Franz Schellhorn
©Clemens Fabry / Die Presse / picturedesk.comÖsterreich lebt über seine Verhältnisse: höchste Ausgaben, schwaches Wachstum, steigendes Defizit. Der Direktor der wirtschaftsliberalen Denkfabrik Franz Schellhorn über Illusionen, politische Mutlosigkeit - und warum er trotzdem glaubt, dass wir die Kurve noch kriegen.
Ist es nicht das Problem der Politik, dass alle wissen, wie es geht? Sie zum Beispiel?
Eigentlich wäre das kein Problem für die Politik – im Gegenteil. Aber sie glaubt, es besser zu wissen – und das scheint nicht vom ganz großen Erfolg gekrönt zu sein. Sonst hätten wir nicht mit den höchsten Staatsausgaben in der Geschichte das niedrigste Wirtschaftswachstum und mit den zweithöchsten Steuereinnahmen das vierthöchste Defizit in Europa. Wir hatten Reformkanzler in Österreich. Die Schüssel-Regierung hat gerade im Pensionssystem überraschende Weichenstellungen vorgenommen, von denen wir bis heute profitieren. Sonst läge das Defizit nicht bei 32, sondern deutlich über 40 Milliarden Euro. Reformer gibt es derzeit nur im Ausland, etwa die dänischen Sozialdemokraten.
Sie spielen auf die Anhebung des Pensionsalters auf 70 Jahre an …
Ja, aber nicht nur. In Skandinavien wird das Sozialsystem laufend angepasst: Wer arbeitsfähig ist, muss sich deutlich schneller um einen Job bemühen. Unterstützung gibt es nur für jene, die nicht mehr können. All das geht an Österreich relativ spurlos vorüber.
In welcher Rolle sehen Sie sich? Zündler, Mahner, einsamer Rufer?
Wir sind ein wohlwollender, kostenloser Ratgeber. Wir zeigen, wie andere Länder ähnlich gelagerte Probleme gelöst haben. Wir sind konstruktiv optimistisch. Die Regierung zeigt sich auch optimistisch, allerdings zweckoptimistisch. Sie setzt nicht auf Reformen, sondern hofft, dass sie nur geduldig auf die Rückkehr des Wachstums warten muss.
Der Finanzminister sagt dieser Tage wieder, Österreich ist eines der reichsten Länder der Welt und einer der besten Wirtschaftsstandorte. Also alles gut?
Er weiß, dass das nicht der Realität entspricht. Wir sind ein produktives, wohlhabendes Land, aber der Abwärtstrend ist unübersehbar. Die Wirtschaftsleistung pro Kopfliegt inflationsbereinigt unter jener von 2019. Wir verlieren seit sechs Jahren Wohlstand – vor allem, weil wir zu wenig arbeiten. Das Vertrauen in den Standort ist am Nullpunkt. Die Stimmung war in der Wirtschaft noch nie so schlecht in den letzten 30 Jahren. Das hat Gründe.
Ist die Lage schwierig oder desaströs?
Die Wirtschaftslage ist nicht desaströs, aber mehr als schwierig. Für viele entmutigend. Man glaubt nicht mehr an Veränderung. Es müssten alle Alarmglocken schrillen, vor allem bei jenen, die für einen ausgebauten Sozial- und Wohlfahrtsstaat sind. Die Financial Times hat einen großen Artikel über Deutschland gebracht, mit dem Fazit, dass sich Deutschland diesen Sozialstaat nicht mehr leisten kann. Das gilt erst recht für Österreich.
Die Deutschen sagen, die Situation ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Und in Österreich sagt man, die Situation ist hoffnungslos, aber nicht ernst
„Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar“, sagt der deutsche Kanzler …
Die Deutschen sagen, die Situation ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Und in Österreich sagt man, die Situation ist hoffnungslos, aber nicht ernst. Die Bevölkerung ist der heimischen Politik weit voraus, sie weiß, dass hier vieles ins Rutschen gekommen ist. Das zeigen die stark steigenden Sparguthaben. Die Menschen sehen, dass in den Betrieben vieles nicht rund läuft, dass Leute zur Kündigung angemeldet werden. Die Politik müsste mit dem Lösen von großen Problemen für Zuversicht sorgen. Das Leugnen der Probleme macht Angst.
Welche Aufgabe haben die Unternehmen – Stichwort ältere Beschäftigte?
Die Aufgabe der Unternehmen ist in erster Linie, dass sie ihre Unternehmen am Laufen halten. Dass viele Probleme haben, ältere Beschäftigte zu halten, liegt auch an unserem Entlohnungsschema. In Ländern mit hoher Beschäftigungsquote Älterer steigen die Arbeitskosten ab 55 nicht mehr an, weil ja auch die Produktivität sinkt. Wir haben die steilste Lohnkurve zum Schluss. Viele kleinere Betriebe könnten sich ein Pensionsantrittsalter wie in Dänemark* gar nicht leisten. Die Wirtschaft weist seit Jahren auf diese Probleme hin. Aber die Sozialpartner stellen sich taub.
Pensionsantrittsalter in Dänemark
Dänemark hat im Mai 2025 beschlossen, das Renteneintrittsalter schrittweise auf 70 Jahre anzuheben – ein Rekordwert in Europa. Ab dem Jahr 2040 gilt diese Grenze für alle, die nach dem 31. Dezember 1970 geboren wurden. Bis dahin steigt das Rentenalter etappenweise: auf 68 Jahre im Jahr 2030 und auf 69 Jahre ab 2035.
Stichwort Gewerkschaft. Hier ist die Argumentation, nicht allen Branchen geht es schlecht. Pflegekräfte etwa in der privaten Sozialwirtschaft haben jedenfalls keine Abschlüsse unter der Inflation verdient.
Wenn die Sozialberufe die Kunden haben, die das bezahlen, dann werden sie das durchsetzen können. Die exportorientierte Industrie kann das nicht mehr. Im Schweden sind die exportorientierten Betriebe Benchmark. In Österreich muss man sich von der Idee verabschieden, die Löhne laufend an die Inflation anzupassen. Das machen nur Österreich und Belgien. Es ist auch nicht die Aufgabe der Unternehmen, die Kaufkraft zu sichern. Das ist das Mandat der EZB. Wir halten das für einen selbstverständlichen Automatismus.
Die Lohn- und Gehaltszuwächse der letzten Jahre haben dafür gesorgt, dass wir immer mehr Aufträge und Kunden verlieren. Wir tun immer so, als wären wir eine geschlossene Volkswirtschaft ohne Konkurrenz. Die haben wir aber. Und da scheinen wir nicht mehr gut aufgestellt zu sein. Sonst hätten wir Wachstum und nicht drei Jahre Rezession.
Warum soll jemand, der seit dem 15. Lebensjahr arbeitet, im selben Alter in Pension gehen wie jemand, der lange studiert hat?
Wenn man sagen würde, 45 Beitragsjahre reichen, dann wäre ich dabei. Natürlich ist es eine berechtigte Frage, warum jemand, der bis 32 studiert und dann in den Staatsdienst geht, mit 60 in Pension gehen soll. Während vom Dachdecker verlangt wird, länger durchzuhalten. Warum ausgerechnet im öffentlichen Dienst so viele Schwerarbeiter sein sollen, versteht niemand. Genauso wenig, dass der Staat flächendeckend frühpensioniert und sich gleichzeitig als Jobmotor versteht, weil jährlich der Beschäftigtenstand steigt.
Haben wir einen komischen Blick auf Wirtschaft – gierige Vermieter, böse Chefs?
Das lernt man schon in der Schule: Der Staat ist immer gut, die Wirtschaft eine einzige Ausbeutungsmaschinerie. Im Tatort sind 30 Prozent der Mörder Unternehmer oder Manager. Das ist ein kulturelles Problem.
Man muss für die da sein, die nicht können, aber nicht für die, die nicht wollen
Arbeit wird oft als Strafe gesehen. Wie löst man das auf?
Indem man den Menschen klar die Signale gibt, dass sie mehr tun müssen, wenn sie den Wohlstand halten wollen. Wer das nicht will, kann nicht verlangen, dass andere für einen zur Arbeit gehen. Man muss für die da sein, die nicht können, aber nicht für die, die nicht wollen.
Die Lifestyle-Teilzeit-Diskussion war folglich in Ihren Augen richtig?
Ja, absolut richtig. Wer ohne Betreuungspflichten freiwillig reduziert, kann nicht dieselben Leistungen vom Sozialstaat verlangen wie jemand, der Vollzeit arbeitet. Weniger zu arbeiten, ist das gute Recht jeder Person. Aber es ist nicht die Pflicht der Allgemeinheit, denselben Leistungskatalog des Sozialsystems bereitzustellen wie jemandem, der 40 Stunden arbeitet. Der Staat darf keine Anreize setzen, geschweige denn Geldleistungen bieten, um die Differenz zur Vollzeit auszugleichen.
Ein Beispiel?
Entweder gibt es einen Selbstbehalt bei ärztlichen Leistungen, der für alle gleich ist, und den Menschen mit 25 Stunden Lifestyle-Teilzeit stärker spüren als jene, die Vollzeit arbeiten. Oder man führt eine Stundenbesteuerung ein, die dafür sorgt, dass die 40. Stunde schwächer besteuert wird als die 20. Die schwierige Frage ist, zu erkennen, wer Betreuungspflichten hat und wer nicht. Es ist wichtig, dass wir die Teilzeit-Debatte führen. Aber jetzt diskutieren wir lieber darüber, ob die Verpackung von Lebensmitteln kleiner geworden ist. Die Wirtschaft schrumpft, das Pensionssystem fliegt uns um die Ohren – aber wir führen mit größter Energie Debatten auf Nebenschauplätzen.
Warum tun wir uns mit „fordern und fördern“ so schwer?
Weil man in Österreich den Gedanken etabliert hat, dass jeder ein Anrecht hat, unterstützt zu werden. Die Mindestsicherung war konzipiert als Sprungbrett in den Arbeitsmarkt. Geworden ist sie ein Sprungbrett aus dem Arbeitsmarkt raus. Der Sozialstaat muss zurückgebaut werden. Österreich gibt 31,6 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Soziales aus, das ist Weltspitze. Die Schweden haben 26 Prozent. Den Vorwurf lasse ich mir gerne gefallen, dass ich das österreichische Sozialsystem auf skandinavisches Niveau reduziere. Wir sehen es als Auszeichnung, dass die Sozialausgaben immer weiter steigen. Ein funktionierender Wohlfahrtsstaat zeichnet sich aber durch sinkende Sozialausgaben aus, weil er beweist, dass man Menschen aus schwierigen in bessere Verhältnisse bringt.
Reformen brauchen Mut. Wir haben aber keine mutigen Politiker.
Das stimmt, aber der Druck wird steigen. Die Finanzmärkte sind geduldig, aber nicht blind. Wir werden höhere Zinsen für unsere Schulden zahlen müssen. Ich glaube, es wird darauf gewartet, dass wer anderer sagt, was zu tun ist – damit man wieder einen Sündenbock hat: Wir wollen nicht, aber wir müssen. Dabei würden es die Menschen verstehen, wenn man es ihnen erklärt.
Trauen Sie das der FPÖ zu?
Welcher FPÖ? Jene, die im Sommer ein interessantes Wirtschaftsprogramm vorgelegt hat? Oder jener FPÖ, die fast täglich neue Eingriffe in die Wirtschaft und höhere Sozialleistungen fordert?
Pensionsexpertin Christine Mayrhuber sagt im News-Interview, die Pensionen sind sicher …
Ich finde es erschreckend, wie die Vorsitzende der Alterssicherungskommission das Problem kleinredet, das jeder Österreicher versteht. Wenn 1,3 Erwerbstätige auf einen Pensionisten kommen, kann sich das nicht ausgehen.
Pflege ist ein weiterer Kostenblock im System. Sie fordern eine Pflegeversicherung wie in Deutschland.
Wir hätten schon vor 20 Jahren mit einer Pflegeversicherung anfangen müssen. Es muss die Aufgabe eines jeden Einzelnen sein, Mittel für seine Pflege bereitzuhalten – nur wer das nicht kann, soll auf Hilfe der Solidargemeinschaft hoffen. Ich bin übrigens nicht der Meinung, dass Pflege allein Aufgabe der Allgemeinheit ist. Wenn jemand pflegebedürftig wird und im Eigenheim wohnt, sollen die Familienmitglieder, die das Erbe kriegen, auch etwas dafür tun. Wir hatten in Österreich den Pflegeregress. Das wird in einigen Jahren anders diskutiert werden, weil der Bedarf massiv steigt.
Wie lange können wir uns noch durchschummeln?
Die Regierung wird ihren Kurs fortsetzen, weil sie Angst hat, dass die Koalition auseinanderbricht. Alle drei Parteien sehen die Umfragen. Alle drei wissen, dass sie nach Neuwahlen nicht mehr in dieser Position sein werden. Aber kein Wähler braucht eine Regierung, die ihnen erklärt, dass die koalitionären Mehrheiten eben nicht reichen, um Probleme zu lösen. Wir brauchen eine Regierung, die die für jedermann sichtbaren Probleme löst.
Was ist ihr Worst-Case-Szenario?
Dass Österreich weiter an Wohlstand verliert und zum neuen Griechenland wird. Best Case: Die Regierung erkennt, dass es besser ist, die Wahlen mit Reformen zu verlieren als ohne. Damit könnten die Regierungsparteien die nächsten Wahlen sogar noch gewinnen. Man sieht an anderen Ländern, dass man mit einfachen Korrekturen große Schritte in kürzester Zeit machen kann. Wer, wenn nicht Österreich, sollte das hinkriegen? Wer, wenn nicht ein Land mit diesen Voraussetzungen und nach wie vor hohen Exportanteilen? Die Griechen haben es geschafft, die Spanier auch. Die können nichts besser als wir.

Steckbrief
Franz Schellhorn
Franz Schellhorn ist Direktor der wirtschaftsliberalen Denkfabrik Agenda Austria. Nach einer Banklehre bei der Creditanstalt studierte er Handelswissenschaften an der WU Wien, wo er 1997 abschloss und später promovierte. Seine journalistische Laufbahn begann er 1997 bei der Tageszeitung Die Presse, deren Wirtschaftsressort er von 2004 bis 2013 leitete. 2013 übernahm er die Leitung von Agenda Austria, der ersten unabhängigen wirtschaftspolitischen Denkfabrik Österreichs.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 41/2025 erschienen.