Gegen den 1986 verstorbenen Gründer der SOS-Kinderdörfer, Hermann Gmeiner, liegen laut der Organisation glaubhafte Missbrauchsvorwürfe vor. Acht Betroffene wurden entschädigt, die Übergriffe sollen zwischen den 1950er- und 1980er-Jahren stattgefunden haben. SOS-Kinderdorf kündigt einen umfassenden Neustart an.
von
Gegen den 1986 verstorbenen Gründer der SOS-Kinderdörfer, Hermann Gmeiner, gibt es schwere Missbrauchsvorwürfe. Wie die Organisation der APA sagte, steht der Gründer im Verdacht, an zumindest acht minderjährigen Burschen "sexuelle Gewalt und Misshandlungen" ausgeübt zu haben. SOS-Kinderdorf will sich nun vollkommen neu aufstellen und die Vergangenheit rigoros aufarbeiten.
Die Missbrauchs-Meldungen stammen aus Opferschutzverfahren der Organisation in den Jahren 2013 bis 2023. Die Übergriffe selbst sollen in den 1950er- bis 1980er-Jahren an vier Standorten in Österreich stattgefunden haben. "Die Betroffenen haben die Geschehnisse im Rahmen des Opferschutzverfahrens plausibel dargelegt; die Entscheidungen zu Entschädigung erfolgen auf Basis einer Plausibilitätsprüfung, es handelt sich um keine forensische Untersuchung", sagte SOS-Kinderdorf-Geschäftsführerin Annemarie Schlack der APA. Weitere Opfer des als großer Kinderfreund geltenden Gmeiners könne man nicht ausschließen. Übergriffe auf Mädchen sind nicht bekannt.
Alle acht Betroffene wurden mit bis zu 25.000 Euro entschädigt, zudem wurden Therapieeinheiten bezahlt. Gmeiner galt zeit seines Lebens als juristisch unbescholten. Das Opferschutzverfahren ist auch kein juristisches Instrument, sondern "ein Anerkennungs- und Unterstützungsinstrument".
Staatsanwaltschaft Innsbruck ermittelt nicht zu Gmeiner
Auf die Frage, ob im Zusammenhang mit dem Namen Gmeiner strafrechtliche Ermittlungen gegen etwaige Mitwisser bzw. Mittäter anhängig seien, wurde seitens der Staatsanwaltschaft Innsbruck auf ein bereits anhängiges Ermittlungsverfahren verwiesen. Dieses betreffe aber nicht Gmeiner, sondern mutmaßliche Kindesmisshandlungen, die sich primär auf einen ehemaligen Leiter am Standort Imst beziehen, sagte eine Sprecherin.
In diesem Kontext werde "umfassend" ermittelt, "auch gegen unbekannte Täter", teilte die Sprecherin der Tiroler Anklagebehörde auf APA-Anfrage mit. Das Verfahren sei in die Gänge gekommen, weil man auf Basis eines Berichts einer unabhängigen Untersuchungskommission Kenntnis von strafrechtlich relevanten Vorwürfen erlangt habe.
"Pionier der Menschlichkeit"
Der am 23. Juni 1919 in Vorarlberg geborene Mann galt bisher als "Pionier der Menschlichkeit". 1949 gründete Gmeiner mit knapp 30 Jahren den Verein Societas Socialis (SOS), der später in SOS-Kinderdorf umbenannt wurde. Heute ist SOS-Kinderdorf in rund 135 Ländern vertreten.
Der Gründer wurde mit öffentlichen Ehren geradezu überschüttet. Der SOS-Kinderdorf-Webseite zufolge erhielt er 146 Auszeichnungen und pflegte Freundschaften mit internationalen Größen wie dem Dalai Lama und Mutter Teresa. In Österreich wurden zudem zahlreiche Schulen, Straßen und Parks (etwa einer in der Wiener Inneren Stadt) nach Gmeiner benannt. In dem Bezirk steht auch ein Hermann-Gmeiner-Denkmal. 1994 widmete ihm die Österreichische Post eine Sonderbriefmarke.
Vollkommene Neuaufstellung der Organisation
Nach den Missbrauchs- und Gewaltvorwürfen stellt sich die Organisation völlig neu auf. Es soll "kein kleines Update, sondern ein umfassender Neustart der Organisation erfolgen", sagte Geschäftsführerin Schlack im APA-Interview. "Schon 2026 wird SOS-Kinderdorf anders aussehen als heute", unterstrich sie.
Zudem prüft eine Reformkommission unter dem Vorsitz von Irmgard Griss die Vorfälle und Strukturen von SOS-Kinderdorf und unterstützt die Organisation "in der vollständigen Aufarbeitung – egal, wie lange eine Gewalterfahrung zurückliegt und unabhängig davon, ob es sich um Täter und Täterinnen in führenden Positionen gehandelt hat", hieß es. Am Ende des Prozesses wird ein Abschlussbericht veröffentlicht. Seit heute, Donnerstag, ist die Webseite der Reformkommission reformkommission.at mit einer online Kontaktmöglichkeit eingerichtet.
Kein aktueller neuer Verdachtsfall
Derzeit liegt bei SOS-Kinderdorf kein neuer Missbrauchs-Verdachtsfall vor. Es gibt aber aktuell 67 Meldungen, die über die diversen Andockstellen an die Organisation herangetragen wurden. Da das Spektrum dieser Eingänge sehr weit ist, muss sich daraus nicht zwingend ein neuer Fall ergeben, hieß es. Die Geschäftsführerin rief aber etwaige betroffene Personen dazu auf, sich bei SOS-Kinderdorf zu melden – auch im Fall Gmeiner.
Ein Bericht der Wochenzeitung Falter über Vorwürfe gegen das SOS-Kinderdorf am Standort in Moosburg in Kärnten hatte Mitte September die Missbrauchscausa ausgelöst. Kurze Zeit später kamen auch Vorwürfe gegen weitere Kinderdörfer ans Licht.
Erste Reaktionen aus Politik
Am Nachmittag gab es auch eine erste Reaktion aus der Politik: "Was hier ans Licht gekommen ist, macht zutiefst betroffen", sagte Barbara Neßler, Familiensprecherin der Grünen. Es sei "gut und unausweichlich, dass sich SOS-Kinderdorf heute neu aufstellt und sich aktiv mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzt". "Dennoch darf die Aufarbeitung nicht bei Lippenbekenntnissen enden. Auch die Regierung muss hier in die Pflicht genommen werden. Aus diesem Grund haben die Grünen bereits am 25. September eine Anfrage an das Justizministerium gestellt", so Neßler. Die Sprecherin nahm an, dass sich noch weitere Betroffene melden, die bisher "aus Angst geschwiegen haben".