Thriller-Spezialist Harlan Coben hat als erster Autor alle drei wichtigen US-Fachpreise gewonnen. Nun hat er Reese Witherspoon zum Debüt als Autorin mit „Ohne ein letztes Wort“ begleitet. Dabei ist Coben das Gegenteil von abgebrüht. Er spricht vom Schreiben wie ein Kind über Weihnachten. Das Geheimnis eines gelungenen Plot-Twists führt immer übers Herz, verrät er
Es kommt vor, dass er beim Schreiben weint. Gar nicht so selten sei das, verriet Harlan Coben dem britischen Guardian. Die Verwunderung über dieses Geständnis des Autors von über 40 Thrillern weicht beim News-Gespräch mit dem 63-Jährigen: Für den Mann, der alle US-Krimipreise gewann („Edgar Allan Poe Award“, „Shamus Award“, „Anthony Award“) und dessen Bestseller regelmäßig in 46 Sprachen übersetzt werden, müssen Erzählungen nicht nur Spannung bieten, sondern tief in die Seele der Protagonisten vordringen. Plot-Twists zu schreiben, sei nichts Besonderes, sagt er. Damit sie wirken, müssen sie glaubhaft in die verwinkelten Herzen seiner komplexen Charaktere führen, beschreibt er sein Erfolgsgeheimnis. Daher die feuchten Augen.
Um Cobens Thriller reißen sich Streamingdienste wie Netflix und Amazon Prime, die knapp die Hälfte seines Werks in packenden Serien umgesetzt haben. Für Amazon Prime schrieb er kürzlich die Serie „Lazarus“. Immer öfter stellte der vierfache Vater, der mit seiner Frau, einer Kinderärztin, in Ridgewood, New Jersey, USA, lebt, zuletzt weibliche Figuren ins Zentrum seiner Romane. Das mag der Grund sein, vermutet er, warum Hollywoodstar Reese Witherspoon ihn mit ihrer Idee zum Roman „Ohne ein letztes Wort“ aufsuchte.
Der Schauspielerin brannte der Thriller aus dem Milieu waghalsiger Militärärztinnen und -ärzte unter den Nägeln. Sie wollte ihn mit Harlan Coben schreiben.
Witherspoons Eltern als Inspiration
In Hollywood feierte die 49-Jährige ihren Durchbruch 2001 mit „Natürlich blond“ und gewann für die Rolle der June Carter Cash in „Walk The Line“ 2005 den Oscar als Beste Hauptdarstellerin. Mit ihrem 2016 gegründeten Medienunternehmen Hello Sunshine und ihrem Buchclub kämpft sie auf ihre Art für Frauenrechte: Sie widmet sich ausschließlich Geschichten über die verschiedensten Frauen. Die Serien „The Morning Show“, „Little Fires Everywhere“ oder der Film „Der Gesang der Flusskrebse“ sind preisgekrönte Beispiele für ihre weiblichen Narrative.
Die Idee für ihren ersten Roman ist vom Aufwachsen als Tochter eines Militärarztes und einer Krankenschwester inspiriert, die am Esstisch ausufernd medizinische Gespräche führten. In „Ohne ein letztes Wort“ tauchen Witherspoon und Coben in die Welt der brillanten Armychirurgin Maggie McCabe ein, die nach tragischen Verlusten und ohne ärztliche Zulassung am Tiefpunkt ihres Lebens steht. Als sie das mysteriöse Angebot eines Oligarchen annimmt, beginnt ein rasanter Thriller, der die ungewöhnliche Heldin in moralische Konflikte stürzt und die eigene Vergangenheit in ein neues Licht taucht. Im Gespräch lässt Coben tief in seinen Thriller-Baukasten blicken, den er erstmals als Ko-Autor zur Anwendung gebracht hat.
Wie sehr hat Reese Witherspoons feministische Priorität den Charakter Ihrer Heldin Maggie beeinflusst?
Wir waren uns von Anfang an einig, dass Maggie weder nett noch sympathisch sein muss. Sie soll echt sein. Wenn sie echt ist, holt sie die Leser ab. Sie hat Fehler, sie irrt sich, sie kämpft und gerade das macht sie greifbar, nahbar, bewundernswert. Wir wollten eine Art weibliche Jason Bourne- oder James Bond-Figur schaffen, aber ohne die unrealistischen Action-Klischees – keine Rückwärtssaltos, keine übermenschlichen Kämpfe. Uns ging es nicht darum, eine weibliche Figur zu schaffen, die handelt wie ein Mann. Reese und ich wollten, dass sich Maggie eindeutig weiblich anfühlt.
Wie entscheiden Sie normalerweise, ob eine Geschichte eine Heldin oder einen Helden bekommt?
Ich beginne immer mit einer Idee und frage mich dann: Wer kann diese Geschichte am besten erzählen? In diesem Fall war es anders: Reese kam mit ihrer Idee von Maggie McCabe, zu mir: eine ehemalige Kriegs-Chirurgin, die plötzlich Schönheitsoperationen macht. Reese hat von einer Freundin von Ärztinnen und Ärzten gehört, die im Ausland unter der Hand solche Operationen vornehmen. Die Ausgangsfrage war: Was passiert, wenn so ein Eingriff schiefgeht? Damit begann alles. Zum ersten Mal kam die Grundidee nicht von mir. Als Reese mich anrief, war ich ehrlich gesagt skeptisch. Gemeinsames Schreiben liegt mir nicht. Ich arbeite gern im Team für TV-Adaptionen, aber beim Schreiben sitze ich lieber allein am Schreibtisch. Diese Story hat mich aber gepackt. Ich griff zu meinem gelben Notizblock und sagte: „Okay, was wäre, wenn …?“. Und Reese konterte: „Und was, wenn dann …?“ Wir sprachen stundenlang, entwarfen Szenen, Figuren, Wendungen. Nach kurzer Zeit war klar: Aus dieser Zusammenarbeit entsteht etwas, das mehr ist als die Summe seiner Teile.
Als Reese mich anrief, war ich skeptisch. Gemeinsam schreiben liegt mir nicht. Ich sitze lieber allein am Schreibtisch
Eine zentrale Rolle spielt eine App, die aus den digitalen Spuren eines Verstorbenen einen Avatar erschafft, mit dem man kommunizieren kann. Eine unglaubliche Idee. Sind solche Science-Fiction-Elemente für Sie eine Spielerei oder ein bewusstes gesellschaftspolitisches Statement?
Vor allem wollte ich, dass das Buch ein Thriller ist, bei dem man bis spät in die Nacht nicht aufhören kann zu lesen. Ich liebe es, wenn jemand sagt: Ich konnte das Buch einfach nicht weglegen. Es soll spannend sein, überraschend enden, all das, was einen Thriller ausmacht. Aber natürlich verhandelt jede Geschichte auch andere Themen. Diese Ebenen dürfen dem Thriller nicht im Weg stehen, sie müssen ihn verstärken. Wir wollten über künstliche Intelligenz sprechen, über Trauer und wie Menschen Verlust verarbeiten. Über Longevity-Kliniken, neueste medizinische Technologien und über das Privileg der Superreichen, wenn es um Organtransplantationen geht. Das ist viel, aber es dient der Geschichte. Viele Autorinnen und Autoren machen den Fehler, Fragen beantworten zu wollen. Das wollten wir bewusst nicht. Was ist ethisch vertretbar? Ist es Fortschritt oder Anmaßung? Würden Sie selbst so einen Avatar als Tröster verwenden? Diese Antworten überlassen wir den Leserinnen und Lesern. Unsere Aufgabe ist die fesselnde Geschichte. Im besten Fall regt sie zum Weiterdenken an.
Technologie wirkt in Ihren jüngeren Werken wie ein moralischer Spiegel. In „Ohne ein letztes Wort“ haben Sie ein technologisch adaptiertes künstliches Herz erdacht. Wie blicken Sie persönlich auf diese ethischen Fragen unserer Gesellschaft?
Ich schreibe Geschichten, die in der Gegenwart spielen. Ich weiß noch, als ich vor 15 Jahren zum ersten Mal eine Figur geschrieben habe, die ihre Verabredung vor einem Date googelt. Diese Idee galt damals als gewagt. Heute googelt jeder sein Date. Ob man es mag oder nicht: Künstliche Intelligenz ist Teil unseres Lebens. Ebenso neue medizinischen Technologien. All das existiert. Ich sehe meine Aufgabe nicht darin, moralische Urteile zu fällen. Und ich misstraue einfachen Schwarz-Weiß-Erklärungen. Einfache Antworten erzeugen keine Spannung. Mich interessiert, wie Technologie unsere Welt formt. In meinen Geschichten bewege ich mich über das technisch Machbare hinaus, weil es einfach Spaß macht, das gerade noch nicht Mögliche zu denken. Das fühlt sich frisch und neu an.


Schauspielerin und Produzentin Reese Witherspoon debütiert mit dem Meister der Plot-Twists Harlan Coben als Autorin
© Pip CowleyHaben sich die Zutaten für einen guten Thriller über die Jahrzehnte eigentlich verändert?
Wir leben, ehrlich gesagt, im goldenen Zeitalter des Kriminalromans. Im Kern erzählen wir immer noch Geschichten, das ist eine uralte Tradition. Wenn ich Sie bitten würde, Ihre fünf Lieblingsbücher zu nennen, die älter als hundert Jahre sind, dann hätten mindestens vier etwas mit Verbrechen zu tun: Dostojewski, Wilde, Dumas – sie alle erzählen von Verbrechen, Schuld, Moral. Heutige Thrillerautorinnen und -autoren führen diese Tradition fort. Ich schreibe nicht, um meine Meinung zu Künstlicher Intelligenz oder Herztransplantationen kundzutun. Ich tue es, um eine Geschichte zu erzählen, die Sie fesselt. Daran hat sich nichts geändert. Das Entscheidende jeder Geschichte ist immer das Herz: Wenn Ihnen Maggie egal ist, in der Szene, in der sie aufs Dach hinausgeht, wenn Sie nicht wissen wollen, was mit Mark passiert ist, dann ist der Rest nur Kulisse. Spannung allein reicht nicht. Ein guter Thriller muss nicht nur den Puls, sondern auch das Herz in Bewegung bringen. In den Beziehungen, die sich während der Geschichte entspinnen, liegt für mich der wahre Kern einer guten Geschichte.
Haben Sie sich je gefragt, welches Bedürfnis ein guter Thriller im Leser erfüllt? Warum lieben wir es, uns zu gruseln?
Menschen wollen unterhalten werden. Das ist der Kern. Das war schon so, als Menschen zum ersten Mal Geschichten erzählten, in der Höhle am Feuer. Wenn der Erzähler langweilig war, hat man ihn vermutlich mit Steinen beworfen. Man muss die Menschen fesseln. Wenn ich Ihnen meinen Standpunkt zu Künstlicher Intelligenz in einem Essay erklären würde, würden Sie es weglegen. Aber wenn Sie sagen: Ich habe das Buch in zwei Nächten gelesen, dann waren Sie von einer Geschichte gefesselt. Das ist die älteste Kunstform, seit wir an Höhlenwände geschrieben haben.
Unterhaltung kann auch ein Liebesroman liefern. Worin liegt die spezielle Faszination für Thriller?
Fast alle meine Geschichten sind, in gewisser Weise, Liebesgeschichten. Ich trenne das gar nicht streng: Thriller, Romanze, Drama – das sind alles Formen, Gefäße für menschliche Erfahrung. Ich sehe den Thriller nicht als Genre, sondern als Form, wie ein Haiku oder eine Sonate. Innerhalb dieser Form kann man alles erzählen: Liebe, Verlust, Schuld, Erlösung. Der Thriller zwingt mich nur, das auf die spannendste, konzentrierteste Weise zu tun. Und das ist sein großes Geschenk: Er hält uns wach – im Kopf und im Herzen.
Sie gelten als Meister der überraschenden Wendung. Verraten Sie uns das Geheimnis eines gelungenen Plot-Twists?
Ein Twist allein ist noch nichts Besonderes. Ich kann Sie wie ein Zauberkünstler ganz einfach täuschen, indem ich Ihre Aufmerksamkeit auf die eine Hand lenken, während die andere Hand den Trick ausführt. Das funktioniert, macht Spaß, bleibt aber nicht haften. Der Schlüssel zu einer wirklich guten Wendung liegt darin, dass sie das Herz trifft. Sie muss emotional etwas auslösen, eine Resonanz erzeugen. Würde ich Ihnen vorab vom letzten Twist in „Ohne ein letztes Wort“ erzählen, würden Sie sagen: Das ist widerlich, unglaubwürdig, völlig überzogen! Aber wenn Sie die Figur durch das Buch begleitet haben, wenn Sie erlebt haben, was sie erlebt, dann wird die Wendung nachvollziehbar. Etwas, das Sie zuvor moralisch abgelehnt haben, erscheint auf einmal nachvollziehbar. Das ist der Moment, den ich suche: Wenn Sie denken, ich könnte unter bestimmten Umständen genauso handeln. Diese Mischung aus Schock und Empathie, aus Unbegreiflichem und Verstehen, darin liegt für mich die Kraft eines guten Twists.
Ich glaube aber nicht an das Klischee vom „leidenden Künstler“. Niemand muss Schmerz suchen, um Tiefe zu finden. Tragödien gehören ohnehin zu jedem Leben.
Sie haben Ihre Eltern und weitere liebe Menschen innerhalb weniger Jahre verloren und darüber gesagt: „Tragödie ist ein sehr wirkungsvoller Lehrer.“ Braucht es Schmerz, um ein tiefes Verständnis menschlicher Wahrheiten zu erreichen?
Nein, das glaube ich nicht. Man muss nicht selbst alles erlebt haben, um es wahrhaftig darstellen zu können. Es gibt viele Dinge, über die ich schreibe, die ich nicht aus eigener Erfahrung kenne und trotzdem hoffe ich, dass sie berühren. Aber natürlich lenkt das, was man erlebt hat, den Blick. In meiner neuen TV-Serie „Lazarus“ geht es um Trauer, um die Beziehung zwischen Vater und Sohn, gespielt von Sam Claflin und Bill Nighy. Erst im Rückblick fällt mir auf, wie oft ich dieses Thema bearbeitet habe. Der Tod meines Vaters war der erste große Verlust in meinem Leben und wahrscheinlich hat er unbewusst vieles in meinem Leben geprägt. Ich glaube aber nicht an das Klischee vom „leidenden Künstler“. Niemand muss Schmerz suchen, um Tiefe zu finden. Tragödien gehören ohnehin zu jedem Leben. Was einen trifft, formt und verändert den Mensch und fließt dann, ob man will oder nicht, in seine Geschichten ein. Wenn andere Dinge in meinem Leben passiert wären, würde ich über andere Themen schreiben.
Die Entscheidung, sich diesen Themen zu stellen, liegt aber allem zugrunde, richtig?
Vermutlich. Das meiste entsteht natürlich daraus, wer ich bin. Wer du bist, bestimmt darüber, was du schreibst. Darüber habe ich wenig Kontrolle.


Das Buch
„Ohne ein letztes Wort“ von Reese Whiterspoon und Harlan Coben beeindruckt mit hohem Tempo, ausgefeilten Cliffhangern und komplexen Charakteren. Maggie McCabe hebt sich als ungewöhnliche Heldin angenehm von gängigen Genremustern ab. Goldmann Verlag
Bringt das Schreiben eine Art von Ordnung mit sich?
Wahrscheinlich steckt auch ein therapeutischer Aspekt im Schreiben. Ich weiß nicht genau, wie der funktioniert, aber vermutlich ist das so, ja.
Wenn Sie ein neues Buch beginnen: Was genau treibt Sie an den Schreibtisch?
Ich schreibe, um Menschen eine Geschichte zu erzählen, denn das ist meine Art, Verbindung herzustellen. „Ohne ein letztes Wort“ war bis vor Kurzem nur eine Idee. Es wird erst zu einem Buch, wenn jemand es liest. So wie bei Berkeley’s Gedankenexperiment: Wenn ein Baum im Wald fällt und niemand hört es, macht er dann ein Geräusch? Für mich gilt dasselbe: Wenn man ein Buch schreibt und niemand liest es, ist es noch keine Geschichte. Erst durch die Leserinnen und Leser wird sie lebendig. Jetzt, da Sie es gelesen haben, existieren Maggie, Porkchop, Nadia, Oleg und Igor in Ihrem Kopf, und in jedem anderen Kopf sehen sie ein bisschen anders aus. Zwischen uns – zwischen Reese, mir und Ihnen – entsteht dadurch etwas Einzigartiges. Das ist das eigentlich Magische. Dass ich jemand sein darf, der Geschichten erzählt, empfinde ich als großes Privileg und als Verantwortung. Wenn Sie in eine Buchhandlung gehen, liegen dort Tausende Bücher. Wenn Sie ausgerechnet meines auswählen, oder meine Serie im Fernsehen einschalten, dann ist das jedes Mal ein Geschenk. Dieses Gefühl, diese Dankbarkeit, wird für mich nie selbstverständlich.

Steckbrief
Harlan Coben
geboren 1962 in Newark, New Jersey, zählt zu den erfolgreichsten Thrillerautoren der Welt. Seit seinem Debüt Anfang der 1990er-Jahre hat er über 80 Millionen Bücher verkauft; seine Romane erscheinen in 46 Sprachen. International bekannt wurde er mit dem Zyklus über den Sportmanager Myron Bolitar sowie Thrillern wie „Tell No One“ und „The Stranger“, die das fragile Zentrum bürgerlicher Existenzen ausloten: Familie, Loyalität, moralische Grenzlinien. Coben gewann als einziger Autor die drei großen Krimi-Awards Edgar Allen Poe, Shamus und Anthony. Mit Netflix schloss er einen der umfangreichsten Entwicklungsdeals für einen Schriftsteller. In seinen Thrillern verbindet er das Banale mit dem Ungeheuren, nutzt familiäre Bindungen und urbane Vororte als Kulisse für dramatische Abgründe. Coben ist vierfacher Vater und lebt mit seiner Frau, einer Kinderärztin, in Ridgewood, New Jersey
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 45/25 erschienen.







