ist laut IPC Nothilfe mit Nahrungsmittellieferungen nötig, damit Menschen nicht an Unterernährung sterben.
Phase fünf setzt formell einen extremen Mangel an Nahrungsmitteln, akute Unterernährung und eine bestimmte Zahl hungerbedingter Todesfälle voraus. Die Experten von IPC warnten zuletzt, dass die ersten beiden Kriterien zumindest in Teilen des Gazastreifens bereits erfüllt werden – extremer Mangel an Nahrungsmitteln praktisch in den meisten Teilen des Gazastreifens und akute Unterernährung in Gaza-Stadt.
Wann wird eine Hungersnot ausgerufen?
Für die Einstufung als Hungersnot müssen drei Kriterien gleichzeitig erfüllt sein:
Mindestens 20 Prozent der Haushalte einer Region sind von einem extremen Lebensmittelmangel betroffen;
Mindestens 30 Prozent der Kinder leiden unter akuter Mangelernährung;
Täglich sterben mindestens zwei Erwachsene oder vier Kinder pro 10.000 Einwohner an Hunger oder aufgrund des Zusammenspiels von Unterernährung und Krankheit.
Was passiert, wenn nicht genügend Daten vorliegen?
Wenn eine unabhängige Datenerhebung nicht oder nur eingeschränkt möglich ist, kann für eine Region auch eine Hungersnot mit hinreichenden Beweisen erklärt werden. Dabei sind für zwei der drei oben genannten Kategorien eindeutige Hinweise erfüllt; für den dritten ziehen Analysten Hinweise aufgrund der Gesamtlage heran.
Ein Beispiel hierfür ist der Gazastreifen. Die UNO-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) hat elf Mitarbeiter vor Ort, die bei jeder IPC-Erhebung Unterstützung leisten. Dennoch fehlen aktuell aufgrund der eingeschränkten Zugangsmöglichkeiten und den von der Hamas kontrollierten Behörden unabhängige, umfassende Daten.
Wer ruft eine Hungersnot offiziell aus?
Grundsätzlich erstellen die IPC-Experten die fachliche Einschätzung. Die offizielle Ausrufung liegt „in der Verantwortung entweder der Regierung und des Staates selbst oder von autorisierten Institutionen“ wie etwa UNO-Vertretern, erklärt der FAO-Vertreter Abdulhakim Rajab Elwaer der dpa.
Wann wurde zuletzt eine Hungersnot ausgerufen?
In den vergangenen 15 Jahren wurden nach IPC-Angaben vier Hungersnöte bestätigt: 2011 in Somalia, 2017 und 2020 im Südsudan und zuletzt 2024 im Sudan.
Wie sieht Israel die Lage im Gazastreifen?
Ministerpräsident Benjamin Netanyahu sagte jüngst: „Es gibt keine Politik des Aushungerns im Gazastreifen, und es gibt keinen Hunger im Gazastreifen.“ Auch andere israelische Politiker betonen stets, dass es keine Hungersnot in dem abgeriegelten Küstenstreifen gebe.
Israel wirft der Hamas vor, Hilfsgüter abzuzweigen. Ein weiterer Vorwurf lautet, dass voll beladene Lastwagen an der Gaza-Grenze stünden, Hilfsorganisationen sie aber nicht verteilten. Die Organisationen wiesen dies zurück.
Nach zunehmender internationaler Kritik angesichts der dramatischen Versorgungslage im Gazastreifen lässt Israel seit vergangener Woche wieder größere Hilfslieferungen auf dem Landweg in das Küstengebiet und erlaubt auch Abwürfe aus der Luft.