"Viele sind unfähig, Israel als Opfer zu akzeptieren"

Das Massaker vom 7. Oktober hat gezeigt, wie tief Antisemitismus in der österreichischen Gesellschaft verwurzelt ist. Warum ist das so? Wo verläuft die Grenze zwischen antisemitischen Vorurteilen und legitimer Kritik am Staat Israel? Fragen an die Antisemitismus-Forscherin Helga Embacher.

von Israel Fahne © Bild: Oded Balilty / AP / picturedesk.com

Frau Professor, ich möchte mit einer Frage beginnen, die, glaube ich, nur vordergründig banal ist: Was ist Antisemitismus?
Es ist tatsächlich eine komplexe Frage. Ich würde Antisemitismus definieren als Vorurteil, Stereotype gegen Jüdinnen und Juden und auch gegen Menschen, die man als Juden definiert, sowie gegen jüdische Einrichtungen. Juden werden dabei negative rassische Merkmale zugeschrieben, sie gelten als geizig, reich, rachesüchtig, unpatriotisch. Es ist natürlich auch antisemitisch, den Holocaust zu leugnen oder zu verharmlosen. Und vor allem dient Antisemitismus als Welterklärung, und zwar in Form einer Weltverschwörung. Grob gesprochen würden "die Juden" demnach mit bösen Mächten in Verbindung stehen und aufgrund ihrer Macht und ihres Einflusses im Hintergrund die Strippen für das Weltgeschehen ziehen, wie Marionettenspieler, heimlich und zum eigenen Vorteil. Dazu kommt das spezielle Problem des israelbezogenen Antisemitismus, den man sehr oft daran erkennt, dass bekannte antisemitische Stereotype in die Kritik an Israel miteinfließen, Israels Politik mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt und damit dämonisiert wird. Besonders gefährlich ist es in einer aufgeheizten Situation wie derzeit, Juden kollektiv für die Politik Israels verantwortlich zu machen.

Es gibt Menschen, die ohne ein Wort des Mitgefühls für die Opfer des 7. Oktober erst einmal lang und breit die Verfehlungen Israel aufzählen, wenn es um das Thema Nahostkonflikt geht. Ist das schon Antisemitismus?
Sehr häufig ist es tatsächlich so, dass viele unfähig sind, Israel – und selbst israelische Zivilisten, Frauen und Kinder – als Opfer zu akzeptieren. Das hat damit zu tun, dass sich durch die vielen Konflikte der letzten 20 Jahren das Feindbild Israel sehr verhärtet hat, ähnlich wie beim Antiamerikanismus nach 9/11. Damals ist es vielen auch schwergefallen zu akzeptieren, dass die Amerikaner Opfer sind. Reflexartig wurde die amerikanische Außenpolitik und insbesondere die Nähe zu Israel als Ursache festgemacht. Es wäre auch nach dem Massaker vom 7. Oktober angebracht gewesen, zumindest die israelischen Zivilisten als Opfer anzuerkennen und Israel grundsätzlich ein Recht auf Verteidigung zuzugestehen. Aber es ist nicht per se Antisemitismus, wenn man auch Empathie mit palästinensischen Opfern zeigt.

Zeigt die aktuelle Situation nicht, dass legitime Kritik an Israel und Antisemitismus tatsächlich sehr schwer zu trennen sind?
Ja, es ist in manchen Fällen schwer, eine klare Grenze zu ziehen. Man kann Antisemitismus zwar zumeist als solchen erkennen, dennoch bewegen wird uns manchmal in Grauzonen, und es hängt auch vom politischen Standort ab. Auch in Israel und in jüdischen Communities wird über die Grenzziehung zwischen Antisemitismus und legitimer Kritik an Israels Politik mitunter sehr heftig diskutiert.

Antisemitismus-Forscherin Helga Embacher
© Neumayr / picturedesk.com
Ao. Univ.-Prof. Dr. Helga Embacher (*1959 in Bischofshofen) ist Zeithistorikerin im Fachbereich Geschichte an der Universität Salzburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen jüdische Geschichte, Nationalsozialismus, Antisemitismus. Gemeinsam mit Bernadette Edtmaier und Alexandra Preitschopf brachte sie 2019 das Buch "Antisemitismus in Europa. Fallbeispiele eines globalen Phänomens" heraus.

Antisemitismusvorwürfe werden in der aufgeheizten Stimmung, die wir gerade erleben, auch rasch formuliert. Manchmal zu rasch?
Die Gesellschaft ist derzeit so hoch emotionalisiert, dass der Antisemitismusvorwurf sicher manchmal viel zu schnell erfolgt, oft aber auch gerechtfertigt ist. Antisemitismus wird zudem von unterschiedlichen Seiten politisch instrumentalisiert, auch jetzt wird wieder damit politisches Kleingeld geschlagen.

Die Klimaprotest-Ikone Greta Thunberg zum Beispiel hat sich mehrfach propalästinensisch geäußert, heftig kritisiert wurde ein Foto, auf dem sie sich mit einer Stofftier-Krake – potenziell ein antisemitischer Code für die globale Allmacht der Juden – abbilden ließ. Ist der Aufschrei gerechtfertigt?
Für mich hat sich dieses Problem schon angekündigt. Vor allem in den USA haben Teile von BlackLivesMatter, der LGBTQ Community oder des intersektionalen Feminismus bereits den Israel/Palästina-Konflikt als einzigen politischen Konflikt herausgegriffen, sich mit den Palästinensern solidarisiert und Zionismus verurteilt. Eine Parteinahme für Palästina ist zumindest in Teilen dieser Bewegungen ein Identitätsmarker, ein Code dafür, auf der richtigen Seite zu stehen. Die Frage hinsichtlich der Krake ist ein interessantes Beispiel. Der Krake wurde zwar seit dem 19. Jahrhundert und insbesondere von den Nationalsozialisten als Symbol für eine jüdische Weltherrschaft verwendet, kommt aber in Cartoons auch ohne antisemitischen Bezug für Kapitalismuskritik vor. Eindeutig antisemitisch wäre es, wenn das Stofftier z.B. mit einem Davidstern oder anderen jüdischen Symbole versehen worden wäre. Ob Thunberg den Kraken bewusst als Code für eine antisemitische Verschwörung verwendet hat und das von den Followern auch als solche erkannt wurde, ist schwer zu beweisen. Wir bewegen uns hier jedenfalls in einer Grauzone

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Das, was Sie gerade beschrieben haben, wird aktuell als "linker Antisemitismus" diskutiert. Ist das eine neue Entwicklung?
Sagen wir lieber Antisemitismus im linken Spektrum, "die Linke" gibt es ja nicht. Nein, das ist kein neues Phänomen. In Österreich können wir es seit den 1970er-Jahren beobachten, es hängt mit der israelischen Besatzungspolitik nach dem Sechstagekrieg von 1967 zusammen. Besonders stark aus geprägt war Antisemitismus unter Linken auch in Deutschland, aber auch in Frankreich und Großbritannien, was vor allem mit der Kolonialgeschichte diese Länder zu tun hat. Wie wir derzeit zum Beispiel auf Pro-Israel-Demonstrationen sehen, sind manche Aktivisten und Aktivistinnen der 1980er Jahre nach wie vor aktiv. Ein prominentes Beispiel dafür ist Jeremy Corbyn, der als britischer Labour-Vorsitzender eine heftige Antisemitismus-Diskussion ausgelöst hat und wenig Distanz zum radikalen Antizionismus zeigt. Dazu kommen jetzt neue Generationen, die ihren Fokus auf den Postkolonialismus und vor allem auf Antirassismus legen. Daraus wird teilweise abgeleitet, dass Juden mittlerweile erfolgreich und somit weiß sind. Antisemitismus gilt nur mehr als eine Art Unterkategorie von Rassismus und hat aufgrund der jüdischen Erfolgsgeschichte mehr oder weniger seine Bedeutung verloren. Dieses Modell wird auch auf Israel übertragen, das als weiß und kolonialistisch verurteilt wird, während man sich mit den "schwarzen" Palästinensern solidarisiert. Es ist ein sehr widersprüchliches und einseitiges Modell.

»Radikale Linke stellen die Gründung Israels oft verzerrt und verkürzt dar«

Und sehr verkürzt, in Hinblick auf Israels Geschichte, die doch auch wesentlich mit der Verfolgung der Juden in Europa zusammenhängt, oder?
Es ist sehr, sehr verkürzt. Radikale Linke stellen auch die Gründung Israels oft verzerrt und verkürzt als Genozid und kolonialistischen Landraub dar, der Kontext wird dabei völlig ignoriert. Sie erwähnen nicht, dass der Zionismus in Europa im späten 19. Jahrhundert als Antwort auf Antisemitismus und Pogrome in Osteuropa entstanden ist und hinsichtlich der Staatsgründung dem Holocaust eine besondere Rolle zukommt. Und es bleibt ausgeklammert, dass die arabischen Staaten 1947 den UN-Teilungsplan ab gelehnt haben und keineswegs für einen palästinensischen Staat eingetreten sind.

Bevor wir ausführlicher über Antisemitismus in diversen gesellschaftlichen Nischen sprechen, wie steht es um den Antisemitismus in der Breite der österreichischen Gesellschaft? Handelt es sich um eine kulturelle Konstante, wie viele Forscher glauben?
Unterschiedlichen Umfragen zufolge neigen in Österreich über einen längeren Zeitraum hinweg etwa 25 Prozent der Befragten zu antisemitischen Vorurteilen, etwa zehn Prozent sind manifest antisemitisch. Österreich liegt dabei verglichen mit anderen europäischen Ländern im Mittelfeld. Man müsste sich die Ergebnisse aber differenzierter an schauen. In den von der österreichischen Parlamentsdirektion seit 2018 in Auftrag gegebenen Studien wird zum Beispiel nicht nach Parteizugehörigkeit unterschieden, was ich sehr spannend fände. Auch eine Trennung nach den Geschlechtern wäre insbesondere auch bei den befragten Muslimen interessant. Als positiver Trend zeichnet sich ab, dass jüngere und gebildetere Menschen weniger antisemitische Vorurteile aufweisen. Umfragen sind allerdings auch kritisch zu betrachten, sie sind Momentaufnahmen und vom jeweiligen politischen Kontext abhängig, liefern aber dennoch gewisse Anhaltspunkte.

Handelt es sich bei den Einstellungen dieser 20 Prozent um Überbleibsel aus der Nazizeit? Den Einfluss christlichen Antisemitismus?
Den traditionellen christlichen Antisemitismus würde ich mittlerweile als geringes Problem betrachten. Die Gesellschaft ist mittlerweile sehr säkularisiert, und die katholische Kirche hat sich diesbezüglich um Aufklärung bemüht. Ritualmord-Legenden können viele junge Menschen gar nicht mehr als solche erkennen, auch der Vorwurf des Gottesmordes berührt viele wenig. Der rassische oder moderne Antisemitismus findet sich eher im rechtsextremen und rechtspopulistischen Milieu, wobei sich Rechtpopulisten weniger direkt äußern als Rechtsextreme. Was sich sehr konstant gehalten hat und eine zentrale Eigenschaft des modernen Antisemitismus seit dem 19. Jahrhundert darstellt, sind die bereits erwähnten antisemitische Verschwörungsmythen. In unterschiedlichen Umfragen stimmen 30 bis 40 Prozent der Befragten der Aussage zu, "dass Juden die internationale Geschäftswelt oder den internationalen Finanzmarkt beherrschen" würden.

Warum wabern diese Erzählungen immer weiter fort? Warum werden nicht andere Gruppen verantwortlich gemacht?
Diese Erzählungen lassen sich leicht an neue politische Entwicklungen anpassen. Antisemitische Verschwörungserzählungen werden von unterschiedlichen Seiten aber auch bewusst instrumentalisiert Von Orbán "erfunden", ist mit der Corona-Pandemie beispielsweise George Soros, ein ungarischer Holocaustüberlebender, Investor und Philanthrop, sehr schnell weltweit zu einer Art Code für eine jüdische Weltverschwörung geworden. Soros wird beispielsweise unterstellt, mit seinem vielen Geld bewusst 2015 die Fluchtbewegung initiiert zu haben, um das christliche Europa zu zerstören.

Es gibt auch sehr viele Superreiche, die nicht jüdisch sind.
Natürlich. Aber Juden wird Reichsein offensichtlich als negative Eigenschaft angekreidet, während man selbst vielleicht auch gerne reich wäre. Vor allem unterstellt man ihnen seit Jahrhunderten, den Reichtum mit unlauteren Mitteln erworben zu haben. Man ignoriert damit natürlich die Heterogenität des Judentums. Es ist insgesamt ein großes Problem des Antisemitismus, dass Juden und Israel sehr selektiv wahrgenommen werden, so, wie es gerade ins jeweilige Weltbild passt.

Im Bereich des rechten Antisemitismus erleben wir das interessante Phänomen, dass sich rechte oder rechtspopulistische Parteien in ganz Europa auf die Seite Israels gestellt haben. Auch die FPÖ. Können Sie das erklären?
Die FPÖ ist eines der interessantesten Beispiele für dieses Andienen an Israel. Interessanterweise ist die FPÖ 2006 beim Libanonkrieg noch auf der Seite der Hisbollah gestanden. Im Gazakrieg 2009 ergriff sie für die Hamas Partei. Und 2010 - für viele total überraschend - ist Strache mit anderen rechten bzw. rechtsextremen Parteien erstmals nach Israel gereist und hat der Partei einen radikalen Kurswechsel verordnet. Dabei wurde immer wieder Österreichs Verantwortung für seine Vergangenheit betont. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina wird dabei allerdings nicht mehr als ein Konflikt um Land gesehen, sondern völlig kontextlos reduziert auf einen Kampf zwischen dem Westen und dem Islamismus, der, wie es immer wieder hieß, derzeit größten weltpolitischen Bedrohung. Israel gilt in diesem Kampf als eine Art Vorposten Europas. Angedockt wird dabei bei rechten israelischen Parteien oder Vertretern der Siedlerbewegung.

»Die FPÖ will sich offenbar vom Vorwurf des Antisemitismus entlasten, Demokratiefähigkeit unter Beweis stellen und Islamfeindlichkeit rechtfertigen«

Was bringt dieser Schwenk der FPÖ?
Man will sich offensichtlich damit vom Vorwurf des Antisemitismus entlasten, die Demokratiefähigkeit unter Beweis stellen und die Islamfeindlichkeit rechtfertigen. Auch deshalb, da die Umfragewerte der FPÖ stark angestiegen sind und man auf eine Regierungsbeteiligung hinarbeitete.

In Ihrem Buch "Antisemitismus in Europa" halten Sie pointiert fest, man könne sich zu Israel bekennen und trotzdem Antisemit sein.
Pro-israelische Positionen immunisieren nicht unbedingt gegen Antisemitismus. Das sieht man ja gerade bei der FPÖ besonders gut. Einerseits wurde dieses völlig einseitige Israel- Bild propagiert, und man bemühte sich um österreichische Juden, während gleichzeitig antisemitische Liederbücher aufgetaucht sind und immer wieder von "Einzelfällen" die Rede war. Zudem wurden, auch von Strache selbst, antisemitische Verschwörungserzählungen verbreitet. Man sieht auch, wie schnell diese oberflächliche anti-antisemitische Haltung kippen kann. Als eine Kandidatin des "Team Strache" bei einer Corona-Demonstration "Soros muss weg, Rothschild muss weg, Rockefeller muss weg, Freimaurer müssen weg" skandiert hat, hat Strache sie verteidigt. Auch Kickl zeigte auf Corona-Demos keine Berührungsängste gegenüber Identitären, Rechtsextremen und Holocaust-Relativierungen. Auf Empfindungen von Juden und Jüdinnen wurde jetzt keine Rücksicht mehr genommen.

Kann man umgekehrt sehr israelkritische Positionen vertreten - oder sogar das Existenzrecht Israels infrage stellen - und nicht Antisemit sein?
Ich würde sagen, das findet man vor allem im linken Spektrum, dass man beispielsweise sehr problematische Positionen gegenüber Israel vertritt und schnell zu NS-Vergleichen greift, sich gleichzeitig aber intensiv mit dem Holocaust beschäftigt, gern österreichische jüdische Literatur liest oder begeistert Klezmer-Musik hört.

»Die Besatzungspolitik oder die massive Rechtsentwicklung in Israel wurden im öffentlichen Diskurs weitgehend ausgeklammert«

In Österreich hat sich die Regierung sehr stark mit Israel solidarisiert. Bleibt zu wenig Platz für Meinungsfreiheit?
Es wird derzeit oft übersehen, dass die Beziehungen zwischen Österreich und Israel lange sehr krisenhaft waren. Israel hat nach der Wahl von Waldheim und der Gründung der ÖVP/FPÖ-Koalition 2000 seinen Botschafter zurückgezogen. Die, wie es oft heißt, bisher "besten Beziehungen" wurden erst mit der 2018 installierten und auch international kritisierten türkis-blauen Koalitionsregierung aufgebaut. Hier ging es vor allem auch um eine Schadensbegrenzung. Das Problem, das ich sehe, ist, dass damit ein sehr selektives Israel-Bild verbreitet wurde, das sich zumindest in der öffentlichen Darstellung auf Schlagworte wie "einzige Demokratie im Nahen Osten","Österreichs Verantwortung für den Holocaust" oder "Staatsräson" beschränkte. Viele konnten sich darunter wenig Konkretes vorstellen. Die Besatzungspolitik oder die massive Rechtsentwicklung in Israel wurden im öffentlichen Diskurs hingegen weitgehend ausgeklammert, aber gerade daran macht sich israelbezogener Antisemitismus fest. Auch wenn betont wurde, dass Österreich an einer Zweistaatenlösung weiterhin festhalten würde, wurde nicht näher ausgeführt, wie diese noch umgesetzt werden könnte. Viele Menschen im linken, liberalen Milieu haben vor allem auch ihre Zweifel daran, ob diese pro-israelische Politik sich mit einer Politik vereinbaren lässt, die Koalitionen mit der FPÖ eingeht. Das heißt allerdings nicht, dass Österreich nicht nach wie vor Verantwortung für den Holocaust übernehmen und für Israels Existenzrecht eintreten soll.

Sie meinen, diese Politik wirkt nicht gegen Antisemitismus?
Auf alle Fälle zu wenig und es sind tiefgreifendere Maßnahmen notwendig. Der Antisemitismus ist in den letzten Jahren auch nicht zurückgegangen. Umfragen zufolge stimmen nach wie vor etwa 30 bis 40 Prozent der Befragten zu, dass "Israel die Palästinenser im Grunde genommen auch nicht anders als die Deutschen im Zweiten Weltkrieg die Juden" behandeln würde. In Deutschland bewegen sich diese Werte übrigens auf einem ähnlich hohen Niveau und weichen wie in Österreich von der offiziellen Israel-Politik ab.

Es ist in der aktuellen Situation also schwierig, Kritik gegen Israel zu äußern, die sich nicht Verdacht aussetzt.

In dieser Situation ist es tatsächlich schwierig. Es sehe es vor allem als eine große Herausforderungen, einen Spagat zu schlagen zwischen einer Parteinahme für Israel und Empathie mit den zivilen palästinensischen Opfern, ohne den Terror der Hamas zu verharmlosen und allzu schnell eine Opfer-Täter-Umkehr vorzunehmen.

Ein Begriff, der auch immer wieder in der Debatte auftaucht: Philosemitismus. Was ist das? Und ist es gut oder schlecht?
Da gibt es unterschiedliche Auffassungen und Definitionen. Ich würde kurz definieren: Philosemitismus ist ein einseitig positives Bild über Juden und Israel. Selektive Bilder von Juden und Israel, auch wenn sie wohlmeinend sind, sind sie insofern problematisch, da sie zu Enttäuschungen führen können, wenn sich Juden und Israel nicht so verhalten, wie es von ihnen erwartet wird.

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Der Elefant im Raum, auf den jetzt alle Schuld geschoben wird, ist der Antisemitismus unter Muslimen, wie Sie es übrigens nennen, anstatt von "muslimischem Antisemitismus" zu sprechen. Wie groß ist dieses Problem in Österreich?
Es ist insofern ein großes Problem, weil zumindest einige Muslime - vor allem aus dem arabischen Raum - Antisemitismus auf der Straße auch offen zum Ausdruck bringen und dabei Grenzen überschreiten. Es geht nicht, dass "Tod den Juden" gerufen wird und österreichische Juden verängstigt und sogar angegriffen werden. Hier muss man sich auch in Erinnerung rufen, dass Islamisten Juden in Frankreich und im jüdischen Museum in Brüssel bereits brutal ermordet haben. Und diese grausame Tat wurde mit Israels Unterdrückung der Palästinenser gerechtfertigt. Auch wenn die Situation in Österreich derzeit keineswegs mit Frankreich vergleichbar ist, befürchten Jüdinnen und Juden, dass diese Verhältnisse auch auf Österreich übergreifen könnten. Aber, gesamtgesellschaftlich betrachtet, beträgt die muslimische Bevölkerung nur etwa 8,5 Prozent und "muslimischer Antisemitismus" macht daher nur einen kleinen Teil des österreichischen Antisemitismus aus.

Inwiefern unterscheidet er sich qualitativ von rechtem, linkem oder einheimischem Verschwörungsantisemitismus?
Betrachtet man die antisemitischen Slogans auf Demonstrationen, so gibt es wenig Unterschiede. "From the river to the sea" oder "Kindermörder Israel" wird seit Beginn des 21. Jahrhunderts in der ganzen Welt auf Demonstrationen von Muslimen und Linken gerufen. Für die Identifikation mit den Palästinensern gibt es allerdings unterschiedliche Motive. In ehemaligen Kolonialländern wie Frankreich und Großbritannien identifizieren sich Linke oft mit den Palästinensern aus einer Art Schuldgefühl heraus für die eigene Kolonialgeschichte, in Österreich u. a. auch aufgrund des Rassismus und der starken Islamfeindlichkeit im eigenen Land. Linke sehen in den Palästinensern nicht nur Opfer, sondern auch ein Symbol für Widerstand und - weg von jeglichen realen Begebenheiten -eine Hoffnung für die Errichtung eines sozialistischen palästinensischen Staates. Muslime wiederum identifizieren sich mit den Palästinensern oft aufgrund ihrer eigenen Opferrolle und bezeichnen sich manchmal sogar als die "neuen Juden Europas".

Das klingt weitaus komplexer, als viele Muslime-raus- Rufe, die jetzt zu vernehmen sind.
Ja, das ist es. Vor allem muss auch zwischen den unterschiedlichen muslimischen Communities unterschieden werden, kommt wer aus Gaza, Syrien, Afghanistan, der Türkei oder Bosnien, handelt es sich um Geflüchtete oder um Menschen, die hier geboren und sozialisiert wurden? In Österreich und auch in Deutschland haben sich Muslime mit türkischen Wurzeln beispielsweise erst 2014 für Palästina mobilisieren lassen. Auf Demonstrationen ist plötzlich ein Meer von türkischen Fahnen aufgetaucht, türkischer Nationalismus mischte sich mit religiösen Versatzstücken und traditionellem Antisemitismus. Es ist offensichtlich, dass Erdoğan dabei eine zentrale Rolle zugekommen ist und er auch derzeit wieder massiv zündelt. In der bosnischen Community, wobei es sich häufig schon um die dritte Generation, die hier geboren und sozialisiert wurde, handelt, zeigen sich beim gegenwärtigen Krieg verstärkt Anzeichen für eine Parteinahme für die Palästinenser.

Wie erklären Sie sich das?
Es ist interessant, dass Vergleiche zwischen Srebrenica und dem gegenwärtigen Gazakrieg angestellt werden, und somit ein Bezug zur eigenen Leidensgeschichte hergestellt wird. Auf einer Demonstration in Salzburg war beispielsweise auf einem Plakat zu lesen: "After Srebrenica, you said Never Again. Shame on you, world!" Schon länger werden auch Vergleiche zwischen dem Holocaust und dem Genozid in Srebrenica angestellt, wobei beklagt wird, dass Srebrenica im Vergleich zum Holocaust weniger Aufmerksamkeit zukommen würde. Muslimisches Leben wäre somit nicht gleich viel wert wie jüdisches. Gefährlich wird der Vergleich dann, wenn, wie es auch passiert, die Macht und der internationale Einfluss "der Juden" dafür verantwortlich gemacht werden. Darin spiegelt sich eine problematisch Opferkonkurrenz.

Antisemitismus unter Muslimen wird von gewissen politischen Kräften in Österreich stark dämonisiert. Was wäre für Ihr Gefühl die richtige Einordnung, wie ernst muss man das Problem nehmen?
Es ist sehr ernst zu nehmen. Man muss sich aber um differenzierte Analysen bemühen und dabei die Heterogenität der muslimischen Communities beachten. Es stellen sich nach wie vor sehr viele Frage, sei es die Rolle bzw. Instrumentalisierung von Religion, Bildung, soziale Ausgrenzung. Leider gibt es immer noch viel zu wenig fundierte wissenschaftliche Arbeiten dazu. Antisemitismus bzw. ein negatives Israelbild als zentrales Merkmal für eine gescheiterte Integration herauszugreifen, finde ich problematisch und wenig produktiv.

Kann man Antisemitismus mit Bildung beikommen?
Ich denke schon. Aber nicht alle gebildeten Menschen sind automatisch immun gegen Antisemitismus. Der Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts ist von den Universitäten ausgegangen. Die nationalsozialistischen Bücherverbrennungen wurden von der deutschen Studentenschaft initiiert. In Österreich zählten die deutschnationalen Burschenschafter nach 1945 zu den zentralen Trägern des Antisemitismus. In Großbritannien und in den USA wiederum zählen derzeit gut ausgebildete und erfolgreiche Muslime zu wesentlichen Trägern eines israelbezogenen Antisemitismus. Dennoch, Bildung ist ein wichtiger Schritt hin zur Aufklärung.

Die Frage ist aber: Wie klären wir auf?
Da der israelbezogene Antisemitismus ein zentrales Problem des gegenwärtigen Antisemitismus bildet, darf die Antisemitismus-Aufklärung insbesondere auch in der Lehrerausbildung nicht mit dem Holocaust aufhören. Das heißt, wir müssen unbedingt die Geschichte Israels, die Geschichte der Palästinenser und die Geschichte des Nahostkonflikts miteinbeziehen, auch wenn dies aufgrund der Komplexität des Themas nicht einfach ist. Nach dem Massaker der Hamas hat sich ja gezeigt, dass vielen eine Orientierungshilfe fehlt, um angemessen reagieren zu können. Gleichzeitig muss auch der Schulunterricht unserer migrantischen Gesellschaft gerecht werden und die unterschiedlichen Herkunftsgeschichten und Erinnerungskulturen sowie Rassismus und Islamfeindlichkeit einbeziehen.

Antisemitismus hält sich sehr hartnäckig. Müssen wir einfach damit leben?
Nein, man muss nicht damit leben, man kann ihn reduzieren. Und es ist auch wichtig, dass wir bestehende Gesetze dagegen anwenden können.

Aber es gibt kein einfaches Rezept, wie man Antisemitismus aus der Welt bekommt?
Das Problem ist die Anpassungsfähigkeit, über die wir vorher gesprochen haben. Das hat sich während der Corona- Pandemie beispielsweise gezeigt, als sich Menschen plötzlich Judensterne angesteckt haben und damit zum Ausdruck bringen wollten, dass sie sich als Ungeimpfte in einer ähnlichen Lage befinden wie die verfolgten Juden im Nationalsozialismus. Damit wurde der Holocaust nicht geleugnet, aber verzerrt. Der Antisemitismus geht uns immer ein bisschen voraus, passt sich an und wir können erst dann wieder dagegen ankämpfen.

Das entbindet uns aber nicht von der Aufgabe, das zu tun.
Nein, überhaupt nicht. Das ist ganz, ganz wichtig.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 47/2023 erschienen.